Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 18 /Diary of a Shadowless Man, Part 18
Sonntag, 23. Juli
Wenn ich mir vorstelle, dass der Ausgangspunkt all meiner Probleme eine Begegnung mit einem Mädchen ist, das es womöglich gar nicht gibt, könnte ich auf der Stelle verrückt werden. Vielleicht bin ich das ja sogar längst.
Man weiß ja, dass der menschliche Geist keineswegs dazu neigt, die Welt wirklichkeitsgetreu abzubilden. Natürlich, ich könnte jetzt philosophisch werden und danach fragen, was überhaupt die Wirklichkeit ist und wie die Wirklichkeiten verschiedener Menschen oder gar die Wirklichkeiten von Menschen und Tieren, die mit ganz anderen Sinnesorganen ausgestattet sind, voneinander abweichen. Aber darum geht es mir nicht. Was mich beunruhigt, ist die darüber hinausgehende Fähigkeit unseres Gehirns, uns Dinge als echte Erlebnisse wahrnehmen zu lassen, die in Wahrheit auf purer Einbildung beruhen – während wir gleichzeitig wirklich Erlebtes als bloßen Traum in Erinnerung behalten können.
Es sind Gedankenpfade, auf denen man sich besser nicht zu weit vorwagen sollte. Denn sie führen in ein nebelumflossenes Moor, in dem die Schlünde der Verzweiflung weit geöffnet sind.
Geschichte eines Schattenverlusts: 13. Traum und Wirklichkeit
Nachdem ich das Holzhaus, in dem das Mädchen mit den grünen Augen mich in der Nacht zuvor empfangen hatte, beim ersten Anlauf nicht gefunden hatte, atmete ich tief durch und startete einen zweiten Versuch. Ich kehrte einfach an den Anfang der Gasse zurück und nahm nun die andere Häuserzeile in Augenschein. Leider blieb auch das ohne Erfolg.
Unschlüssig blieb ich stehen und blickte abwechselnd nach links und nach rechts, auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, den ich bislang übersehen hatte. Auf die schlotternden Damen, die nach einem Kunden Ausschau hielten, der sie vom Warten in dem kalten Regen erlösen würde, muss ich nun wohl vollends wie ein an der eigenen Verklemmung scheiternder Freier gewirkt haben. Jedenfalls traten nun gleich zwei Damen auf mich zu und fragten mich fast mütterlich, ob sie mir nicht zu Diensten sein sollten. Sie hatten sich eng aneinander unter einen viel zu kleinen Schirm gepresst. Hinter ihren nackten, von Gänsehaut überzogenen Armen türmten sich ihre hochgepushten Brüste zu einem respektablen Fleischgebirge auf.
In meiner Verzweiflung ließ ich mich auf ein Gespräch mit den Damen ein. „Vielleicht können Sie mir weiterhelfen“, begann ich, als würde ich mit zwei Politessen reden. „Ich suche ein Mädchen, das ich gestern in dieser Gasse getroffen habe. Sie hat grüne Augen und wohnt in einem Holzhaus, das hier ganz in der Nähe sein muss.“
Die beiden blickten mich zunächst stumm aus ihren lila-schwarz umschminkten, unter dem Schirm noch dunkler wirkenden Augen an. Offenbar wussten sie nicht so recht, wie sie auf meine Frage reagieren sollten. Dann versuchte es die linke von ihnen mit den üblichen Neckereien: „So, wir stehen auf grüne Augen? Das kannste bei uns aber auch haben! Unsere Finger machen alles wieder grün.“ Sie ließ ihre bunt lackierten Finger vor meinen Augen flattern. „Willst du mal probieren, wie grün sich das anfühlt? Komm, Evi, wir geben ihm ’ne Gratisprobe!“
Von zwei Seiten strichen geübte Finger über meine Wangen. „Na, fühlt sich das nicht grün an?“ schäkerte Evi.
Sie blickten mich erwartungsvoll an. Offenbar war ich der erste Fisch, den sie an dem Abend in die Nähe ihrer Angel gelockt hatten.
„Wirklich sehr angenehm“, lobte ich – schließlich wollte ich sie nicht beleidigen. „Aber ich suche wirklich das Mädchen mit den grünen Augen. Ich habe ganz bestimmte Gründe dafür.“
„Meinst du, wir kriegen die Tour nicht hin? Was hat die denn mit dir so Besonderes gemacht?“ fragte die Linke, noch immer halb im Schäkerton.
