Der ewige Steinschleudermensch / The Eternal Slingshot Man

Salvatore Quasimodos Gedicht Uomo del mio tempo / Salvatore Quasimodo’s Poem Uomo del mio tempo

Salvatore Quasimodos Gedicht Uomo del mio tempo (Mensch meiner Zeit) plädiert vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs für eine radikale Abkehr von den tradierten Denk- und Verhaltensmustern. Leider ist es heute nicht weniger aktuell als damals.

English Version

Podcast:

Mensch der Moderne

Noch immer, Mensch der Moderne,
bist du der Steinschleudermensch.
Immer bist du vorangeflogen, getragen
von deinen finsteren Flügeln,
die Tag in Nacht verwandeln.

In deinem flammenden Wagen
sah ich dich durch die Zeiten reiten,
von Folterrad zu Folterrad,
von Galgenberg zu Galgenberg,
von Massengrab zu Massengrab.

Ohne Liebe, ohne Gott
hast du die Lunte des Todes gezogen
durch die Zeiten, befeuert
von dem Thron deiner Technologie,
der Meisterin des mühelosen Mordens.

Auf den Spuren deiner Väter wandelnd,
antwortest du mit Mord und Totschlag
auf den Blick der Tiere und den Blick
des Bruders, der einst arglos folgte
deiner Mordlist: „Komm, gehen wir aufs Feld …“

Der kalte Atem dieser Worte
umwölkt noch immer deine Tage.
Blutig fließt ihr Gift durch deine Adern
und lässt dich weiter deinen Vätern folgen,
dich weiter auf dem Pfad des Mordens wandeln.

Vergessen müsst ihr, Kinder, eure Väter!
Wendet euch ab von ihren Gräbern,
von ihrem Atemgift und ihrem Blutgewölk!
Mögen die finsteren Flügel der Nacht
sich für immer über ihre Asche breiten!

Salvatore Quasimodo: Uomo del mio tempo (Mensch meiner Zeit) aus: Giorno dopo giorno (Tag für Tag, 1947); Erstauflage 1946 unter dem Titel Con il piede straniero sopra il cuore (Mit einem fremden Fuß auf der Brust)

Steiniger Weg zur Dichtung

Dass aus Salvatore Quasimodo (1901 – 1968) einmal ein bedeutender Dichter werden würde, war bei seiner Geburt in keiner Weise abzusehen. Schon gar nicht konnte damals jemand ahnen, dass er im Jahr 1959 den Literaturnobelpreis erhalten würde.

Salvatore Quasimodo wurde 1901 in Modica im Südosten Siziliens geboren, wo sein Vater als Bahnhofsvorsteher tätig war. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Roccalumera, dem an der Meerenge von Messina gelegenen Heimatort der Familie.

1920 begab Quasimodo sich für ein Studium der Mathematik und Physik nach Rom, musste die Universität jedoch aufgrund finanzieller Engpässe verlassen. Er schlug sich als Kaufhausangestellter und technischer Zeichner durch und vertiefte nebenher seine Kenntnisse in Latein und Altgriechisch, ehe er 1926 eine feste Anstellung im Bauministerium erhielt.

Die neue Tätigkeit verschaffte ihm materielle Sicherheit und erlaubte es ihm, seine langjährige Lebensgefährtin zu heiraten. Gleichzeitig ging seine Arbeit jedoch mit häufigen Ortswechseln einher. Nachdem er zunächst als Landvermesser nach Reggio Calabria geschickt worden war, wurde er bald darauf nach Florenz, dann nach Genua und schließlich ins Tiefbauamt von Cagliari versetzt.

Das unstete Leben verstärkte in Quasimodo das Gefühl der Haltlosigkeit und Entfremdung, das ihn seit seinem Weggang aus Sizilien ohnehin plagte. Gleichzeitig öffneten die Reisen in die kulturellen Zentren des Landes ihm jedoch die Türen zu den literarischen Kreisen seiner Zeit.

So konnte er erste Gedichte in Zeitschriften und 1930 schließlich auch seinen ersten Gedichtband veröffentlichen, auf den kurz darauf zwei weitere Bände folgten. 1938 war seine Stellung in der literarischen Szene so weit gefestigt, dass er aus dem Bauministerium ausschied und in einen Verlag wechselte, wo er als Herausgeber einer Literaturzeitschrift sowie der Gedichtanthologie Poesie fungierte. 1941 wurde er zum Professor für italienische Literatur am Mailänder Konservatorium Giuseppe Verdi ernannt.

Von der nostalgischen Lyrik des Frühwerks zu engagierten Dichtungsformen

Quasimodos frühe Dichtung ist stark von seiner Sehnsucht nach der verlorenen sizilianischen Heimat geprägt. Diese wird dabei auf nostalgische Weise verklärt und erscheint so als in sich ruhender Gegenpol zu dem sich ständig selbst überholenden Leben auf der Baustelle der Moderne, in das der Dichter sich zum Zweck des Broterwerbs fügen musste.

