Friedhofstraum I

Der Krähenschwarm, dem du dich angeschlossen hast, hat sein Nachtlager auf einem Friedhof aufgeschlagen. Weil du noch nicht müde bist, gleitest du herab von dem mächtigen Schlafbaum, um noch ein wenig auf den Kieswegen zwischen den Gräbern herumzuhüpfen.

Obwohl du dich nicht daran erinnern kannst, schon einmal an diesem Ort gewesen zu sein, zieht dich doch ein bestimmter Teil des Friedhofs, eine bestimmte Gräberreihe magisch an. Am Ende sitzt du auf einem moosbedeckten Grabstein, dessen Inschrift im Zwielicht der Dämmerung kaum zu erkennen ist.

Du beugst dich vor, in dir selbst unverständlicher Neugier äugst du nach den verwitterten Zeichen auf dem Stein. Obwohl du nicht lesen kannst, kommt dir die Anordnung der Zeichen doch seltsam vertraut vor. Natürlich hast du als Krähe keinen Namen – dennoch bist du dir sicher, dass die Zeichen auf dem Grabstein deinen eigenen Namen formen.

Interessant, denkst du, dann war ich in einem früheren Leben also einmal ein Mensch! Du stellst dir vor, wie es wäre, wenn du dein ganzes Leben lang nur auf zwei Beinen gehen könntest, stets angekettet an den harten Boden der Erde. Du fragst dich, wie es sich anfühlen würde, wenn du dich nie, einer plötzlichen Laune folgend, in die Lüfte schwingen könntest, um die Welt von oben zu betrachten. Müsste dir die Walnuss-Schale deines Lebens dann nicht wie ein Labyrinth erscheinen, in dem du dich unmöglich zurechtfinden kannst?

Wie eine Ahnung aus einem früheren Leben steigt ein geheimer Groll in dir auf; ein Groll gegen deine Unfähigkeit, dich der schweren Kraft zu entziehen, die dich an den Boden bindet und die dich irgendwann unweigerlich in diesen hinabsaugen wird; ein Groll, der dich in selbstzerstörerischer Raserei alles vernichten lässt, was diesem Boden entsteigt und dich das Land stattdessen mit Ausgeburten deines gekränkten Geistes bedecken lässt, als wolltest du auf ihnen in den Himmel entfliehen und dich so der schweren Kraft entziehen, die an deinen Gliedern zerrt.krahe3-2

Bevor die hereinbrechende Nacht den Grabstein in sich aufnehmen kann, flatterst du erschöpft zurück zu deinem Schlafbaum. Am nächsten Morgen wirst du dich in die Lüfte erheben und in wohligem Schaudern herabblicken auf das Madengewimmel, in das du einst selbst verstrickt warst.

Bilder: Kovasc: Nacht auf dem Friedhof. Quelle: Fotolia; Krähe: Rotherbaron

2 Antworten auf „Friedhofstraum I

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