Bruder Heinrich/1: Einzug des Predigers in die Stadt / Brother Henry/1: The Arrival of the PreacherBruder

Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels

Für den Empfang des Predigers, von dem Mechildis Theo erzählt hat, ist die Stadt festlich geschmückt worden. Dennoch landet der hohe Besucher beinahe im städtischen Schlamm.

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Montag, 28. März 1485, abends

Heute war der Prediger in der Stadt, von dem Mechildis gesprochen hat. Dieser Bruder Heinrich scheint wirklich eine Art Bestie zu sein. Bei seiner Rede musste ich unwillkürlich an den Lindwurm aus den Märchen denken, der den König und sein Reich nur verschont, wenn ihm jedes Jahr eine Jungfrau zum Fraß vorgeworfen wird.
Der Unterschied zum Märchen ist allerdings, dass es in dieser Stadt keinen Helden gibt, der sich mutig dem bösen Drachen entgegenstellt. Stattdessen treiben die Einwohner hier die Jungfrauen auch noch eilfertig in die Hände des Drachen.
Im Nachhinein wird mir fast übel, wenn ich daran denke, wie die halbe Stadt – darunter sämtliche Ratsherren und alle Geistlichen – diesem geistigen Giftmischer bis vor die Tore der Stadt entgegengezogen ist und ihn dort empfangen hat, als wäre er Kaiser und Papst in einem. Die Ratsherren trugen Fahnen mit den Wappen der Stadt und ihrer Familien vor sich her, die Geistlichen Kreuze. Sobald der unscheinbare Mönch aus seiner Kutsche ausstieg, streuten die Kinder der Ratsfamilien, die wie Miniaturausgaben ihrer Eltern herausgeputzt waren, Blüten von Löwenzahn und Buschwindröschen vor ihm aus.
Auch die Stadt selbst war – zumindest in den Bereichen, durch die man den Prediger zum Marktplatz geleiten wollte – reich mit Girlanden und Fähnchen geschmückt und vom Unrat befreit worden. Es war sogar eigens zur Ankunft des hohen Gastes ein Erlass herausgegeben worden, der es jedem bei Strafe untersagte, seinen Nachttopf von oben auf die Gasse zu entleeren. In der Tat wäre wohl all der Aufwand umsonst gewesen, wenn der allseits umschmeichelte Besucher sich unversehens als Kloake missbraucht gesehen hätte. Abgerundet wurde die Reinlichkeitsoffensive dadurch, dass die Wolkendecke just am Morgen des großen Tages aufbrach.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ereignete sich kurz nach dem Einzug des Predigers in die Stadt ein Zwischenfall mit höchst peinlichen Folgen. Bevor nämlich die Kutsche die Judengasse passieren konnte, musste das Tor zu dieser auf Geheiß Bruder Heinrichs geschlossen werden. Als sich dann jedoch herausstellte, dass die Latten des Tores gerade erneuert wurden und dieses daher mehrere Lücken aufwies, verlangte er kategorisch, einen anderen Weg einzuschlagen. Er gedenke keinesfalls, so erklärte er unwirsch, seine Seele durch den Blick auf die Peiniger Christi zu verunreinigen.
Die Forderung des Predigers war für die Ratsherren schon allein deshalb unangenehm, weil die Nebengassen keiner so gründlichen Reinigung unterzogen worden waren wie die Hauptstraße. Hinzu kam noch, dass der Umweg, der nun genommen werden musste, ausgerechnet am Schlachthaus vorbeiführte – in dessen Obergeschoss übrigens sinnigerweise das Stadtgericht tagt.
