Heute richtet sich der Blick im literarischen Corona-Tagebuch auf jene Menschen, für die ein Ausgehverbot während eines Lockdowns gleichbedeutend ist mit einem Existenzverbot.
Verwaist
Als du an die Straßenkreuzung kommst, wo du jeden Morgen deinen kleinen Verkaufsstand aufschlägst, kannst du dein Glück kaum fassen: Es ist noch niemand da! Du kannst dir frei aussuchen, wo du deine Waren präsentieren möchtest.
Du kannst dich gar nicht daran erinnern, wann so etwas das letzte Mal passiert ist. Oder ob es überhaupt schon einmal passiert ist. Normalerweise gibt es stets erst lange Auseinandersetzungen mit den anderen Straßenhändlern um die besten Plätze. Mit deiner jahrzehntelangen Verkaufserfahrung kannst du die verschiedenen Ecken mit sicherem Blick in Güteklassen einteilen. Und den Gegenwert jeder Güteklasse kannst du exakt in der Größe der Reisschüsseln angeben, die du deinen Kindern am Abend auftischen kannst.
Freudig suchst du dir den besten Platz aus und arrangierst dein Angebot auf dem ausklappbaren Tisch, der dir als Verkaufsfläche dient. Dann hältst du nach Kunden Ausschau.
Du wartest fünf Minuten. Du wartest zehn Minuten. Du wartest eine halbe Stunde. Allmählich verwandelt sich deine Freude in Verwunderung und deine Verwunderung in Befremden, das in ein anschwellendes Entsetzen übergeht. Denn nicht nur die anderen Straßenhändler bleiben an diesem Morgen aus. Es ist auch sonst niemand auf der Straße.
Niemand kommt auf dich zu. Kein Auto ist zu sehen. Von nirgendwoher sind die üblichen Morgengespräche zu hören und das Kindergezwitscher, das sonst immer mit den Hupkonzerten der ewig ungeduldigen Autofahrer um die Schallhoheit ringt. Erst nach einer halben Ewigkeit nähert sich dir ein einzelner Passant. Als er an dir vorübergeht, sieht einer den anderen an, als wäre ihm ein Geist erschienen.
Hast du etwa einen Feiertag übersehen? Aber selbst wenn: Müsste nicht gerade dann ein ausgelassenes, vom Alltagsdruck befreites Treiben auf den Straßen herrschen?
Jetzt ärgerst du dich, dass du am vorigen Abend nicht, wie du es eigentlich vorgehabt hattest, bei deinen Nachbarn vorbeigegangen bist. Dein Fernseher ist schon seit längerem defekt. Wenn du dir etwas anschauen willst, musst du zu Bekannten gehen. Dafür bist du aber abends meist zu müde. Dadurch bekommst du auch nur die Hälfte von dem mit, was in der Welt vor sich geht.
So bist du nun hilflos dem Strom abenteuerlicher Vermutungen ausgeliefert, die in dir aufsteigen. Eine Bombe kommt dir in den Sinn, von der du einmal gehört hast. Angeblich kann sie eine große Zahl an Menschen töten, ohne dabei die Gebäude zu beschädigen. Und gibt es nicht auch bestimmte heimtückische Gase, die durch alle Ritzen dringen und die Menschen im Schlaf überraschen?
Aber auch diese Erklärungsansätze befriedigen dich nicht. Selbst wenn es einen solchen hinterlistigen nächtlichen Angriff gegeben haben sollte: Irgendwelche Spuren davon müssten doch zu sehen sein. Schließlich ist die Stadt auch nachts nicht menschenleer. Normalerweise gibt es immer und überall Leben in ihr. Irgendwer müsste also auch draußen von der Attacke getroffen worden sein. Und Waffen, die ihre Opfer nicht nur lautlos töten, sondern sie danach auch noch spurlos beseitigen, gibt es deines Wissens nur in Science-Fiction-Filmen.