Die Erfahrung von Krieg und Faschismus überzeugte Quasimodo später jedoch von der Notwendigkeit eines fundamentalen – gesellschaftlich-politischen, aber auch sprachlich-kulturellen – Wandels.

Auf der Ebene der Dichtung spiegelte sich diese Überzeugung in dem neuen Ton wider, den der Autor in seinem ersten nach Kriegsende veröffentlichten Gedichtband anschlug. In dem programmatischen Gedicht Alle fronde dei salici(An den Zweigen der Weiden) bringt er dabei im Bild der „erhängten Harfen“ das Verstummen zum Ausdruck, dass das Elend der Dichtung aufgezwungen habe.

Andererseits ist das Gedicht selbst ein Beleg dafür, dass auch nach dem Krieg noch lyrisches Sprechen möglich ist. Dieses muss sich dafür allerdings wandeln: Es darf nicht mehr rückwärtsgewandt einem schimärenhaften Paradies nachtrauern, sondern muss sich der Realität stellen.

Mit anderen Worten: Der Dichter darf nicht mehr abseits stehen. Er muss sich einmischen, sich auch und gerade mit seinem Werk gesellschaftlich engagieren.

Uomo del mio tempo: ein Appell zu radikaler geistiger Umkehr

Ausdruck einer so verstandenen engagierten Dichtung ist auch Uomo del mio tempo (Mensch meiner Zeit). Als abschließendes Gedicht der Sammlung Giorno dopo giorno  (Tag für Tag) ist es eine Art Resümee der neuen dichterischen Position Quasimodos.

Mit dem Satz „Komm, gehen wir aufs Feld!“ spielt das Gedicht auf die Hinterlist Kains an, der seinen Bruder Abel gemäß biblischer Überlieferung mit dieser Aufforderung nach draußen lockte, um ihn zu töten. Eben diese mörderische Hinterlist stellen die Verse als roten Faden der menschlichen Geschichte heraus.

Was sich geändert hat, sind demnach nur die Mittel des Mordens, die immer weiter perfektioniert worden sind. Die zugrunde liegende destruktive Einstellung des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen und anderen Geschöpfen ist jedoch unverändert geblieben.

Daraus ergibt sich am Schluss des Gedichts der Appell zu einem radikalen Neuanfang. Dieser wird nur dann für möglich gehalten, wenn das geistig-emotionale Erbe der Ahnen kompromisslos auf den Prüfstand gestellt wird, anstatt unreflektiert weitergetragen zu werden. Nur die Abwendung von der reflexhaften Gewaltanwendung kann den Wandel hin zu einer im emphatischen Sinn „humanen Welt“ ermöglichen.

Das Traurige an dem Gedicht ist, dass sich in den über sieben Jahrzehnten seit seiner Entstehung kaum etwas geändert hat. Auch heute noch klafft eine tiefe Kluft zwischen dem mit dem Wort „human“ verbundenen Anspruch und der Realität des Menschseins, die heute wie damals die Vernichtung anderer und die sukzessive Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen miteinschließt. So ist der Appell zu einer radikalen Abkehr von den ererbten Denk- und Verhaltensmustern heute nicht weniger aktuell als zu Lebzeiten Salvatore Quasimodos.

Zitat aus dem Gedicht An den Zweigen der Weiden entnommen aus: Alle fronde dei salici; in: Giorno dopo giorno (Tag für Tag, 1947); Erstveröffentlichung 1946 unter dem Titel Con il piede straniero sopra il cuore (Mit einem fremden Fuß auf der Brust)

English Version

The Eternal Slingshot Man

Salvatore Quasimodo’s Poem Uomo del mio tempo

Salvatore Quasimodo’s poem Uomo del mio tempo (Man of My Time), written against the backdrop of the Second World War, pleads for a radical break with traditional patterns of thought and behavior. Unfortunately, it is no less topical today than it was then.

Man of the Modern Age

To this day, man of the modern age,
you are the slingshot man.
In all times you have flown ahead,
carried by your sinister wings
that turn day into night.

In your flaming chariot
I have seen you ride through the ages,
from torture wheel to torture wheel,
from gallows hill to gallows hill,
from mass grave to mass grave.

Without love, without God
you have drawn the fuse of death
through the ages, fuelled
by the throne of your technology,
the master of mindless murder.

Walking in the footsteps of your forefathers,
you answer with murder and slaughter
to the gaze of the animals and the gaze
of your brother, who once unsuspectingly followed
your murderous ruse: „Come, let’s go to the field …“

The cold breath of these words
still clouds your days.
Bloodily their poison flows through your veins
and makes you continue to follow your forefathers,
keeps you walking on the path of murder.

Forget, children, your forefathers!
Turn away from their graves,
from their poisonous breath and their fog of blood!
May the dark wings of the night
forever shroud their ashes!

Salvatore Quasimodo: Uomo del mio tempo (Man of My Time) from: Giorno dopo giorno (Day after Day, 1947); first published 1946 under the title Con il piede straniero sopra il cuore (With a Stranger’s Foot on the Chest)

Stony Path to Poetry

That Salvatore Quasimodo (1901 – 1968) would become an acclaimed poet one day was in no way foreseeable at his birth. No one could have guessed at the time that he would receive the Nobel Prize for Literature in 1959.

