Die Utopie eines post-paradiesischen Friedens / The Utopia of a Post-Paradise Peace

Elsa Morantes Canto per il gatto Alvaro (Gesang für den Kater Alvaro) / Elsa Morante’s Canto per il gatto Alvaro (Song for the Cat Alvaro)

In ihrem Gesang für den Kater Alvaro entwirft Elsa Morante die Vision einer neuen Qualität von Frieden, die den Frieden des paradiesischen Urzustands durch die bewusste Entscheidung für den friedfertigen Umgang miteinander übertrifft.

English Version

Podcast:

Gesang für den Kater Alvaro

Zwischen meinen Armen hast du,
träges, feuriges Geschöpf,
du, mein schimmernder Nichtsnutz,
dir ein Nest gebaut.

Im Mittag wie in tiefster Nacht
bist du zu Hause, von der Taube
dich zur Eule wandelnd, von den Gräbern
dich wie Rauch gen Himmel schwingend.

Wenn alles Licht erloschen ist,
entzündest du die Kandelaber
deiner leuchtenden Pupillen,
du Wächter über meine Schläfrigkeit.

Dann huschen flüchtige Fackeln
durch den brüchigen Frieden der Nacht,
ein Mosaik aus Tausenden von Tigeraugen,
einander im kindlichen Rausche jagend.

Dann ruhen die irrlichternden Lampen,
deine samtäugigen Zwillinge,
sie, die am Tag so stolz
auf meinen Fensterbänken flackern.

Und dabei war ich einst wie du!
Zwischen dem dunkelleuchtenden Laub,
mitten unter dem ungläubigen Volk
des Paradieses, lebten wir einst zusammen.

Ein Exil war es für mich. Für dich aber,
du spielerischer Pilger, ist es die Heimat geblieben,
von der du eine Ahnung webst
um meinen flüchtigen Erdengang.

Während deine himmlischen Geschwister
den morgendlichen Müßiggang genießen,
sich in herzlosen Kriegen und Jagden ergehen,
ruhst du im Schoß meiner Arme.

Wie komme ich, mein Wilder, zu dieser Ehre?
Deiner ewigen, unschuldigen Ungebundenheit
entsprechen doch in meinem Schicksalstopf
nur Tod, Gefangenschaft und Sünde.

Draußen jagen deine galanten Brüder
mit den melodiösen Namen
todesmutig den Dornenkranz des Mondes
und die berauschende Morgenkrone der Sonne.

Du aber bescheidest weise
dich mit meiner Liebe.

Elsa Morante: Canto per il gatto Alvaro aus dem Roman Menzogna e sortilegio (Lüge und Zauberei; 1948)

Das ambivalente Wesen der Katze und der Traum vom Paradies

Der Canto per il gatto Alvaro findet sich am Schluss von Elsa Morantes erstem, 1948 veröffentlichtem Roman Menzogna e sortilegio (Lüge und Zauberei). Er versteht sich darin als eine Art Dank an den Kater, der die Erzählerin bei ihrer Schreibarbeit begleitet hat.

In dem Gedicht spielt Morante, die eine große Katzenliebhaberin war und auch anderen Katzen Gedichte gewidmet hat [1], unverkennbar mit dem zwiespältigen Wesen von Katzen, ihrem Schwanken zwischen Schmusekätzchen und Raubtier. Dabei werden allerdings die zwei Seelen, die in der Katzenbrust wohnen, auf unterschiedliche Individuen aufgespalten: Während der Vertraute des lyrischen Ichs, der Kater Alvaro, offenbar ein reines Schmusekätzchen ist, leben dessen Artgenossen ihre mordlüsterne Wildheit ungehemmt aus.

Dieser Kunstgriff ermöglicht es, die Vorstellung eines paradiesischen Urzustands ungebrochen darzustellen. Der Kater Alvaro ist damit mehr als eine normale Hauskatze. Er wird in dem Gedicht zum Sinnbild für einen die Grenzen der Kreaturen überschreitenden friedlichen Umgang miteinander.

Der bewusst naive Ton des Gedichts verweist darauf, dass die Dichterin auch als Verfasserin von Erzählungen für Kinder in Erscheinung getreten ist. Der impliziten Verknüpfung mit kindlichen Empfindungsweisen kommt in dem Gedicht allerdings auch eine sinnunterstützende Funktion zu. So lässt sich der Verlust des Paradieses, den das lyrische Ich beklagt, auch auf den Verlust der Kindheit beziehen.

Die Zähmung des inneren Tigers

In dem Gedicht geht es indessen nicht um eine rückblickende Verklärung der Kindheit. Vielmehr erscheint die Kindheit hier als menschliche Entsprechung zum ambivalenten Wesen der Katzen.