Noch einmal durchbohrst du die leblosen Straßenschluchten mit deinen Blicken. Und tatsächlich: An der nächsten Straßenecke erblickst du einen Polizisten. Er ist ganz in eine dunkle Kampfmontur gehüllt – offenbar ist er zur Überwachung der Straße eingeteilt. Dann wird er sicher auch wissen, was geschehen ist, denkst du erleichtert. Kurz entschlossen gehst du auf ihn zu.
Auf halbem Weg zu dem Gesetzeshüter drehst du dich gewohnheitsmäßig noch einmal um. Es ist zwar niemand auf der Straße, also kann dich eigentlich auch niemand bestehlen – aber man kann ja nie wissen. Vielleicht hat sich ja jemand ganz in der Nähe versteckt und wartet nur auf die Gelegenheit, dich auszurauben.
Auf einmal zerreißt ein Schrei die Stille. Erschrocken wendest du dich wieder zu dem Uniformierten um. Der Schrei kam aus seiner Richtung: Möchte er dich etwa vor irgendetwas warnen?
Da siehst du, wie er die Pistole aus dem Halfter zieht und auf dich anlegt.

English Version
Today, the literary Corona diary takes a look at those people for whom a ban on going out during a lockdown is the same as a ban on existence.
Abandoned
When you arrived at the crossroads where you used to set up your little stall every morning, you couldn’t hardly believe your luck: No one was there yet! You were free to choose where you wanted to present your goods.
You couldn’t even remember when this last happened. Or whether it had ever happened at all. Normally, there were always nerve-racking quarrels with the other street hawkers about the best places. With your decades of sales experience you were able to classify the different corners with a sure eye according to their success probability. And you could indicate the value of each corner exactly in the size of the rice bowls you could serve your children in the evening.
You joyfully chose the best place and arranged your products on the fold-out table that served you as a sales area. Then you looked out for customers.
You waited five minutes. You waited ten minutes. You waited half an hour. Gradually your joy turned into amazement and your amazement into disbelief, which gradually grew into a swelling horror. For not only were the other hawkers absent that morning. The streets were completely abandoned, nobody was outside.
No one came up to you. No car was to be seen. From nowhere the usual morning conversations could be heard and the children’s chirping, which usually competed for supremacy with the honking of the ever impatient drivers. Only after half an eternity did a single pedestrian approach you. As he passed you by, you looked at each other as if a ghost had appeared to you.
Had you missed a holiday? But even if so: Shouldn’t then, free from the constraints of everyday life, all the more the usual hustle and bustle on the streets have been heard?
What a pity that you hadn’t gone to your neighbours the previous evening as you had intended to! Your television had been broken for quite a while. If you wanted to watch something on TV, you had to visit some friends. But in the evening you were usually too tired for that. As a result, you only got to know half of what was going on in the world.
So you were helplessly at the mercy of the stream of adventurous assumptions rising within you. A bomb you had once heard of came to your mind. Supposedly it could kill a large number of people without damaging the buildings. And didn’t there also exist certain insidious gases that penetrated through all gaps and cracks and surprised people in their sleep?
But even these explanations did not satisfy you. Even if there should have been such a sneaky nocturnal attack – some traces of it would have been visible. After all, the city was not deserted at night either. Normally, there was always and everywhere life in it. So someone would have been hit by the attack outside too. And weapons that not only killed their victims silently, but also eliminated them without a trace, were, to your knowledge, only to be found in science fiction films.
Once again you pierced the lifeless street canyons with your gaze. And indeed, at the next street corner you saw a policeman. He was completely wrapped in a dark combat outfit – apparently he was assigned to watch the street. Then he would certainly know what had happened, you thought relieved. Shortly decided, you walked up to him.
Halfway to the officer of the law, you habitually looked back once more. There was nobody on the street, so nobody could actually rob you – but you never know. Maybe someone was hiding nearby, just waiting for the opportunity to outsmart you.
Suddenly a scream broke the silence. Startled, you turned back to the man in uniform. The scream came from his direction: Was he trying to warn you about something?
A moment later you saw him pull the pistol out of his holster and point it at you.
Bilder: Pixabay: 1. Richard McCall: Straßenhändler; 2. RD LH: Leere Straße in der Provence