Die Welt hinter dem Nebel der Erscheinungen / The World Behind the Mist of Appearances

Paul Verlaines Gedicht Promenade sentimentale / Paul Verlaine’s Poem Promenade sentimentale

In einem 1886 erschienenen literarischen Manifest zählt Jean Moréas Paul Verlaine zu einem der wichtigsten Wegbereiter des Symbolismus. In der Tat enthält dessen Lyrik einige symbolistische Elemente.

English Version

Empfindsamer Spaziergang

Der Abend sandte sein letztes, schleichendes Licht,
und im Winde wiegten sich Seerosen bleich;
die leuchteten hell zwischen Schilfgräsern dicht,
leuchteten traurig über dem schweigenden Teich.
Durchs Labyrinth der Weiden schweift‘ ich verwaist
in heillosem Schmerz, den der Nebel gebar,
der aus den Wassern aufstieg, ein Geist,
wehklagend schrill wie der Enten Schar,
die sich versammelten wilden Geschreis
und flatterten durch das Gestrüpp so bang
aus Weiden und heillosem Schmerz. Finsteres Eis
der Dämm’rung, das mich umschlang,
Leichentuch, das so schwerelos fiel
hin auf das Schilf und Seerosen bleich,
die wie der Abend traurig und kühl,
traurig verglommen über dem schweigenden Teich.

Paul Verlaine: Promenade sentimentale aus: Poèmes saturniens (1866). Oeuvres complètes, Bd. 1, S. 29. Paris 1902: Vanier

Paul Verlaine als Wegbereiter des Symbolismus

In seinem 1886 erschienenen „Literarischen Manifest“ über den Symbolismus hebt Jean Moréas ausdrücklich die Bedeutung hervor, die Paul Verlaine für die Entstehung dieser literarischen Bewegung zukomme. Ihm gebühre, so Moréas, das Verdienst, die Dichtung von den Fesseln befreit zu haben, welche die Parnasse-Dichter um Théodore de Banville ihr auferlegt hätten [1].

Moréas‘ Charakterisierung des Symbolismus passt auch an­sonsten gut zu Ver­laines dichterischen Idealen – auch wenn dieser sich gegen eine Zuordnung sei­ner Lyrik zur symbolisti­schen Literatur wehrt [2]. So möchte Verlaine an die Stelle der parnassischen „impersonna­lité“ (Un-/Überpersönlichkeit) ausdrück­lich „l’impair“ (das Un­gerade) setzen, also die stets unvollkom­mene, dafür aber au­thentische Selbstausspra­che des lyrischen Subjekts [3].

Jean Moréas‘ Beschreibung der symbolistischen Lyrik

Analog dazu charakterisiert Moréas die symbolistische Lyrik als „Feindin“ der „Belehrung, des Deklamierens, des falschen Gefühls und der objektiven Beschreibung“ [4].

Zwar verzichte die symbolistische Kunst, so Moréas, nicht darauf, Natur und menschliches Handeln darzustellen. Dies geschehe jedoch nie um der äuße­ren Erschei­nungen selbst willen. Vielmehr gehe es stets darum, durch die Art der Darstellung die hinter diesen liegenden „ursprünglichen Ideen“ wahrnehmbar zu machen [5].

Umgekehrt betont Moréas jedoch auch, dass die Idee in der sym­bolistischen Kunst nie ohne die „prunkvollen Gewänder äußerer Analogien“ dargestellt werde. Anders als im platonischen Höh­lengleichnis geht es hier also nicht darum, die Idee an sich zum Vorschein zu bringen. Angestrebt wird viel­mehr, diese in eine „sinnlich wahrnehmbare Form“ zu kleiden. Die äußere Hülle trägt demzufolge, wie Moréas betont, ihren „Zweck nicht in sich selbst“, sondern dient lediglich dazu, die Idee erfahrbar zu ma­chen [6].

