Der Schatten des Drachen / The shadow of the dragon

Der dritte Teil des literarischen Corona-Tagebuchs kreist um unsere Versuche, das Virus auszusperren – oder vor ihm zu fliehen.

Staunend erfuhrst du vor einiger Zeit aus den Nachrichten, dass sich vor der Stadt ein Drache niedergelassen habe. Jeden, der ihm zu nahe komme, versenge er mit seinem giftigen Atem.
Schon geringste Spuren des Drachenhauchs könnten, hieß es, den Tod bringen. Denn die Atemtröpfchen des Ungeheuers verfügten, so erläuterten es die Drachenkundler, über die Fähigkeit, auf der Haut der Angewehten zu kleinen Würmern zu mutieren. Diese wären mit winzigen Stacheln ausgestattet, mit denen sie in die Haut der Opfer eindringen könnten. So könnten sie in deren Blutbahn gelangen und sie von innen heraus aussaugen.
Qualvoll sei der Tod, den die Atemwürmer brächten, qualvoll und einsam. Es fühle sich an, so erläuterten die Experten, als würde einen jemand über Tage hinweg strangulieren. Hilfe sei unmöglich, gegen die Miniaturdrachen sei kein Kraut gewachsen. Auch seelischer Beistand könne nicht geleistet werden, da die Atemwürmer auf jeden überspringen würden, der dem Opfer Trost zu spenden versuche.
Vor einem Verlassen der Stadt wurde demzufolge dringend gewarnt. Nichtsdestotrotz wurden kurz darauf auch innerhalb der Stadt Spuren des giftigen Drachenhauchs aufgespürt. Drachenforscher hatten sie mit speziellen Sensoren sichtbar gemacht. Vielleicht waren die Ausdünstungen des Drachen einfach vom Wind in die Stadt geweht worden. Vielleicht war aber auch die Kleidung einiger Unvorsichtiger, die sich über die Warnungen hinweggesetzt und sich außerhalb der Stadt bewegt hatten, eine Art Trojanisches Pferd für sie gewesen.
Daraufhin wurden die Stadttore geschlossen. Niemand durfte mehr hinaus, niemand durfte mehr hinein.
Allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz häuften sich jedoch die Berichte über Opfer des Drachen und seiner heimtückischen Miniaturklone. Täglich gab es neue Gerüchte über deren Einfallstore, immer umfangreicher wurde die Liste an Beschwerden, die sie verursachten.
Gleichzeitig gab es allerdings auch immer mehr Erzählungen über jene Glücklichen, die sich erfolgreich gegen den Ansturm der Miniaturdrachen zur Wehr gesetzt hatten; denen es gelungen war, diese ihrerseits mit dem Schwert ihres Überlebenswillens zu vernichten.
So wuchsen allmählich die Zweifel in dir: Handelte es sich bei den Opfern des Drachen und seiner Sprösslinge nicht überwiegend um Alte und Gebrechliche? Um morsche Blätter am Baum des Lebens, die ohnehin von dem nächsten Windstoß zu Boden geweht worden wären? War der angebliche Drache am Ende nur ein ganz gewöhnliches Reptil, das in der monotonen Wüste des Alltags zu etwas Außergewöhnlichem aufgebläht worden war? Gewissermaßen eine Halluzination, die sich der Reizarmut der Normalität verdankte?
Da erinnertest du dich an den alten Tunnel, der einst bei Belagerungen der Stadt als Versorgungsstollen gedient hatte. Was niemand wusste: Ein Eingang befand sich direkt unterhalb deines Hauses. Du musstest nur in den Keller hinabsteigen und dort die morsche, gut hinter einem Weinregal verborgene Tür aufstoßen, um ihn zu betreten.
Nun stehst du auf der anderen Seite des Tunnels und blickst hinaus in die weite Ebene, in die der Stollen dort mündet. Du hattest sie gar nicht mehr so weit in Erinnerung. So frei. So grenzenlos. Wohlige Schauer überlaufen dich, als die Flügel des Windes dich streifen. Wie von einem lange vermissten Bruder lässt du dich von ihnen umfangen.
Du atmest tief durch. Dieses tanzende Licht unter den vorüberziehenden Wolken! Der ahnungsvolle Gesang der Grillen! Der würzige Duft der Kräuter!
Oder bildest du dir das alles nur ein? Erscheint dir die Welt nur deshalb so frei, weil du so lange hinter den engen Stadtmauern eingesperrt warst? Grillen können doch gar nicht singen! Und waren nicht viele Kräuter sogar giftig?
Eine plötzliche Verunsicherung lähmt deinen Schritt. Für einen Augenblick streift sogar der Gedanke an Rückkehr die Schwelle deines Bewusstseins. Aber dein Stolz drängt ihn so schnell zurück, dass du ihn gleich wieder vergisst.
Trotzig beschleunigst du deinen Schritt. Immer tiefer dringst du in die Ebene ein, entschlossen strebst du fort von dem Gefängnis, das die Stadt zuletzt für dich gewesen war.
Ein letztes Mal drehst du dich um, wie um dem städtischen Kerker ein hämisches Lebewohl zuzurufen. Zu deiner Enttäuschung musst du feststellen, dass du dich noch gar nicht so weit von der Stadt entfernt hast, wie du gedacht hattest. Auch wird es auf einmal ganz dunkel um dich her.
Zieht womöglich ein Gewitter auf? Oder sollte etwa schon die Nacht hereinbrechen? Aber du bist doch extra früh am Morgen losgegangen, um bei Tageslicht laufen zu können! Und was ist das für ein ätzender, beißender Geruch, der dir plötzlich in die Nase steigt? Warum kribbelt es auf deiner Haut, als würden unsichtbare Insekten darauf herumkrabbeln?
Dir wird schwarz vor Augen, du musst dich setzen. Sterne umtanzen dich, du möchtest nach ihnen greifen, aber da verwandeln sie sich in Schmetterlinge, die sich dir glitzernd entziehen. Du bist wieder ein kleines Kind, du rennst hinter ihnen her, wedelst mit den Armen, um die Edelsteine der Lüfte zu fangen, du ahmst am Boden ihre Tänze nach, diese schwungvollen Schneisen, die sie in die Luft schlagen …
Ja, denkst du, die Schmetterlinge, eines Tages werde ich mit ihnen in den Süden reisen. Jetzt aber musst du dich erst einmal dem großen Schatten beugen, der sich über dich gelegt hat, diesem Schatten, dem ein unangenehmer, all deine Glieder lähmender Atem entströmt.