Auch Kinder leben ihre „wilden“ Impulse oft ungefiltert aus und können dabei durchaus eine nicht unbeträchtliche Grausamkeit an den Tag legen. Da sie sich der Konsequenzen ihrer Handlungen aber noch nicht voll bewusst sind, leben sie – auch nach rechtlichen Maßstäben – in einem Zustand der Unschuld. Je älter sie werden, desto mehr nähern sie sich allerdings der Schwelle, jenseits derer aus unschuldiger Wildheit schuldbehaftetes Verhalten wird.

Die von Elsa Morantes Gedicht entworfene Utopie besteht, aus dieser Perspektive betrachtet, nicht darin, in den paradiesischen Urzustand zurückzukehren. Vielmehr geht es gerade darum, dessen dunkle Seiten abzuschütteln und möglichst viel von seinen hellen Seiten in das Leben jenseits des Paradieses hinüberzuretten.

Oder, „kätzisch“ gesprochen: Wir müssen den in uns allen lebenden Tiger zumindest so weit zähmen, dass er für uns und andere keine Gefahr mehr darstellt.

Zur Biographie Elsa Morantes

Die 1912 in Rom geborene und dort 1985 auch verstorbene Elsa Morante ist vor allem für ihre zeitkritischen Romane bekannt. Mit ihrem Schriftstellerkollegen Alberto Moravia, mit dem sie zwanzig Jahre lang verheiratet war, war sie ein fester Bestandteil der italienischen Kunstszene der Nachkriegszeit.

Über die Freundschaft zu Pier Paolo Pasolini war die Schriftstellerin auch in der Welt des Films aktiv. Sie schrieb Drehbücher, verfasste Filmkritiken, übernahm kleinere Rollen, wirkte als Regieassistentin an den Filmen mit und beteiligte sich an der Erarbeitung von Filmmusik. Auch ihre eigenen Romane wurden teilweise filmisch umgesetzt.

Dafür eigneten sich ihre Werke auch deshalb, weil diese wie die wichtigsten italienischen Filme der Nachkriegszeit dem Stil des Neorealismus verpflichtet waren. Morante verband mit ihrem kritischen Realismus den Anspruch, den Eindruck des Auseinanderfallenden, Disparaten, das den modernen Menschen angesichts der Komplexität der Wirklichkeit überkommt, schreibend zu überwinden. So erklärte sie 1965 in einer berühmten Rede:

„Die Kunst ist das Gegenteil des Zerfalls. (…) Der Existenzgrund der Kunst, ihre Rechtfertigung, die Ursache ihrer Präsenz und ihres Überlebens (…), ist genau dies: den Zerfall des menschlichen Bewusstseins in seinem täglichen, ermüdenden und entfremdenden Umgang mit der Welt zu verhindern, ihm in dem unwirklichen, verbrauchten und fragmentarischen Durcheinander der äußeren Beziehungen immer wieder ein integrales Gesamtbild des Realen – mit einem Wort: die Realität – zurückzugeben.“ [2]

Als Tochter einer jüdischen Mutter musste Morante während der deutschen Besatzung Italiens kurzzeitig mit ihrem Gatten – dessen Vater ebenfalls jüdischer Abstammung war – untertauchen. Von dieser Erfahrung ist auch ihr erfolgreichster, 1974 erschienener Roman La Storia (Die Geschichte) geprägt. Er handelt davon, wie eine Frau mit jüdischen Wurzeln zusammen mit ihren zwei Söhnen den Krieg im faschistischen Rom zu überleben versucht. 1986 verfilmte Luigi Comencini den Roman für das Fernsehen, mit Claudia Cardinale in der Hauptrolle.

Nachweise

[1]  Vgl. Figini, Alice: I gatti di Elsa Morante: dal Canto per il gatto Alvaro alla Poesia per Minna; sololibri.net, 17. Februar 2023.

[2] Übersetzt aus: Morante, Elsa:Pro o contro la bomba atomica (Für oder gegen die Atombombe) S. 2; Februar 1965. Bonste.typepad.com (PDF).

English Version

The Utopia of a Post-Paradise Peace

Elsa Morante’s Canto per il gatto Alvaro (Song for the Cat Alvaro)

In a poem for her cat Alvaro, Elsa Morante creates a vision of a new quality of peace that surpasses the peace of the primordial paradisiacal state through the conscious decision to treat each other peaceably.

Canto for the Cat Alvaro

In the nest of my arms,
you, lazy, fiery creature,
my shimmering good-for-nothing,
have curled up with relish.

In the midday sun as in the deepest night
you are at home, turning from a dove
to an owl, from the graves
swinging like smoke towards the sky.

When all light is extinguished
you light the candelabra
of your luminous eyes
and watch over my drowsiness.

Fleeting torches then flit
through the fragile peace of the night,
a mosaic of thousands of tigers‘ eyes,
chasing each other in a childish frenzy.

The wandering lamps then come to rest,
your velvet-eyed twins
that flicker so proudly by day
around the flowers on my windowsills.

And yet I was once like you!
Among the darkly shining foliage,
amidst the faithless people
of paradise, we once lived together.