Von dort drangen nicht nur ein recht ungeistlicher Geruch nach Blut und abgehangenem Fleisch sowie das Geschrei der zur Schlachtbank geführten Tiere auf die Gasse. Es wurden auch gerade Schlachtabfälle in den hier vorbeiführenden Stadtgraben geschüttet. Dadurch war der morastige Untergrund von kleinen Rinnsalen durchzogen, in denen sich das von den Schubkarren der Schlachtergesellen herabtropfende Blut mit Teilen von Eingeweiden und Hautfetzen vermischte.
Die Gasse erwies sich als nahezu unpassierbar. Nur mit viel Geschiebe, Gezerre und den fluchenden Anfeuerungsrufen des Kutschers konnte verhindert werden, dass die Kutsche im Morast stecken blieb.
Auf dem Marktplatz war für Bruder Heinrich eine hölzerne Kanzel errichtet worden – direkt vor dem großen steinernen Marktkreuz, das dadurch wie ein überdimensionales Kruzifix über ihm prangte. Von dort sollte er zunächst eine kurze Begrüßungsansprache halten und dann zu seiner Unterkunft geleitet werden.
Schräg vor der Kanzel waren zu beiden Seiten Tribünen aufgestellt, auf denen die geistlichen Würdenträger und die Ratsherren Platz nahmen. Auch Albertus und sein Vater machten es sich dort bequem. Der größere Teil der Zuschauer, darunter auch wir Mönche, versammelte sich in dem freien Raum zwischen den Tribünen. Da aus der kurzen Ansprache eine zweistündige Bußpredigt wurde, wurde mir die Zeit dort ziemlich lang.
Wessen Haus sich unmittelbar am Marktplatz befand, der hatte die Fensterbretter mit Kissen ausstaffiert und als Logenplätze vermietet. Überhaupt versprach das Ereignis für die Händler ein gutes Geschäft zu werden. Die an die untere Vorderfront des Rathauses angebauten Verkaufsstände waren gut besucht, und durch die Menge drängten sich zahlreiche Verkäufer mit umgehängten Körben oder Bauchläden, in denen sie allerlei Leckereien feilboten.
Nach Mechildis hielt ich vergeblich Ausschau. Angesichts ihrer schmerzhaften Erinnerungen an Bruder Heinrich hätte es mich aber auch gewundert, sie hier zu sehen.
Als der Prediger aus der Kutsche trat, erkannte ich, dass er dieselbe Ordenstracht trug wie die Mönche des Klosters, in dem auch ich Aufnahme gefunden habe. Seither – und erst recht, nachdem ich seine Rede gehört habe – frage ich mich, wie es möglich ist, dass er und Bruder Eberhart demselben Orden angehören. Führt etwa das Ideal der inneren Reinheit, nach außen gewendet, zu Fanatismus, weil dann alles, was nicht dem eigenen Spiegelbild ähnelt, als „unrein“ abqualifiziert wird?
Verwandelt sich die Selbstreinigung, die innere Gottessuche, die Bruder Eberhart anstrebt, bei Bruder Heinrich in die fixe Idee, die Welt dadurch wieder in den Urzustand zurückzuversetzen, dass sie unerbittlich von allem gereinigt wird, das nicht den eigenen Idealen entspricht? Ist der fremde Prediger also so etwas wie der dunkle Zwillingsbruder des Priors, der in Raserei übergegangene Schmerz darüber, dass das Paradies verloren ist, dass Gott sich für immer in undurchdringliche Finsternis zurückgezogen hat, unsichtbar und unerreichbar für den trostsuchenden Blick der Sterblichen?

