Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 19 / Diary of a Shadowless Man, Part 19
Dienstag, 25. Juli
Heute Morgen – ich saß noch am Frühstückstisch – höchst merkwürdiger Besuch: Ich öffne die Tür, und davor steht eine Spottgestalt von einem Vertreter, die sogleich auf mich einzureden beginnt.
„Guten Morgen, Meljohn mein Name, ich bin von Shadow Colours und würde Ihnen gerne unsere Produktpalette vorstellen.“
Ich blickte ihn zunächst nur konsterniert an. Vielleicht war seine Aufmachung ja mit Bedacht so gewählt, dass sie anfangs die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog und so potenzielle Kunden daran hinderte, ihm ins Wort zu fallen. Jedenfalls ließ er sich von meinem Schweigen nicht beirren, sondern setzte übergangslos zu einem längeren Redeschwall an: „Lieber Herr C.“ – unwillkürlich zuckte ich zusammen, als er meinen Namen aussprach –, „ich weiß nicht, ob Sie auch schon einmal das Bedürfnis hatten, am helllichten Tag für alle unsichtbar zu sein …“
Er sah mir direkt in die Augen, der Wirkung seiner Worte gewiss. „Vielleicht“, ergänzte er, die Stimme komplizenhaft senkend, „verspüren Sie aber manchmal auch den Wunsch, jemand ganz anderes sein? Ein Mensch mit einer anderen Hautfarbe, einem anderen Geschlecht, einer anderen Vergangenheit, einem anderen Beruf, einer anderen Persönlichkeit? – Glauben Sie nicht, dass das unmöglich ist!“ beschwor er mich. „Nichts ist unmöglich, wenn man an seine Möglichkeiten glaubt. Wollen Sie etwa der Wirklichkeit immer nur hinterherlaufen? Immer nur Zweiter sein?“
Er trat einen Schritt zurück und musterte mich wohlwollend. „Ich muss ehrlich sagen, Herr C., dass Sie mir nicht von dieser Sorte zu sein scheinen. Sie sind doch eher ein Macher-Typ – jemand, der die Wirklichkeit lieber selbst gestaltet, anstatt sich von ihr versklaven zu lassen. Habe ich nicht Recht?“
Während er mir seine Rede – die er offenbar schon etliche Male vor verdutzten Kunden abgespult hatte – an den Kopf warf, hatte ich Gelegenheit, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Er trug einen hellgrauen Vertreteranzug, dessen betont diskrete Färbung auffallend mit den bunten Schriftzügen diverser Produktnamen kontrastierte, die – fast wie bei einem Rennfahrer – an zahlreichen Stellen seines Jacketts angebracht waren. Wenn man nicht genau hinsah, erschienen sie zunächst wie bloße Verzierungen, was der ganzen Gestalt einen clownesken Anstrich verlieh.
„Ich hätte da auch“, fuhr er fort, „ein wenig Demonstrationsmaterial, das Ihnen unser Angebot etwas plastischer vor Augen führen wird. Wenn ich vielleicht eintreten dürfte? Natürlich nur für einen kurzen Moment, ich möchte Ihre Zeit keinesfalls über Gebühr beanspruchen! Zeit ist Geld, wer wüsste das besser als ich …“
Ohne die Antwort abzuwarten, war er auch schon an mir vorbei in den Flur getreten. Dort hielt er – meine Zustimmung zu seinem Vorgehen abwartend (oder eher herausfordernd) – inne und sah mich aufmunternd an.
Ich ergab mich in mein Schicksal: „Also gut, kommen Sie rein. Es ist nur ziemlich unaufgeräumt bei mir – ich hoffe, das stört sie nicht.“
„Aber nein, ganz im Gegenteil!“ bekräftigte er. „In ungezwungener Atmosphäre lässt sich doch alles viel leichter bereden.“ Der ganze Mann war ein einziges Werbelächeln. Alles an ihm drückte grenzenloses Entgegenkommen aus.
Ich machte eine Handbewegung, um den Gast – wie es seit dem Verlust meines Schattens meine Gewohnheit ist – vor mir hergehen zu lassen. Auf dem Weg ins Wohnzimmer bemerkte ich, dass seinem Schatten etwas Diffuses anhaftete. Es war, als änderte er beständig seine Gestalt.
Nachdem wir uns in meine Fernsehecke gesetzt hatten, hob er seinen silbrig glänzenden Vertreterkoffer auf die Knie und fingerte daraus das angekündigte Anschauungsmaterial hervor. „So, das hätten wir …“ Schweigend wartete er, bis ich meinen Blick auf ihn richtete. Dann fixierte er mich wieder mit seinen Augen: „Ich denke doch, wir können offen miteinander reden?“
Ich nickte. Es war eine dieser Fragen, die keine Verneinung zulassen.
