Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 20 / Diary of a Shodowless Man, Part 20
Mittwoch, 26. Juli
Die Begegnung mit dem Schattenhändler war mir so unangenehm, dass ich es gestern gar nicht fertiggebracht habe, weiter darüber zu schreiben. Noch in der Erinnerung an das Gespräch habe ich das Gefühl, als würde mich jemand mit einem süßen Gift betäuben, das unmerklich meine Glieder lähmt.
Beunruhigend finde ich auch, dass ich mich kaum noch an das Gesicht des Mannes erinnern kann – und das, obwohl ich ihm doch bestimmt eine halbe Stunde lang gegenübergesessen habe. Gut, es war wohl in der Tat ein Allerweltsgesicht, ein typisches Vertretergesicht, das sich ganz gezielt hinter einer Maske des Wohlwollens versteckt, um das Opfer leichter ködern zu können.
Vielleicht hat es sich bei dem Mann aber auch um einen Trickbetrüger gehandelt. Hatten all seine obskuren Werbeworte am Ende nur den Zweck, meine Wohnung auszukundschaften und mich hinterrücks zu bestehlen? In der Wohnung fehlt aber nichts …
Und wenn er mich nur ausspionieren wollte, um einen Einbruch vorzubereiten? Vielleicht war ich doch ein bisschen zu naiv. Wenn ich allein schon an das Rattenfängerlächeln des Mannes denke! An dieses fast schon priesterliche Leuchten in seinen Augen, mit dem er mich in die Welt der künstlichen Schatten eingeweiht hat …
Schattenmodelle
Vielleicht sollte ich hier aber gar nicht von „künstlichen Schatten“ sprechen. Schließlich hat der Schattenhändler selbst diese Bezeichnung ausdrücklich zurückgewiesen. „Die meisten unserer Kunden“, erläuterte er mir, „sind überrascht von den technischen Möglichkeiten, über die wir mittlerweile in diesem Bereich verfügen. Ich würde hier jedoch nicht das Wort ‚künstlich‘ verwenden. ‚Künstlich‘ klingt ein bisschen nach ‚unecht‘, und das lässt sich von unseren Modellen nun beim besten Willen nicht behaupten. Eher sind sie wie eine zweite Haut. Der Vorgang der Schattenadhäsion funktioniert ähnlich wie eine Organtransplantation – der Körper muss das fremde Organ als eigenes annehmen, sonst scheitert das ganze Projekt.“
Jetzt hatte er mich doch neugierig gemacht. „Und … was würde mir das Modell Classic konkret bieten?“ fragte ich nach.
Der Schattenhändler zuckte kaum merklich mit den Augen – wie ein Löwe, der ein verfolgtes Beutetier stolpern sieht. Er rückte ein wenig näher und erklärte aufgeräumt: „Das Modell Classic bietet seinem Besitzer alles, was ihm sein angeborener Schatten auch geboten hat: Dieser Schatten ist das perfekte Double seines Herrn. Er reagiert auf all seine Regungen, ordnet ihn bei Bedarf in das Meer der anderen Schatten ein, setzt ihn zu diesen in Beziehung, wo es nötig ist, eilt manchmal auch voraus, entfernt sich jedoch nie in ungebührlicher Weise von seinem Herrn. Es gibt viele Kunden, denen das vollauf genügt – auch wenn man natürlich sagen muss, dass wir heute schon über ganz andere Möglichkeiten der umbratikalen Interaktion verfügen.“
Er wies auf den Schattenriss in der Mitte der Seite, um den sich die anderen Modelle gruppierten: „Nehmen Sie zum Beispiel – als zugegebenermaßen krassen Vergleichsmaßstab – das Modell de luxe. Dieses Modell schließt all die Leistungen mit ein, die auch die klassische Variante umfasst. Es eröffnet Ihnen darüber hinaus aber auch die Möglichkeit der so genannten proskinetischen Vibration, die Sie für Ihr Gegenüber als Spiegelbild seines eigenen Ideals erscheinen lässt. Das Modell ist deshalb bei der Partnersuche ebenso hilfreich wie beim beruflichen Aufstieg.“
Ich muss zugeben, dass meine anfängliche Abwehr nun mehr und mehr einem lebhaften Interesse wich. Wenn es sich – was natürlich immer noch möglich war – bei dem Mann nicht um einen Scharlatan handelte, bot sich mir durch ihn schließlich die Möglichkeit, meine Schattenlosigkeit nicht nur zu überwinden, sondern fast schon produktiv zu nutzen. Deshalb begann ich nun nach den Details zu fragen: „Sagen Sie, dieses Modell de luxe … das ist wahrscheinlich nicht ganz billig?“
Er spürte, dass er den Fisch nun schon fast an der Angel hatte. So wurde sein Ton nun ein wenig jovialer, wobei seine Stimme jedoch gleichzeitig ihren weihevoll-gedämpften Klang beibehielt. Ein Außenstehender hätte ihn jetzt wohl für einen guten Bekannten von mir gehalten: „Billig! Teuer!“ – Er zog die Begriffe in die Länge, als handelte es sich dabei um etwas Anstößiges. „Was sagt das schon aus, Herr C.? Natürlich ist so etwas ein wenig teurer als, sagen wir, ein x-beliebiger Mittelklassewagen – aber es bietet Ihnen doch auch etwas ganz anderes!“