Symbolistische Elemente in Promenade sentimentale

Verlaines Gedicht Promenade sentimentale entspricht insofern dem symbolistischen Dichtungsideal, als es darin in der Tat nicht um „Belehrung“ oder „objektive Beschreibung“ geht. Ziel ist nicht die möglichst realitätsgetreue Skizzierung des Seewegs, an dem das lyrische Ich offenbar entlangschlendert. Vielmehr geht es darum, die Stimmung des nebelverhangenen Abends mit dichterischen Mitteln nachzubilden. Eben dies bringt auch der Titel des Gedichts zum Ausdruck: „Empfindsamer Spaziergang“ bedeutet eben, dass die Empfindungen des lyrischen Ichs und nicht die objektiven Geschehnisse im Vordergrund stehen.

Zu diesem Zweck werden die einzelnen Elemente, aus denen sich die Stimmung ergibt, zum einen über den Reim zu einem dichten Geflecht aus Assoziationen und gegenseitig aufeinander verweisenden Bildern verwoben. Zum anderen weisen aber auch die einzelnen Elemente stets über die Ebene der konkreten Bedeutung hinaus.

So verweist das Geschrei der Enten auf den stummen Verzweiflungsschrei des lyrischen Ichs. Die Dämmerung senkt sich nicht einfach nur auf den Teich, sondern deckt ihn wie ein Leichentuch zu. Und die Seerosen verschwinden nicht einfach nur in der Dunkelheit, sondern gehen in der Dämmerung unter wie kenternde Boote.

Das im Zentrum des Gedichts stehende „fantôme“ erhält so eine doppelte Bedeutung, die zugleich den symbolistischen Kern des Werkes ausmacht. Es kann einerseits, von außen betrachtet, als Bild für das lyrische Ich und seine Verzweiflung gesehen werden. Andererseits fasst die Metapher des Gespenstes aber auch die Flüchtigkeit der Erscheinungen und letztlich des gesamten Lebens schlüssig in sich zusammen, verweist also auf den tieferen Grund der Verzweiflung.

Musikvideo zu dem Gedicht mit Seerosen-Bildern von Claude Monet und Musik von Gabriel Fauré

Vertonung des Gedichts durch Charles Bordes (1863 – 1909); aus: Paysages tristes (Traurige Landschaften; 1886); Gesang: Philippe Jaroussky; Klavier: Jérôme Ducros

Nachweise

[1]    Jean Moréas:Le symbolisme. Un manifeste littéraire (1886). Mit deutscher Übersetzung, Editionsbericht und Literaturhinwei­sen veröffentlicht in der von Rudolf Brandmeyer zusammen­gestellten Quellensammlung der Universität Duisburg-Essen.

[2]    Vgl. Huret, Jules: Enquête sur l’evolution littéraire: [Gespräch mit] Paul Ver­laine, S. 65 – 71 (hier S. 68). Paris 1891: Bibliothèque-Char­pentier.

[3]    Paul Verlaine: Art poétique (1874); Erstveröffentlichung in Paris Moderne (1882); in einer Gedichtsammlung Verlaines zuerst in Jadis et naguère, (1884); hier zit. nach Oeuvres complètes, Bd. 1, S. 311 f. Paris 1902: Vanier; Vgl. den Post zu Verlaines Auseinandersetzung mit der Parnasse-Dichtung: Abkehr vom Olymp.

[4] – [6] Moréas, Le symbolisme, s.o.

English Version

The World Behind the Mist of Appearances

Paul Verlaine’s Poem Promenade sentimentale

In a literary manifesto published in 1886, Jean Moréas lists Paul Verlaine as one of the most important precursors of Symbolism. In fact, Verlaine’s poetry contains some Symbolist elements.

Sentimental Walk

The evening sent its last, shivering light,
and water lilies quivered in the breeze,
shining brightly among the reeds,
shining sadly over the silent pond.
I wandered through the labyrinth of willows,
orphaned in hopeless pain, lost in the mist
that rose from the pond, a ghost,
wailing as shrilly as the flock of ducks
that gathered in frantic clamor,
fluttering fearfully through the thicket
of willows and hopeless pain.
Engulfed by the gloomy ice of twilight,
I was wrapped in the shroud that fell
weightlessly on the reeds and the water lilies,
which, like the dying day,
sadly faded away over the silent pond.