„Sehen Sie, Herr C.“, fuhr er, in seinem Material blätternd, fort, „Probleme wie die Ihren sind heutzutage durchaus lösbar …“
Ehe ich etwas entgegnen konnte, setzte er mit einem wissenden Lächeln hinzu: „Ich verstehe Sie natürlich – für den, der persönlich von so etwas betroffen ist, ist das in jedem Fall ein Schicksalsschlag. Ich sage immer, es ist ein bisschen wie der Tod: eine allgemeine Tatsache, aber im konkreten Einzelfall doch immer eine Tragödie. Sie können jedoch sicher sein, dass wir …“
Seit wir uns gesetzt hatten, war sein Ton viel vertraulicher geworden. Angesichts der offenen Anspielung auf meine Probleme war mir das höchst unangenehm, ja fast schon unheimlich: Woher wusste dieser Typ überhaupt von meinen Problemen? Oder tat er nur so, als wüsste er davon? Waren seine Aussagen nicht bewusst allgemein gehalten, wie bei den Zeitungshoroskopen, die in ihrer Unverbindlichkeit ja auch irgendwie auf jeden zutreffen?
Mir war das alles nicht ganz geheuer. „Hören Sie“, fiel ich daher dem Mann ins Wort. „Warum erzählen Sie mir das alles?“
„Mein lieber Herr C.!“ Er sah mir ins Gesicht und wandte sich dann mit fast schon aufreizender Betonung zu der Seite hin, an dem sich mein Schatten hätte befinden müssen. „Mir müssen Sie doch nichts vormachen! Wir kennen unsere Kunden, und wir wissen, was sie durchmachen müssen. Glauben Sie mir, ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen. Ich komme als Freund!“
Ich fühlte mich zunehmend unwohl in meiner Haut. „Vielleicht sollten Sie mir nun endlich zeigen, was Sie mitgebracht haben“, forderte ich ihn kurzerhand auf. „Ich habe schließlich noch anderes zu tun.“
„Eben das wollte ich gerade vorschlagen.“ Von meiner Gereiztheit in keiner Weise beeindruckt, griff er nach einem der Prospekte und legte ihn aufgeschlagen vor mich hin. Ich blickte auf eine Seite mit goldfarbenem Hintergrund, vor dem sich mehrere Schattenrisse abzeichneten. Daneben waren in klein gedruckter Schrift Erläuterungen zu lesen. Sie waren mit Nummern versehen, die wie in einem Versandhauskatalog auf eine Preisliste am unteren Rand der Seite verwiesen.
Der Vertreter ließ den Anblick zunächst auf mich wirken, ehe er mich weiter umgarnte. „Alle Produkte, die Sie auf dieser Seite sehen“, erläuterte er dann, „haben eine jahrelange Erprobungsphase durchlaufen. Unseren Kunden liefern wir ausschließlich solche Modelle, die zuvor einer Reihe von standardisierten Alltagssituationen ausgesetzt worden sind. Sie können also mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Modelle den an sie zu stellenden Anforderungen genügen.“
Ich war verwirrt. „Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht ganz, was …“
Er machte eine beschwichtigende Bewegung mit der Hand. „Seien Sie ganz unbesorgt: Wir wollen keineswegs, dass Sie eine unbedachte Entscheidung treffen. Es liegt ja in unserem eigenen Interesse, dass die Kunden sich wohl fühlen und wir keine nachträglichen Änderungen vornehmen müssen. So etwas ist schließlich für alle Beteiligten mit Unannehmlichkeiten verbunden.“
Er wandte sich wieder dem Prospekt zu und wies auf den Schattenriss links oben auf der Seite: „Sehen Sie, das hier ist zum Beispiel unser Modell Classic – die Standardausführung, wenn Sie so wollen. Aber auch hier haben Sie selbstverständlich die Garantie, dass wir Ihnen den Schatten individuell anpassen und auf Ihre persönlichen Bedürfnisse abstimmen.“
Ich sah ihn ungläubig an: „Sie wollen mir einen künstlichen Schatten verkaufen?“
English Version
Tuesday, July 25
This morning – I was still having breakfast – I had a very strange visitor: When I opened the door, a ridiculous figure of a salesman stood in front of me.