Er wies auf den Schattenriss rechts unter dem Modell de luxe: „Sehen Sie, ich habe Sie vorhin gefragt, ob Sie nicht schon einmal den Wunsch verspürt hätten, am helllichten Tage unsichtbar zu sein. Nun, unser Modell private bietet Ihnen genau diese Möglichkeit: Niemand wird weiter von Ihnen Notiz nehmen, wenn Sie sich für diese Schattenvariante entscheiden. Wer das Modell entertainer wählt, erreicht genau das Gegenteil: Er steht immer im Mittelpunkt. Jedes Modell ist passgenau auf die jeweiligen Bedürfnisse des Kunden zugeschnitten.“
Er wandte sich von dem Prospekt ab und sah mir wieder in die Augen: „Selbstverständlich sind auch Zwischenstufen denkbar, die wir bei Bedarf als Spezialanfertigung herstellen. Vor allem aber haben wir heute auch die Möglichkeit, einem Klienten mehrere Schatten anzupassen – für jede Gelegenheit das richtige Modell. Wenn Sie das alles bedenken, werden Sie einsehen, dass es sich hier nicht einfach um einen Kaufakt handelt. Es geht vielmehr um eine Investition in Ihre Zukunft – und für die sollte Ihnen kein Preis zu hoch sein!“
Der Eifer des Vertreters hatte mich wieder etwas misstrauischer gemacht: „Sie wollen ernsthaft behaupten, dass man mehrere Schatten gleichzeitig haben kann?“
„Aber mein lieber Herr C., das ist doch heute überhaupt kein Thema mehr! Ich würde sogar sagen, der Trend geht eindeutig zum Zweit-, ja zum Drittschatten.“
Meine Skepsis schien ihn eher noch mehr anzufeuern. Wahrscheinlich verstand er sie als Zeichen eines vertieften Interesses, das es nur noch in klingende Münze umzusetzen galt. Scheinbar einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte er hinzu: „Wissen Sie was, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Diese DVD hier enthält ein individuell auf Ihre Bedürfnisse abgestimmtes Angebot für eine Schattenadhäsion.“
Ich blickte auf die DVD-Hülle, die er mir hinhielt – tatsächlich war darauf mein Name eingraviert. Darunter prangte, schimmernd wie ein Hologramm, das Wort „Schattenadhäsion“.
„Normalerweise“, erläuterte der Schattenhändler, „verlangen wir für so etwas von unseren Kunden eine gewisse Unkostenbeteiligung. Schließlich bedeutet es für uns eine nicht unbeträchtliche Mühe, unsere Modelle – wenn auch nur vorläufig – auf Persönlichkeit und Lebenswandel unserer Kunden abzustimmen. Das Ganze enthält ja auch eine stark prognostische Komponente, die von unseren Kunden oft unterschätzt wird. Deshalb können wir so etwas für gewöhnlich nicht ganz kostenlos abgeben. Aber in Ihrem Fall“ – er ließ seinen Blick gönnerhaft auf mir ruhen – „will ich da mal eine Ausnahme machen – wo Sie sich doch so lebhaft für unsere Produktpalette interessieren …“
Ich sah ihn erwartungsvoll an: „Das bedeutet?“
Ein taxierender Blick traf mich. „Das bedeutet, dass ich Ihnen diese DVD hier … nun, sagen wir: zwei Wochen lang zur Ansicht überlassen könnte. Die Prospekte dürfen Sie natürlich auf jeden Fall behalten. So können Sie sich alles noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Am Freitag darauf werde ich mich dann wieder bei Ihnen melden, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wie gesagt, das ist ein bisschen gegen unsere Geschäftsbedingungen – aber es bleibt ja unter uns, nicht wahr?“
Er zwinkerte mir mit Verschwörermiene zu, so dass ich mich fühlte wie nach einem gelungenen, wenn auch nicht ganz legalen Geschäftsabschluss. Ich hatte den Eindruck, hier nur gewinnen zu können. So willigte ich bedenkenlos in seinen Vorschlag ein. Schließlich verpflichtete ich mich dadurch ja auch zu nichts. Sollte mir das Angebot – mit etwas mehr Abstand betrachtet – doch als zu unseriös erscheinen, konnte ich es immer noch ausschlagen.
English Version
Wednesday, July 26
The encounter with the shadow dealer was so unpleasant for me that I did not even manage to write further about it yesterday. Even just thinking back on the conversation, I feel as if someone is sedating me with a sweet poison that is imperceptibly paralysing my limbs.
What I also find disconcerting is that I can hardly remember the man’s face – even though I sat opposite him for at least half an hour. Of course, it was a common face, a typical salesman’s face that deliberately hides behind a mask of benevolence to make it easier to lure the victim.
