Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Bei der Arbeit im Klostergarten macht sich Theo Gedanken über sein neues Leben. Wie soll er, als schattenloser Mensch aus einer anderen Zeit, sich darin bewegen?
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Mittwoch, 23. März 1485
Arbeit im Klostergarten. Ein feiner Regen umstäubt mich. Es fühlt sich an, als würde jemand auf meiner Haut singen. Die Tropfen tanzen auf meinem kahl rasierten Schädel, sammeln sich zwischen den Härchen auf meinen Händen, sickern durch die Poren meines Geistes und treffen dort auf uralte Bilder, mit denen sie sich zu einem Gesamteindruck des Augenblicks verbinden.
Diese Sanftmut der Erde, wenn sie nachgibt und meinen Fuß in sich aufnimmt! Und wie viel Leben doch in einer einzigen Erdscholle steckt! Würmer schlängeln sich durch sie hindurch, Käfer huschen durch winzige Löcher ins Innere der Scholle, Ameisen wittern mit ihren Fühlern dem Luftzug nach, der sie getroffen hat. Hier und da räkeln sich Raupen ihrer Wiedergeburt entgegen, und Märzfliegen umkreisen, angezogen von dem warmen Atem des Bodens, die von mir aufgewühlte Erde.
Ganze Schwärme von Sperlingen machen sich auf der Suche nach Nahrung über die von mir umgewendeten Schollen her und picken aufgeregt darin herum. Es lässt sich zwar nicht bestreiten, dass sie dabei auch Leben vernichten. Dies dient aber zugleich immer dem Erhalt von anderem Leben, so dass das Vernichtete letztlich nur in anderer Form weiterexistiert.
Vielleicht müsste das wahre Gotteslob eine bestimmte Form der Kontemplation sein, eine Andacht, die aus einer Art von einstimmendem Anschauen besteht. Ist das explizite Lob Gottes nicht sogar anmaßend – als würde ein kleines Würmchen dem großen Regenmeister großmütig eine gute Note erteilen?
Ich muss verrückt sein, dass ich mich in solchen philosophischen Überlegungen verliere! Letztlich fliehe ich damit doch nur wieder vor dem, was ich eigentlich tun müsste: mit der Suche nach Lina und Yvonne anfangen! Dabei könnte das schon morgen deutlich schwieriger werden. Dann nämlich wird die Rückkehr des Priors erwartet. Wie es dann um mein Schicksal hier bestellt sein wird, ist völlig ungewiss.
Aber wie und vor allem wen soll ich denn nach den beiden fragen? Hier im Kloster wird wohl kaum jemand etwas über sie wissen. Allenfalls könnte ich in dem Frauenkloster mein Glück versuchen, das es, wie Albertus mir erzählt hat, in der Stadt ebenfalls gibt.
Aber warum sollten meine beiden Mitstreiterinnen sich eigentlich wie ich in einem Kloster befinden? Sie könnten sich doch auch ganz woanders aufhalten! Und selbst wenn sie in dem Frauenkloster Aufnahme gefunden hätten: Wie soll ich als Mönch mit den Nonnen in Kontakt treten?
Erschwerend kommt hinzu, dass das Frauenkloster am anderen Ende der Stadt liegt. Dies erhöht die Gefahr, auf dem Weg dorthin als Schattenloser erkannt zu werden. Hier im Kloster habe ich damit keine Probleme. Hinter den dicken Mauern herrscht ein solches Dämmerlicht, dass die Schatten eher in die Personen hinein- als aus ihnen herauszufließen scheinen. Und wenn doch etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, hätte ich es hier ja auch nicht weit zu meiner Notfalluhr.
Insgesamt wäre die Gefahr, dass meine Schattenlosigkeit entdeckt wird, aber wohl auch außerhalb des Klosters nicht allzu groß. Da niemand mit so etwas rechnet, fällt die Schattenlosigkeit in der Regel nur bei einem Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Faktoren auf: dem Zusammensein vieler Menschen etwa, bei gleichzeitigem Vorhandensein heller Lichtquellen und einer Situation, in welcher der Schattenlose selbst im Mittelpunkt steht. Mittlerweile habe ich jedoch genug Übung darin, entsprechende Konstellationen schon im Vorfeld zu erkennen und gezielt zu vermeiden.
Ein Risiko könnten allenfalls die Predigten darstellen, welche die Mitglieder des Konvents hier reihum halten müssen. Fürs Erste habe ich zwar durchsetzen können, dass ich mich ganz der Arbeit im Kräuterbeet widmen darf – auch wenn Bruder Albertus ziemlich spöttisch reagiert hat, als ich ihm diesen Wunsch vorgetragen habe. Allerdings bietet der Klostergarten kaum genug Arbeit, um mich dauerhaft zu beschäftigen.