dieselbe Ordenstracht (…) wie die Mönche des Klosters: Gemeint sind die Dominikaner. Aus deren Reihen entstammen wichtige Vertreter der spätmittelalterlichen Mystik (u.a. Meister Eckhart). Andererseits wurde auch die Inquisition in einem solchen Maße von den Dominikanern geprägt, dass diese im Volksmund „Domini canes“ (Hunde des Herrn) genannt wurden. Auch Heinrich Institoris und Jakob Sprenger, die Autoren des Hexenhammers, waren Dominikaner.

English Version

Brother Henry/1: The Arrival of the Preacher

For the reception of the preacher Mechildis had spoken of, the town has been festively decorated. Nevertheless, the distinguished guest almost has to take a bath in the mud of the town.

Monday, March 28, 1485, in the evening

Today the preacher Mechildis had told me about was in town. This Brother Henry really seems to be some kind of beast. His speech made me think of the lindworm from the fairy tales, who only spares the king and his kingdom if a virgin is offered to him every year.
The difference to the fairy tale, however, is that there is no hero in this town who bravely stands up to the evil dragon. Instead, the inhabitants of this town seem to willingly drive the virgins into the claws of the dragon.
In retrospect, I almost feel sick when I recall how half the town – including all the councillors and clergymen – marched to meet this spiritual poisoner at the gates of the town and received him there as if he were emperor and pope at the same time. The councillors carried flags with the town’s and their families‘ coats of arms in front of them, the clergymen crosses. As soon as the inconspicuous monk got out of his carriage, the children of the councillors‘ families, dressed like miniature versions of their parents, scattered blossoms of dandelion and wood anemone in front of him.
The town itself – at least in the areas through which the preacher was to be escorted to the market square – had also been richly decorated with garlands and flags and cleared of rubbish. For the arrival of the distinguished guest, a decree had even been issued forbidding anyone to empty their chamber pot into the alley from above. Indeed, all the fuss would probably have been in vain if the flattered visitor had found himself abused as a manure pit. To round off the cleanliness offensive, the cloud cover opened up just on the morning of the big day.
Despite all precautions, an incident with highly embarrassing consequences occurred shortly after the preacher’s entry into the town. Before the carriage could pass the Jews‘ Alley, the gate to it had to be closed at Brother Henry’s request. However, when it turned out that the laths of the gate were just being renewed, so that there were several gaps in the gate, he categorically insisted on taking a different route. Under no circumstances would he be willing, he declared gruffly, to defile his soul by looking at Christ’s tormentors.
The preacher’s demand was quite embarrassing for the councillors. After all, the side streets had not been cleaned as thoroughly as the main street. In addition, the diversions that now had to be taken led past the slaughterhouse of all places – in the upper floor of which, by the way, the city court meets.
From there, a rather unspiritual smell of blood and hung meat and the screaming of the animals being led to the abattoir drifted through the alley. Moreover, slaughterhouse waste was being poured into the town ditch passing by there. As a result, the muddy ground was covered with small rivulets in which the blood dripping from the wheelbarrows of the butchers‘ assistants was mixed with bits of intestines and shreds of skin.
The alley proved to be almost impassable. Only with a lot of pushing and pulling and the cursing shouts of the coachman could the carriage be prevented from getting stuck in the mud.
On the marketplace, a wooden pulpit had been erected for Brother Henry – directly in front of the large market cross made of stone, which thus towered over him like an oversized crucifix. From there, he was supposed to briefly address the audience and then be led to his accommodation.
Diagonally in front of the pulpit, stands were set up on both sides, where the ecclesiastical dignitaries and the councillors took their seats. Albertus and his father also made themselves comfortable there. The greater part of the audience, including us monks, gathered in the open space between the stands. Since the short address turned into a two-hour penitential sermon, my feet soon ached from standing.
Those who lived directly on the market square had their windowsills decorated with cushions and rented them out as box seats. In general, the event promised good business for the traders. The stalls attached to the lower front of the town hall were well attended, and numerous vendors jostled through the crowd with baskets or hawker’s trays around their necks, offering all kinds of delicacies.
I looked for Mechildis, but I couldn’t spot her anywhere. Given her painful memories of Brother Henry, I would have been surprised to see her, though.
When the preacher stepped out of the carriage, I realised that he was wearing the same religious habit as the monks of „my“ monastery. Since then – and even more so after listening to his speech – I wonder how it is possible that he and Brother Eberhart belong to the same Order. Does the ideal of inner purity, turned outwards, lead to fanaticism – because in this case, everything that does not resemble one’s own mirror image is dismissed as „impure“?
Does the self-purification, the inner search for God, which Brother Eberhart strives for, transform in Brother Henry’s mind into the obsession of restoring the original state of the world by relentlessly cleansing it of everything that does not correspond to one’s own ideals? Is the foreign preacher, so to speak, something like the dark twin brother of the Prior, the pain transformed into fury at the fact that paradise is lost, that God has withdrawn forever into impenetrable darkness, invisible and inaccessible to the comfort-seeking gaze of us mortals?

the same religious habit as the monks of „my“ monastery:  refers to the Dominicans. From among them came important representatives of late medieval mysticism (including Meister Eckhart). On the other hand, the Inquisition was also influenced by the Dominicans to such an extent that they were popularly called „Domini canes“ (Dogs of the Lord). Heinrich Institoris and Jakob Sprenger, the authors of the Hammer of Witches, were also Dominicans.

Bilder / Images: Abbildung aus der Schedelschen Weltchronik (1493); Wikimedia commons /Illustration from Schedel’s World Chronicle (1493); Wikimedia Commons; Stahlkocher: Marktkreuz in Coefeld / Market cross in Coefeld, Wikimedia

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