Probably the man was nothing but a trickster. Did all his obscure advertising words have the sole purpose of scouting out my flat and stealing from me behind my back? But nothing is missing from the flat …
And what if he just wanted to spy on me in preparation for a break-in? Perhaps I was a bit too naïve after all. It makes me shudder just to think of that man’s pied piper smile! That almost priestly glow in his eyes with which he initiated me into the world of artificial shadows …
Shadow Models
Actually, I should not speak of „artificial shadows“ here. After all, the shadow dealer himself explicitly rejected this term. „Most of our customers,“ he explained to me, „are surprised by the technical possibilities we have in this field today. But I would not use the word ‚artificial‘ in this context. ‚Artificial‘ sounds a bit like ‚fake‘, and by no stretch of the imagination can you say that about our models. They are more like a second skin. The process of shadow adaptation works similarly to organ transplantation – the body has to accept the foreign organ as its own, otherwise the whole project fails.“
Now he had made me curious after all. „And … what would the Classic model offer me in concrete terms?“ I wanted to know.
The shadow dealer twitched his eyes barely noticeably – like a lion watching a victim stumble. He moved a little closer and explained in a jovial manner: „The Classic model offers its owner everything that his innate shadow also offered him. This shadow is the perfect double of its master. It reacts to all his movements, lets him sink into the sea of other shadows when necessary, relates him to them where necessary, sometimes even rushes ahead, but never removes itself from its master in an undue way. There are many clients for whom this is fully sufficient – even though it must be said that we have much more advanced options for umbratic interaction today.“
He pointed to the silhouette in the middle of the page, around which the other models were grouped: „Take, for example – as an admittedly extreme standard of comparison – the De Luxe model. This model includes all the services that are also provided by the classic version. But on top of that, it offers you the possibility of the so-called prokinetic vibration, which makes you appear to others as a mirror image of their own ideal. The model is therefore just as helpful in the search for a partner as it is in career advancement.“
I must confess that my initial resistance now gave way more and more to a lively interest. If – which was of course still possible – the man was not a charlatan, he offered me the opportunity not only to overcome my shadowlessness, but almost to use it productively. Therefore, I now began to ask about the details: „Tell me, please, this model De Luxe … it probably isn’t quite cheap?“
He sensed that his victim had almost swallowed the bait. So his tone became a little more jaunty, while at the same time his voice retained its solemn, subdued tone. An outsider would probably have taken him for a good acquaintance of mine now.
„Cheap! Expensive!“ He drew out the words as if they were something offensive. „Aren’t these very relative terms? Of course, our products are a bit more expensive than, say, an ordinary mid-range car – but they also offer you something very special in return!“
He pointed to the silhouette on the right under the De Luxe model: „Remember that I asked you if you had ever wanted to be invisible in broad daylight? Well, our model Private offers you exactly this possibility: no one will take any further notice of you if you opt for this shadow version. In contrast, those who choose the Entertainer model will achieve exactly the opposite: they will always be in the focus of attention. As you can see, each model is precisely tailored to the particular needs of the customer.“
He turned away from the brochure and looked me in the eye again: „Of course, mixed versions are also conceivable. We produce them as special designs if required. But above all, we have the possibility today to fit several shadows to one client – the right model for every occasion. Considering all this, you will realise that we are not simply talking about an ordinary act of purchase here. Rather, it is an investment in your future – and for that, no price should be too high!“
The salesman’s eagerness had made me a little more suspicious again: „Are you seriously suggesting that a person can have several shadows at the same time?“
He smiled at me in a superior way. „Technically, this is indeed no longer a problem nowadays. I would even say that it is almost standard today. Most of our clients have a spare shadow, many even order a third shadow, just in case.“
If anything, my scepticism seemed to spur him on even more. He probably understood it as a sign of a deeper interest that only needed to be converted into hard cash. As if on a sudden inspiration, he added: „You know what, I’ll make you a proposal: this DVD here contains an offer for a shadow adaptation that is individually tailored to your needs.“
I glanced at the DVD case he held out to me – indeed, my name was engraved on it. Underneath, shimmering like a hologram, the word „Shadow Adaptation“ glowed at me.
„Normally,“ the shadow dealer explained, „we ask our customers to pay a certain share of the costs for something like this. After all, it means a considerable effort for us to adjust our models – even if only temporarily – to the personalities and lifestyles of our clients. The whole thing also contains a strong prognostic component, which is often underestimated by our customers. That’s why we usually can’t give such things away completely free of charge. But in your case“ – he let his gaze rest mercifully on me – „I will make an exception – since you are so vividly interested in our product range …“
I looked at him expectantly: „That is?“
An appraising look met my eyes. „That means that I could let you keep this DVD here … well, let’s say: for a fortnight. The brochures remain with you in any case, of course. So you can think everything over again at your leisure. Two weeks from now I will get back to you to discuss the next steps. As I said, this is a bit against our terms and conditions – but it will remain between us, won’t it?“
He winked at me with a conspiratorial face, so that I felt like after a successful, albeit not entirely legal business deal. I had the impression that I could only win here. So I agreed to his proposal without hesitation. After all, I was not committing myself to anything. If the offer – viewed with a little more distance – should seem too dubious to me, I could still refuse it.
wolkenbeobachterin
spannend.
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