Salvatore Quasimodo was born in 1901 in Modica in southeastern Sicily, where his father worked as a stationmaster. He spent his childhood and youth in Roccalumera, the family’s hometown on the Strait of Messina.

In 1920 Quasimodo went to Rome to study mathematics and physics, but had to leave the university due to financial constraints. He worked as a clerk in a department store and as a technical draftsman, while improving his knowledge of Latin and ancient Greek, before being hired by the Ministry of Construction in 1926.

The new job provided him with financial security and allowed him to marry his long-term girlfriend. At the same time, however, his work required frequent changes of location. After first being sent to Reggio Calabria as a surveyor, he was soon after transferred to Florence, then to Genoa, and finally to the civil engineering office of Cagliari.

The unsteady life reinforced in Quasimodo the sense of rootlessness and alienation that had afflicted him anyway since his departure from Sicily. At the same time, though, his travels to the cultural centers of the country helped him gain access to the literary circles of his time.

Thus he was able to publish his first poems in magazines and finally, in 1930, his first book of poems, which was followed shortly afterwards by two more volumes. In 1938 his position in the literary scene was so consolidated that he resigned from the Ministry of Construction and moved to a publishing house, where he acted as editor of a literary magazine and of the poetry anthology Poesie. In 1941 he was appointed professor of Italian literature at the Giuseppe Verdi Conservatory in Milan.

From the Nostalgic Lyricism of the Early Work to Committed Forms of Poetry

Quasimodo’s early poetry is strongly influenced by his longing for his lost Sicilian homeland. The latter is transfigured in a nostalgic way and thus appears as an antithesis to the constantly self-overhauling life on the construction site of modernity, to which the poet had to adapt for the purpose of earning a living. The experience of war and fascism, however, convinced Quasimodo of the necessity of fundamental – social-political, but also linguistic-cultural – change.

On the level of poetry, this conviction was reflected in the new tone the author adopted in his first volume of poetry published after the end of the war. In this context, his programmatic poem Alle fronde dei salici (On the Branches of the Willows) is of crucial importance. In it, Quasimodo expresses the silencing that misery has imposed on poetry in the image of harps hanged on branches like enemy soldiers.

On the other hand, the poem itself is proof that lyrical speech is still possible after the war. The prerequisite for this, however, is a fundamental change in poetry: it must no longer mourn, backward-looking, a chimerical paradise, but must openly face reality.

In other words, the poet has to stop standing on the sidelines. Instead, he has to get involved and become socially engaged.

Uomo del mio tempo: an Appeal for a Radical Break with the Past

Uomo del mio tempo (Man of my Time) is an expression of a committed poetry understood in this way. As the concluding poem of the collection Giorno dopo giorno (Day after Day) – the title of the second edition of Con il piede straniero sopra il cuore, published in 1947 – it is a kind of summary of Quasimodo’s new poetic position.

With the phrase „Come, let’s go to the field!“ the poem alludes to the insidiousness of Cain, who, according to the biblical narrative, lured his brother Abel outside with this invitation in order to kill him. It is precisely this murderous deceitfulness that the verses highlight as a recurring theme of human history.

What has changed, therefore, are only the means of murder, which have been perfected more and more. The underlying destructive attitude of man towards his fellow men and other creatures, however, has remained unchanged.

This results in the appeal for a radical new beginning at the end of the poem. Such a restart, however, is considered possible only if the spiritual-emotional heritage of the ancestors is uncompromisingly put into question instead of being adopted unreflectively. Only the turning away from the reflexive use of violence can enable the change towards a more humane world.

The sad thing about the poem is that little has changed in the more than seven decades since it was written. Even today, there is a deep gap between the ambitions associated with the word „humane“ and the reality of being human, which today, just as in the past, includes the annihilation of others and the destruction of our own livelihood. Thus, the call for a radical departure from inherited patterns of thought and behaviour is no less topical today than it was during Salvatore Quasimodo’s lifetime.

Quotation from the poem On the Branches of the Willows taken from: Alle fronde dei salici; in: Giorno dopo giorno (Day after Day, 1947); first published 1946 under the title Con il piede straniero sopra il cuore (With a Stranger’s Foot on the Chest)

Bilder / Images: Gustave Doré (1832 – 1883): Abels Tod (Kain tötet Abel, 1866) / Abel’s Death (Cain kills Abel, 1866); Wikimedia commons; Salvatore Quasimodo 1959 (Wikimedia commons)

2 Antworten auf „Der ewige Steinschleudermensch / The Eternal Slingshot Man

  1. Avatar von wolkenbeobachterin

    wolkenbeobachterin

    danke für das interessante portrait und gedicht. ich habe dir zugehört beim lesen, das gefällt mir gut, auch mit der musik im hintergrund. ich hatte bislang von ihm noch nicht gehört oder gelesen. der dichter muss sich einmischen. ja. und die anderen auch.

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