Immediately he engaged me in a conversation: „Good morning, I am from Shadow Colours, and I would like to introduce you to our product range.“
At first I just looked at him in consternation. Perhaps his appearance was deliberately chosen to attract all the attention and thus prevent potential customers from interrupting him. In any case, he did not let himself be distracted by my silence, but went on unperturbed with his torrent of words: „Dear Mr. C.“ – I involuntarily winced when he mentioned my name – „I don’t know if you have ever felt the need to be invisible to everyone in broad daylight …“
He looked me straight in the eye, knowing about the effect of his words. „Perhaps,“ he added, lowering his voice in a complicit manner, „you sometimes also feel the desire to be someone completely different – a person with a different skin colour, a different sex, a different past, a different profession, a different personality? Don’t think that’s impossible!“ he appealed to me. „Nothing is impossible if you believe in your possibilities. Or do you always want to run after reality? Always be second?“
He took a step back and eyed me sympathetically. „To be honest, Mr C., you don’t look like that kind of person to me. You’re more of a doer type – someone who prefers to shape reality himself instead of being enslaved by it. Wouldn’t you agree?“
While he reeled off his speech – which he had obviously already held several times in front of stunned customers – I had the opportunity to take a closer look at him. He was wearing a light-grey salesman’s suit, whose deliberately discreet design contrasted strikingly with the colourful lettering of various product names, which – almost like on a racing driver – were attached to numerous places on his jacket. For those who didn’t pay closer attention, they appeared at first to be mere ornaments, which gave the whole figure a clownish look.
„I could also offer you,“ he continued, „some demonstration material that will show you our product range a little more vividly. Would you mind if I came in? Of course only for a short moment, I don’t want to take up too much of your time! Time is money, who knows that better than me …“
Without waiting for an answer, he stepped past me into the corridor. There he paused – expecting (or rather challenging) my approval of his proposal – and looked at me encouragingly.
Sighing, I resigned myself to my fate: „Well then, come in. It’s just that the flat is rather untidy – I hope that doesn’t bother you.“
„Not at all, quite the opposite!“ he affirmed. „After all, a conversation in an informal atmosphere is much more pleasant.“ The whole man was one big advertising smile. Everything about him expressed infinite goodwill.
I made a gesture with my hand to let the guest walk in front of me – as has been my habit since losing my shadow. On my way to the living room, I noticed that there was something diffuse about his shadow. It seemed as if it was constantly changing shape.
After we had sat down in my TV corner, he lifted his silvery shining salesman’s case to his knees and fished out the announced illustrative material. „There we go …“ Silently he waited until I turned my gaze on him. Then he fixed me again with his eyes: „I think we can talk openly?“
I nodded. It was one of those questions that didn’t allow for a negative answer.
„You see, Mr. C.,“ he continued, leafing through his material, „problems like yours are quite solvable nowadays …“
Before I could reply, he added with a knowing smile: „I do understand you, of course – for someone who is personally affected by something like this, it is a stroke of fate in any case. I always say it’s a bit like death: a general fact, but in the concrete individual case nevertheless a tragedy. However, you can be sure that we …“
Since we had sat down, his tone had become much more confidential. In view of the open allusion to my problems, this made me feel highly uncomfortable, almost creepy: how did this guy actually know about my problems? Or was he just pretending to know about them? Weren’t his statements deliberately general, like newspaper horoscopes, which in their non-committal nature also somehow apply to everyone?
All of this made me feel quite uneasy. „Listen,“ I therefore interrupted the man. „Why are you telling me all this?“
„My dear Mr. C.!“ He looked me in the face and then turned with almost provocative emphasis towards the side where my shadow should have been. „You don’t have to pretend anything to me! We know our clients and we know what they have to go through. Believe me, I have come to help you. We want to be on friendly terms with you!“
I felt increasingly uncomfortable in my skin. „Perhaps you should finally show me what you have brought,“ I urged him curtly. „After all, I have some other things to do.“
„That’s exactly what I was about to suggest.“ Not at all impressed by my irritation, he reached for one of the brochures, opened it and placed it in front of me. I glanced at a page with a golden background, against which several shadow outlines stood out. On the side I saw explanations in small print. They were numbered, like in a mail-order catalogue, and referred to a price list at the bottom of the page.
The salesman first let the pictures unfold their effect on me before he continued to ensnare me. „All the products you see on this page,“ he explained, „have been tested for years. We only provide our customers with models that have been tested in a series of standardised everyday situations. So you can be one hundred percent sure that the products meet the requirements to be placed on them.“
I was confused. „Excuse me, I don’t quite understand what …“
He made a placating gesture with his hand. „Don’t worry: we don’t want you to make a rash decision. After all, it is in our own interest that the customers feel at ease and that we don’t have to make any subsequent changes. After all, such problems are inconvenient for everyone involved.“
He turned back to the brochure and pointed to the silhouette at the top left of the page: „You see, this is our Classic design, for example – the standard version, so to say. But here too, of course, you have the guarantee that we will individually customise the shadow for you and adapt it to your personal needs.“
I looked at him incredulously: „You want to sell me an artificial shadow?“