Jetzt wurde mir doch ein wenig mulmig zumute. „Es ist nicht so, wie Sie denken“, versuchte ich mich herauszureden. „Ich muss einfach noch mal mit dem Mädchen sprechen, verstehen Sie?“
„Also wenn du quatschen willst, dann geh zur Bahnhofsmission. Dafür sind wir nicht zuständig“, blaffte Evi mich jetzt an.
„Sie wissen also nicht, wen ich meine?“ Es war unsinnig, auf der Frage zu beharren, aber immerhin war das meine letzte Chance.
„Weißt du was, du komischer Vogel? – Schieb ab, oder wir machen dir Beine!“ Evis Kollegin hatte die Stimme drohend erhoben. Gleichzeitig tauchte im Halbdunkel hinter ihr ein Mann auf, der unsere Unterhaltung anscheinend von einem nahen Hauseingang aus beobachtet hatte.
Ich murmelte eine Entschuldigung und wandte mich schnell zum Gehen. Erst als ich das Schimpfen und Lästern nicht mehr hörte, das die beiden mir hinterherschickten, verlangsamte ich meinen Schritt und trat desillusioniert den Heimweg an.
English Version
Sunday, July 23
When I think that the starting point of all my problems is an encounter with a girl who possibly doesn’t exist, I feel like going crazy right there and then – and maybe I already am.
Of course, everyone knows that the human mind is not at all inclined to depict the world in a realistic way. So I could get philosophical now and ask what reality is in the first place and how the realities of different people or even the realities of people and animals, which are equipped with completely different sensory organs, differ from each other. But that is not what I am concerned with. What worries me is something that goes beyond this: the ability of our brain to make us perceive things as real experiences that are actually based on pure imagination – while at the same time we can remember what we have really experienced as a mere dream.
These are mental paths on which it is better not to venture too far. They lead into a fog-enshrouded bog where the gullets of despair are wide open.
Story of a Shadow Loss: 13. Dream and Reality
After failing to find the wooden house where my green-eyed girl had welcomed me the night before, I took a deep breath and made a second attempt. I simply returned to the beginning of the alley and looked at the other row of houses. Unfortunately, this also proved unsuccessful.
Indecisively, I stopped and looked alternately to the left and to the right, searching for a clue that I might have missed so far. To the shivering ladies who were looking for a customer that would save them from waiting in the cold rain, I must have looked like a client failing due to his own inhibitions. In any case, two ladies approached me and asked me almost motherly if they should not be of service to me. They had pressed themselves tightly together under a much too small umbrella. Behind their naked arms, covered with goose bumps, their pushed-up breasts piled up into a remarkable mountain of flesh.
Disoriented as I was, I started a conversation with the ladies. „Maybe you can help me,“ I began, as if I were talking to two traffic wardens. „I’m looking for a girl I met yesterday in this alley. She has green eyes and lives in a wooden house that must be around here.“
The shivering ladies gazed at me from their purple and black eyes, which appeared even darker under the umbrella. Obviously they didn’t quite know how to react to my question. Finally the one on the left tried the usual teasing: „You’re crazy about green eyes? That’s something you can have with us, too! Our fingers turn everything green again.“
She let her colourfully painted fingers flutter before my eyes. „Do you want to try how green it feels? Come on, Evelyn, we’ll give him a free sample!“
From two sides, skilfull fingers stroked my cheeks. „Well, doesn’t that feel green?“ flattered Evelyn.
They looked at me expectantly. Apparently I was the first fish they had lured near their fishing line that evening.
„Very pleasant indeed,“ I praised them – after all, I didn’t want to offend them. „But I’m really looking for the girl with the green eyes. I have very specific reasons for that.“
Do you think we can’t do the job? What did she do to you that was so special?“ the left one asked, still half in a joking tone.
Now I began to feel a little queasy. „It’s not what you think,“ I tried to talk my way out of it. „I just need to talk to the girl again, you know?“
„Sweetheart, if you want to chat, go to the Salvation Army. That’s not our business,“ Evelyn barked at me.
So you don’t know whom I mean?“ It was nonsensical to persist with the question, but after all, this was my last chance.
„You know what, you scarecrow – get lost or we’ll kick your ass!“ Evelyn’s colleague had raised her voice threateningly. At the same time, a man who had evidently been observing our conversation from a nearby doorway appeared in the semi-darkness behind her.
I mumbled an apology and quickly turned to leave. Only when I could no longer hear the cursing they were shouting after me did I slow down. Disillusioned, I went to the station and took the train home.