Nun, vielleicht erledigt sich dieses Problem ja ohnehin von selbst, wenn morgen der Prior zurückkommt. Gut möglich, dass er mich – schon allein deshalb, weil er bei meiner Aufnahme übergangen worden ist – ohne weitere Diskussionen des Klosters verweist. Und wie es dann weitergehen soll, ist mir momentan noch völlig schleierhaft.
Immerhin scheint ja bislang nicht nur Gott seine schützende Hand über mich zu halten. Eine andere machtvolle Hand ist für mich derzeit viel wertvoller – die von Bruder Albertus.
Irgendwie hat er einen Narren an mir gefressen. Seit ich hier bin, hat er mich geradezu mit Beweisen seiner Gunst überhäuft. Außer einem edelsteinbesetzten Rosenkranz hat er mir auch schon ein silbernes Kreuz geschenkt, das ich jetzt an einer Kette um den Hals trage. Mittlerweile ist er sogar dazu übergegangen, mich zu duzen.
Auch die Kammer, in der Bruder Albertus mich untergebracht hat, ist – so klein sie mir auch vorkommt – ein großes Privileg. Außer dem Prior ist Albertus der Einzige, der über eine eigene Kammer verfügt. Die anderen Mönche teilen sich eine gemeinsame Schlafstätte und schlafen auf einfachen Strohsäcken. Der einzige Luxus besteht darin, dass die Schlafplätze durch Holzbretter voneinander abgetrennt sind.
Wahrscheinlich wäre meine Ankunft in dieser fremden Zeit ganz anders verlaufen, wenn die Notfalluhr mich nicht gerade in Albertus‘ Kammer katapultiert hätte. Sein Vater ist ein reicher Kaufmann, der auch im Rat der Stadt eine wichtige Rolle spielt. Seinen Sohn hat er mit der Absicht ins Kloster geschickt, ihn als Nachfolger des jetzigen Priors aufzubauen. Erklärtes Ziel dieser Maßnahme ist es, die Politik des Klosters stärker mit den städtischen Interessen in Einklang zu bringen.
Bereits jetzt verfügt Bruder Albertus über Entscheidungsbefugnisse, die kein anderer Mönch sich anmaßen dürfte. Wäre ich nicht ausgerechnet an ihn geraten, hätte ich wahrscheinlich keine Chance gehabt, vorübergehend in dem Kloster aufgenommen zu werden.
Einstweilen ist Bruder Albertus damit betraut, die Chronik der Stadt fortzuführen – eine Aufgabe, die mit einigem Ansehen verbunden und auch der Grund dafür ist, dass er seinen Namen latinisiert hat. Auch sonst genießt er diverse Privilegien. So ist das, was er als „Almosen“ bezeichnet, in seinem Fall keine milde Gabe fremder Besucher, sondern eine regelmäßige Alimentierung durch seinen Vater, der ihn auch hinreichend mit Geldmitteln ausstattet.
Allen Gunstbeweisen zum Trotz ist mir die Gegenwart von Bruder Albertus irgendwie unangenehm. Ich glaube, das liegt an seinem teigigen, säuglingshaft wirkenden Gesicht, das auffallend mit seinem herrschaftlichen Auftreten kontrastiert. Zwar sind hier im Kloster natürlich ohnehin alle Mönche rasiert. Sein Gesicht macht auf mich aber den Eindruck, als hätte sich dort noch nie auch nur der Ansatz eines Bartes gezeigt. Hinzu kommt, dass sich seine Lippen wie bei einem Schmollmund nach vorne wölben.
Deshalb kann ich auch kaum sagen, wie alt er ist. Angesichts seiner Aufgaben und Befugnisse schätze ich ihn auf Mitte 30. Es kann jedoch gut sein, dass ich mich hier von den Maßstäben meiner Ex-Zeit leiten lasse und er in Wahrheit viel jünger ist.

English Version
Everyday Life in the Monastery: 2. Wordless Praise of God
While working in the monastery garden, Theo thinks about his new life. How should he, as a shadowless person from another time, move in it?
Wednesday, March 23, 1485
At work in the monastery garden. A light rain drizzles around me. It feels like someone is singing on my skin. The drops dance on my shaved skull, collect between the hairs on my hands, seep through the pores of my mind and merge there with age-old images to form an overall impression of the moment.
The gentleness of the earth when it gives way and takes my foot in! And how much life there is in a single clod of earth! Worms wriggle through it, beetles scurry through tiny holes into the interior of the clod, ants scent the spring-breeze with their trembling antennae.
Here and there caterpillars loll towards their rebirth, and newborn flies, attracted by the warm breath of the soil, buzz around the earth I have stirred up. Flocks of sparrows peck at the clods I have turned over. There is no denying that they also destroy life in their childlike frolic. At the same time, however, the birds‘ ballet contributes to the preservation of other life. What is destroyed ultimately only continues to exist in another form.
