Auf nach Nordkarelien!
In der gegenwärtigen Coronakrise kann niemand mehr einfach seinem Fernweh nachgeben, wenn ihn das Reisefieber packt. Glücklicherweise bleibt uns aber selbst dann, wenn wir uns in der Realität kaum von unserem Heimatort wegbewegen können, noch die Möglichkeit der Phantasiereise.
Auf unserem Literaturplaneten sind wir dabei insofern im Vorteil, als wir solche Reisen ohnehin ständig unternehmen. Eine davon haben wir etwas aufgehübscht und präsentieren sie an dieser Stelle als Trost für all jene, die die derzeit so schmerzlich zu spürenden Grenzen wenigstens imaginär überschreiten möchten.
Teil 1: Im Reisebüro Zum fliegenden Teppich
Wir alle haben einen kleinen fliegenden Teppich im Kopf, der uns, sobald wir ihn im Geiste herbeirufen, an jeden Ort der Welt entführt, ganz egal, wie weit er entfernt ist.
Und das Schöne ist: Dort, wohin dieser Teppich uns fliegt, wird es ganz bestimmt keinen Massentourismus geben. Keine Bettenburgen, die uns die schöne Illusion vom anderen Leben am anderen Ende der Welt schon bei unserer Ankunft am Urlaubsort austreiben; keine leiernden Touristenführer, keine überdrehten Animateure, keine Prozessionen keuchender Flachländer vor dem Berggipfel, keine sonnenverbrannten Scheinleichen am Strand. Wir selbst können entscheiden, wer uns auf unserer Reise begleitet. Wen wir auf unseren fliegenden Teppich einladen, ob wir Anhalter mitnehmen und welche das sein werden – all das liegt ganz allein an uns.
Ich selbst habe mir sogar ein Luxusmodell geleistet, das mir auch Zeitreisen ermöglicht. Wenn mir irgendein Gebiet zu verbaut ist, reise ich einfach ein paar Jährchen zurück, in eine Zeit, als es noch ein Geheimtipp war. Neuerdings verfügt mein Teppich zudem über eine automatische Duftbestäubung, die Übelkeit und Flugangst vorbeugen soll.
Vor Kurzem bin ich nun wieder in das Reisebüro Zum fliegenden Teppich gegangen, um mich nach möglichen Reisezielen zu erkundigen. Übrigens ist schon allein das Reisebüro eine Reise wert: Das Elfenwesen, das dort arbeitet, gibt mir jedes Mal das Gefühl, schon mit meinem Teppich in den Lüften zu schweben, von einem lauen Sommerduft umfächert.
Zur Begrüßung bekam ich ein morgenrotes Lächeln geschenkt: „Ah, der Herr Luftikus – auch mal wieder reif für den Teppichflug? Wohin soll’s denn diesmal gehen?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich nach einer kurzen Pause, in der ich in die erwartungsfrohe Atmosphäre des Reisebüros eintauchte. „Was haben Sie denn anzubieten?“
„Das hängt ganz davon ab, wann sie aufbrechen möchten.“
„Am liebsten sofort …“
Das Reisebüro war eigentlich gar kein richtiges Büro. Es wirkte eher wie ein durchsichtiges Zelt, das jemand auf einem luftigen Wolkenberg aufgestellt hatte. Dadurch wurde das Reisefieber hier noch einmal zusätzlich angefacht. Man sah gewissermaßen schon seinen fliegenden Teppich vor sich, man spürte das leichte Erzittern der Luft, wenn er sich sanft von dem Wolkengebirge abstößt und in die flimmernde Ferne eintaucht.
Das Elfenwesen klickte sich rasch durch ein paar Dateien – oder war das eher eine Glaskugel, die da nach passenden Reisezielen für mich durchforstet wurde?
„Wenn es sofort sein soll, würde ich Ihnen zu Nordkarelien raten …“
Die Stimme des Elfenwesens drang wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Sie klang verheißungsvoll, als würde mich daraus schon das fremde Land anraunen, das mir empfohlen worden war.
Nordkarelien … Ja, ich hatte schon einmal von Karelien gehört, ich hätte es irgendwo in Nordosteuropa verortet, an der Grenze zwischen Russland und Finnland. Damit lag ich zwar nicht ganz falsch, aber es war eben doch nur ein grobes Orientierungswissen, in dem sich die Wirklichkeit der mir unbekannten Region kaum anders widerspiegelte als das Universum in den Sternbildern, mit denen wir das Unfassbare fassbar zu machen versuchen.
Aber was soll’s, dachte ich mir, genau das war ja der Zweck meiner Teppichtouren: etwas Fremdes zu erkunden, neue Gegenden der Welt kennenzulernen. Also setzte ich mich einfach auf meinen Teppich und schwebte von dannen.
Als Einstimmung auf das fremde Land habe ich mir das Lied Kesäyö („Sommernacht“) von der finnischen Rock-Band Pariisin Kevät („Pariser Frühling“) angehört. Der romantische Name der Band entsprach genau meiner Stimmung, und auch eine Vorbereitung auf das viel beschworene Mittsommer-Mysterium schien mir recht nützlich zu sein.
Pariisin Kevät: Kesäyö
aus: Kaikki on satua (2012)
Liedtext mit Übersetzungen in mehrere Sprachen
Freie Übertragung
Sommernacht
Im Dämmerlicht sitzend,
versank ich in einem Augenblick,
der nie zu enden schien.
Die Stille umfing mich
wie ein lebendiges Wesen und wisperte:
„Hab keine Angst vor der Welt …“
Wir saßen beieinander,
und das Universum schaute auf uns herab.
Und funkelnd übergoss die Sommernacht
mit Tränen mein Gesicht.
Ich erwache an einem Strand,
die Nacht ist heller als der Tag,
die Sternenfähren gleiten in den Morgen.
Eingehüllt in einen Umhang des Vergessens,
weiß ich nicht mehr,
wie ich hierher gelangt bin.
Nur an Luftschiffe kann ich mich erinnern,
die der Himmelsküste entgegenschweben.
Und funkelnd übergoss die Sommernacht
mit Tränen mein Gesicht.
Im Dämmerlicht sitzend,
warte ich noch immer auf den Augenblick,
der nie enden wird,
auf die Stille, die mich umfangen wird
wie ein lebendiges Wesen und mir zuraunen wird:
„Nichts bleibt … Alles entschwindet …“
Lichtschauer fliehen über den Himmel,
fröstelnd spüre ich sie auf meiner Haut.
Und funkelnd übergoss die Sommernacht
mit Tränen mein Gesicht.
Tipp: Einen guten Eindruck von Nordkarelien bietet ein Reisebericht mit Dia-Show von Michael Fiukowski: Wilde Entschleunigung in Nord-Karelien auf norr-magazin.de
Teil 2 am kommenden Montag: Ankunft in Nordkarelien
Bilder: Collage unter Verwendung des Gemäldes „Fliegender Teppich“ von Viktor M. Wasnezow (1880); Kerttu (Pixabay): See in Finnland; Gruu (Pixabay): Elfe; Styraxx (Pixabay): Aurora