Paul Verlaine: Promenade sentimentale from: Poèmes saturniens (1866). Oeuvres complètes, Vol. 1, p. 29. Paris 1902: Vanier

Paul Verlaine as a Precursor of Symbolism

In his „Literary Manifesto“ on Symbolism, published in 1886, Jean Moréas explicitly emphasises the importance of Paul Verlaine for the emergence of this literary movement. According to Moréas, Verlaine deserves credit for having freed poetry from the fetters imposed on it by the Parnasse poets around Théodore de Banville [1].

Moréas‘ characterisation of Symbolist literature also fits in with Verlaine’s poetic ideals in other respects – even if the latter refuses to classify his poetry as symbolist literature [2]. Thus, instead of the Parnassian „impersonnalité“ (impersonality), Verlaine explicitly advocates „l’impair“ (the odd/uneven), i.e. the always imperfect but authentic self-expression of the lyrical subject [3].

Jean Moréas‘ Description of Symbolist Poetry

Similarly, Moréas characterises Symbolist poetry as the „enemy“ of „instruction, declamation, false feeling and objective description“ [4].

This does not mean, as Moréas points out, that Symbolist literature refrains from depicting nature and human activities. However, this is never done for the sake of the external appearances themselves. Rather, it is always a matter of making the „original ideas“ behind them perceptible through the way they are presented [5].

Conversely, however, Moréas also underlines that these ideas are never expressed without the „splendid garments of external analogies“ in Symbolist art. Unlike in the Platonic allegory of the cave, the aim here is not to bring the idea itself to light. Rather, Symbolist poetry strives to clothe the idea in a „sensually perceptible form“. The outer shell, as Moréas emphasises, therefore does not have its „purpose in itself“, but merely serves to make the idea tangible [6].

Symbolist Elements in Promenade sentimentale

Verlaine’s poem Promenade sentimentale corresponds to the Symbolist ideal of poetry insofar as it is indeed not about „instruction“ or „objective description“. It does not seek to sketch as realistically as possible the pond path along which the lyrical I is apparently strolling. Rather, the aim is to reproduce the mood of the misty evening with poetic means. This is also expressed in the title of the poem: „Sentimental Walk“ means that the focus is on the sentiments of the lyrical I and not on objective reality.

To this end, the elements that create the mood are interwoven through the rhyme into a dense network of associations and images that mutually refer to each other. In addition, the individual elements always point beyond their concrete meaning.

Thus the cry of the ducks alludes to the silent cry of despair of the lyrical self. The night does not simply descend on the pond, but covers it like a shroud. And the water lilies do not just disappear into the darkness, but sink into the twilight like capsizing boats.

The „fantôme“ that is at the centre of the poem thus acquires a double meaning, which at the same time constitutes the Symbolist core of the verses. On the one hand, seen from the outside, it can be interpreted as an image for the lyrical I and his despair. On the other hand, the metaphor of the ghost also conclusively sums up the fleetingness of appearances and ultimately of life as a whole, thus pointing to the deeper reason for the despair.

Music video to the poem with water lily images by Claude Monet and music by Gabriel Fauré

Music Setting of the poem by Charles Bordes (1863 – 1909); from: Paysages tristes (Sad Landscapes; 1886); Vocal: Philippe Jaroussky; Piano: Jérôme Ducros

References

[1]    Jean Moréas:Le symbolisme. Un manifeste littéraire (1886); with edition report and bibliography by Rudolf Brandmeyer.

[2]    Cf. Huret, Jules: Enquête sur l’evolution littéraire: [Conversation with] Paul Verlaine, pp. 65 – 71 (here p. 68). Paris 1891: Bibliothèque-Charpentier.

[3]    Paul Verlaine: Art poétique (1874); first published in Paris Moderne (1882); in a poetry collection by Verlaine first in Jadis et naguère, (1884); here quoted after Oeuvres complètes, Vol. 1, p. 311 f. (here p. 311). Paris 1902: Vanier; cf. the post on Verlaine’s attitude to Parnasse poetry: Turning away from Olympus.

[4] – [6] Moréas, Le symbolisme, see above.

Bilder / Images: Lew Kamenew (1834 – 1886): Nebel. Der Rote Teich bei Moskau im Herbst / Mist. The Red Pond near Moscow in Autumn (1871); Moskau, Tretjakow-Galerie (Wikimedia commons); Claude Monet (1840 – 1926): Blühende Wasserlilien / Blooming Water lilies (1914/17); Wikimedia commons


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