The shadow of the dragon

The third part of the literary Corona diary revolves around our attempts to lock out the virus – or to flee from it.

Some time ago you learned from the news that a dragon had settled outside the town. Anyone who came too close to him was scorched, so the experts said, by his poisonous breath.
According to the media, even the slightest traces of the dragon’s breath could lead to death. As the dragonologists explained, the monster’s breath droplets had the ability to mutate into small worms on the skin of those affected. These worms were reported to have tiny spikes with which they could penetrate the skin of their victims. This would allow them to enter their bloodstream and suck them out from inside.
The death brought about by the breath worms was said to be torturous, torturous and lonely. According to the experts, it felt as if someone was strangling the victim for days on end. Help was impossible, they said, there was no remedy to the dragon’s devastating breath. Mental support could not be provided either, as the spiky worms would jump over to anyone trying to comfort the victim.
An urgent warning was therefore issued against leaving the town. Nevertheless, traces of the poisonous dragon breath were discovered even within the town shortly afterwards. Dragon researchers had made them visible with special sensors. Perhaps the vapours of the dragon had simply been blown into the town by the wind. Or maybe the clothing of some careless people who had ignored the warnings and moved outside the town had been a kind of Trojan horse for them.
So the town gates were closed. No one was allowed to go out, no one was allowed to go in.
However, despite all the precautions taken, reports of victims of the dragon and its insidious miniature clones increased dramatically. Every day new rumours about their gateways to the victims occurred, and the list of discomforts they caused was growing steadily.
At the same time, however, there were more and more reports of those lucky ones who had resisted the attacks of the miniature dragons and succeeded in destroying them with the sword of their will to survive.
So gradually your doubts began to grow: Weren’t the victims of the dragon and his offspring mainly old and infirm? Weren’t they rather decaying leaves on the tree of life, which would have been blown to the ground by the next gust of wind anyway? Was the alleged dragon in the end just an ordinary reptile that had been inflated to something extraordinary in the monotonous desert of everyday life? A hallucination, so to speak, which was due to the lack of stimuli in normality?
That’s when you remembered the old tunnel that had once served as a supply shaft during sieges of the town. What nobody knew: there was an access to it right underneath your house. All you had to do was descend into the cellar and open the rotten door, well hidden behind a wine rack, to enter it.
So now you are standing on the other side of the tunnel, looking out into the wide plain into which the tunnel leads. You didn’t remember it that vast; that free; that boundless. Pleasant showers overflow you as the wings of the wind touch you. You sink into them like into the arms of a long missed brother.
You breathe deeply. This dancing light under the passing clouds! The enigmatic chant of the crickets! The spicy scent of the herbs!
Or are you just imagining all this? Does the world seem so free to you only because you have been locked up for so long behind the narrow town walls? Crickets can’t sing at all! And weren’t many herbs even poisonous?
A sudden insecurity paralyses your step. For a moment even the thought of returning touches the threshold of your consciousness. But your pride pushes it back so quickly that you forget it right away.
Defiantly you accelerate your pace. Deeper and deeper you penetrate into the plain, resolutely striving away from the prison that the town had become for you in the end.
One last time you turn around, as if to say a malicious farewell to the town dungeon. To your disappointment, you have to realise that you are not as far away from the town as you thought. Moreover, it suddenly becomes completely dark around you.
Could a thunderstorm be approaching? Or is night about to fall? But how could that be possible? You remember very well that you left early in the morning to walk in daylight! And what’s that pungent, acrid smell that suddenly gets into your nose? Why is your skin tingling as if invisible insects were crawling all over it?
It gets black before your eyes, you have to sit down. Stars are dancing around you, you want to reach out and grab them, but they turn into butterflies that elude you with a glittering glow. You are a little child again, you run after them, waving your arms to catch the gems of the air, you imitate their dances on the ground, these swinging swaths they carve into the air …
Yes, you think, the butterflies, one day I will travel with them to the south. But for now you must give in to the great shadow that has fallen over you, this shadow from which an unpleasant breath flows down on you, paralysing all your limbs.

Bildnachweis: Pixabay: Vinson Tan: Stadt; Sarah Richter: Drache

3 Antworten auf „Der Schatten des Drachen / The shadow of the dragon

  1. Марина

    В случае, если ты за доброе дело признательность ожидаешь — Ты не даруешь благодеяние, ты его продаёшь. Пребольшое спасибо за Ваши безвоздмездные и в это же время, полезные все статьи!

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  2. Pingback: Zacharias Mbizo: Literarisches Corona-Tagebuch – LiteraturPlanet

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