Perhaps true praise of God would have to be a certain form of contemplation, a devotion consisting of a kind of spiritual gaze attuned to creation. Isn’t the explicit praise of God even presumptuous – as if a little worm were magnanimously giving a good grade to the great Rain Master?
I must be crazy to lose myself in such philosophical musings! In this way I am only shirking what I should be tackling before anything else: starting the search for Lina and Yvonne! After all, that could become much more difficult as early as tomorrow – because then, the prior is expected to return. What this means for my fate here is completely uncertain.
But how and above all whom should I ask about the lost ladies? In this monastery, hardly anyone will know anything about them. At best, I could try my luck in the local nunnery Albertus told me about.
But why should the two of them actually share my fate and also be in a monastery? They might just as well be somewhere else! And even if they should have found shelter in the women’s convent: How am I, as a monk, supposed to get in touch with the nuns?
To make matters worse, the nunnery is at the other side of the town. This increases the danger of being recognised as a shadowless person on the way. In the place where I am now, this problem does not arise. In the constant twilight prevailing behind the thick walls the shadows seem to flow into the people rather than out of them. And if something unexpected should happen, I wouldn’t have far to go to get my emergency watch.
All in all, however, the danger of being exposed as shadowless would probably not be too great even outside the monastery. Since no one expects such a thing, shadowlessness is usually only noticed when several unfavourable factors coincide: the gathering of many people, for example, the simultaneous presence of bright light sources and a situation in which the shadowless person is the focus of attention. But by now, I have enough practice in recognising such constellations in advance and avoiding them.
At most, the sermons that the members of the convent have to deliver in turn could pose a risk. For the time being, I have obtained permission to devote myself entirely to the work in the herb garden – even though Brother Albertus reacted rather mockingly when I expressed this wish to him. However, the monastery garden hardly offers enough work to keep me busy permanently.
Well, maybe this problem will sort itself out anyway when the prior returns. It’s quite possible that he will expel me from the monastery without further discussion – if only because he was not asked before my admission to the monastery. And how things are supposed to go on then is still a mystery to me at the moment.
But so far it seems that not only God is holding his protective hand over me. Another powerful hand is much more valuable to me – that of Brother Albertus.
Somehow he has taken a fancy to me. Since my arrival here, he has virtually showered me with proofs of his favour. Besides a rosary set with precious stones, he procured a silver cross for me, which I now wear on a chain around my neck. In the meantime, he has even taken to calling me by my first name.
The chamber in which Brother Albertus has accommodated me is also – as small as it seems to me – a great privilege. Apart from the prior, Albertus is the only one who has his own chamber. The other monks share a common dormitory and sleep on simple straw sacks. The only luxury is that the sleeping places are separated from each other by wooden boards.
Probably my first steps in this foreign time would have been quite different if the emergency watch had not just catapulted me into Albertus‘ chamber. His father is a rich merchant who plays an important role in the town council. Therefore, he wants to bring the monastery’s policy more in line with the interests of the town. To this end, his son is to be built up as the successor of the current prior.
Consequently, Brother Albertus has decision-making powers that no other monk could arrogate to himself. If I hadn’t come across him of all people, I probably wouldn’t have had a chance to be temporarily admitted to the monastery.
For the time being, Brother Albertus is entrusted with continuing the town chronicle – a task that is associated with some prestige and is also the reason why he has Latinised his name. Apart from that, he enjoys various other privileges. For example, what he calls „alms“ is in his case not a mild gift from foreign visitors, but a regular alimentation by his father, thanks to whom he also never runs out of money.
Despite all the advantages I owe him, the presence of Brother Albertus somehow makes me feel uncomfortable. I think this is because of his pasty, infant-like face, which contrasts strikingly with his stately demeanour. Of course, all the monks in the monastery are shaved. But his face gives me the impression that there has never been even the hint of a beard. In addition, his lips are curved forward as if in a pout.
Therefore, I also find it difficult to estimate his age. Given his duties and powers, I estimate him to be in his mid-30s. However, it may well be that I am guided here by the standards of my ex-time and that he is actually much younger.
Bilder / Images: Passy Cadet: Blick auf einen Stiftsgarten am Fluss / View of an abbey garden by the river, 1831 (Wikimedia Commons); Unbekannter Maler: Der Heilige Franziskus und seine MItbrüder bei der Feldarbeit (18. Jahrhundert, Wikimedia commons). Das Bild zeigt die landwirtschaftliche Nutzfläche der Bruderschaft der Bernhardiner, die zwischen 1705 und 1832 im weißrussischen Pinsk eine Niederlassung hatten / Unknown painter: Saint Francis and his confreres working in the fields (18th century, Wikimedia commons). The picture shows the agricultural land of the Brotherhood of St. Bernard who had a branch in Pinsk, Belarus, between 1705 and 1832.