For me, it was an exile. But for you,
you playful pilgrim, it has remained the homeland,
of which you weave an inkling
around my fleeting walk on earth.

While your heavenly brothers and sisters
enjoy their morning idleness
in heartless wars and hunts,
you stay in the hollow of my arms.

How do I, my savage, deserve this honour?
In my book of fate, only death, captivity and sin
correspond to your eternal,
innocent independence.

Outside your gallant brothers
with the melodious names
chase the thorny crown of the moon
and the inebriating morning wand of the sun.

But you, my prince,
wisely content yourself
with my love.

Elsa Morante: Canto per il gatto Alvaro from the novel Menzogna e sortilegio (Lies and Sorcery; 1948)

The Ambivalent Nature of the Cat and the Dream of Paradise

The Canto per il gatto Alvaro appears at the end of Elsa Morante’s first novel Menzogna e sortilegio (Lies and Magic), published in 1948. In it, it is meant to thank the cat that accompanied the narrator in her writing.

In the poem, Morante, who was a great cat lover and also dedicated poems to other cats [1], plays with the ambivalent nature of cats, their oscillation between pussycat and predator. The contrasting characters of the cat are, however, split up into different individuals: While the lyrical self’s confidant, the tomcat Alvaro, is apparently a pure cuddly kitten, his fellow cats live out their murderous ferocity uninhibitedly.

This artifice makes it possible to create an unbroken vision of a primordial paradisiacal state. Alvaro is thus more than a normal domestic cat. In the poem, he becomes a symbol of peaceful interaction between different creatures.

The poem’s deliberately naïve tone indicates that Elsa Morante has also written stories for children. Furthermore, the implicit link to children’s ways of feeling serves to support the message of the poem. Thus, the loss of paradise can also be related to the loss of childhood.

Taming the Inner Tiger

The poem, however, is not about a retrospective glorification of childhood. Rather, childhood appears here as the human equivalent of the ambivalent nature of cats.

Children, too, often live out their „wild“ impulses unfiltered and can display a not inconsiderable cruelty. However, since they are not yet fully aware of the consequences of their actions, they live in a state of innocence – even by legal standards. The older they get, though, the more they approach the threshold beyond which innocent savagery becomes culpable behaviour.

Seen from this perspective, the utopia outlined by Elsa Morante’s poem does not involve returning to the paradisiacal original state. Rather, it is precisely about shaking off the dark sides of this state and saving as much as possible of its bright sides for life beyond paradise.

Or, to put it in „kitty“ terms: We must tame the tiger living in all of us at least to such an extent that it no longer poses a danger to us or others.

Biography of Elsa Morante

Elsa Morante, who was born in Rome in 1912 and died there in 1985, is best known for her time-sensitive novels. Together with her fellow writer Alberto Moravia, to whom she was married for twenty years, she was an integral part of the post-war Italian art scene.

Through her friendship with Pier Paolo Pasolini, Morante was also active in the world of film. She wrote screenplays and film reviews, took on smaller roles, worked as an assistant director and participated in the creation of film music. Some of her own novels were also adapted into films.

Her works were particularly suitable for this because, like the most important Italian films of the post-war period, they were based on the style of neorealism. Morante associated her critical realism with the claim to overcome in writing the impression of a disparate and disjointed world that besets modern man in the face of the complexity of reality. Thus she declared in a famous speech in 1965:

„Art is the opposite of disintegration. (…) The reason for art’s existence, its justification, the cause of its presence and survival (…), is precisely this: that it is supposed to prevent the disintegration of human consciousness in its daily, tiring and alienating dealings with the world, to give it back again and again, in the unreal, used-up and fragmentary confusion of external relationships, an integral overall picture of the real – in a word: reality.“ [2]

As the daughter of a Jewish mother, Morante had to go into hiding with her husband – whose father was also of Jewish descent – during the German occupation of Italy. This experience also influenced her most successful novel, La Storia (The Story), published in 1974. It is about a woman with Jewish roots trying to survive the war in fascist Rome together with her two sons. In 1986, Luigi Comencini adapted the novel for television, with Claudia Cardinale in the leading role.

References

[1]  Cf. Figini, Alice: I gatti di Elsa Morante: dal Canto per il gatto Alvaro alla Poesia per Minna; sololibri.net, February 17, 2023.

[2] Translated from: Morante, Elsa:Pro o contro la bomba atomica (For or against the atomic bomb) p. 2; February 1965. Bonste.typepad.com (PDF).

Bilder / Images: Kazimierz Władysław Wasilkowski (1861 – 1934): Junge Frau mit Katze / Young Woman with cat (Wróżka, um 1920); Wikimedia commons; Unbekannter Fotograf: Elsa Morante in ihrer Wohnung in Rom (Wikimedia commons) / Unknown photographer: Elsa Morante in her flat in Rome (Wikimedia Commons); Lilla Cabot Perry (1848 – 1933): Frau mit Katze / Woman with cat (Wikimedia Commons)

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..