Ein dichterisches Silvesterfeuerwerk / Poetic Fireworks for the Turn of the Year
Mit einem Kommentar der Autorin / With a Commentary by the Author
Zum Jahreswechsel präsentieren wir auf LiteraturPlanet an drei Tagen drei Gedichte von Ilona Lay. Zum heutigen Anfang der kleinen Reihe gibt es zusätzlich einen Kommentar der Autorin.
Vorfreude auf das Neue oder Vertreibung der bösen Geister?
Warum gibt es an Silvester so viele rauschende Feste und Feuerwerke? Liegt es an dem euphorischen Hoffen auf eine bessere Zeit? An der enthusiastischen Zuversicht, dass im neuen Jahr die Probleme dahinschmelzen werden wie der Schnee im nächsten Frühling?
Oder ist der Grund doch eher die Vertreibung der bösen Geister? Der Geister des Verlustschmerzes, der Trauer über einen weiteren unwiederbringlich verlorenen Tropfen aus unserem begrenzten Lebenselixier?
Auf den Schwingen des Rausches
Auch ich habe an Silvester schon einige rauschende Feste gefeiert. Dabei ist irgendwann auch mein euphorischer Gesang der Mänaden entstanden, jener wilden Jüngerinnen des Dionysos, die im Gefolge des Wein- und Fruchtbarkeitsgottes unbezähmbare Kräfte entfalten.
Tatsächlich kennen wir alle ja diesen Überschwang des Rausches, der uns die Überzeugung vermittelt, alle Hindernisse mit einem Fingerschnippen beiseiteschieben zu können. Ein solches Gefühl kann uns in der Tat auf mächtigen Schwingen in das neue Jahr hineintragen – wenn wir auf der nächtlich-beschwingten Heimfahrt nicht gegen einen Baum rasen.
Der Zauberstab der Erinnerung
Ein wenig ist Silvester auch so eine „Halbleeres-halbvolles-Glas“-Geschichte. Wir können das Verlorene betrauern – uns aber auch auf die Vorfreude auf das konzentrieren, was uns noch bevorsteht.
Leider wird aber das Glas nun einmal immer leerer, je älter man wird. Der Anteil des Lebenselixiers, der noch zu trinken übrig bleibt, wird immer kleiner. Also drängt sich Jahr für Jahr mehr das Gefühl in den Vordergrund, das Glas schon fast geleert zu haben.
Das muss allerdings nicht notwendigerweise zur Folge haben, dass wir die bösen Geister die Oberhand gewinnen lassen und uns vom Schmerz über das Vergangene überwältigen lassen. Denn verloren ist das Vergangene ja nur dann, wenn wir es nicht mit dem Zauberstab unserer Erinnerung verewigen.
Die Dichtung: Von Dionysos beflügelt, von Apollon geleitet
So lässt sich Silvester auch als ein Fest der Besinnung begehen, der dankbaren Erinnerung an all die kleinen Feuerwerke, die uns das vergangene Jahr geschenkt hat. Daraus lässt sich letztlich auch eine Zuversicht gewinnen, die uns hoffnungsvoll in das neue Jahr hinüberwechseln lässt – in dem Sinne, dass es in unserem Leben immer wieder zeitlose Momente gibt, die sich dem scheinbar unabänderlichen Versickern der Zeit in der Sanduhr des Seins entziehen.
Dieser Gedanke schwingt auch in den beiden Gedichten mit, die heute und morgen den kleinen dichterischen Silvesterreigen eröffnen – ehe an Silvester selbst dann der ekstatische Gesang der Mänaden folgt.
Die Grundstimmung ist bei beiden Gedichten allerdings eher kontemplativ-melancholisch. Vielleicht ist die Dichtung eben doch weniger eine Tochter des rauschhaften Dionysos als ein Kind des Musengottes Apollon, der als gleichzeitiger Gott der Weissagung und der Heilkunst den Blick seiner Jüngerinnen stets eher nach innen lenkt, auf die durch stille Versenkung zu durchmessenden Abgründe des Seins.
Silvester
Sterbendes Jahr, vielleicht
der Schrei von einem erschöpften Drachen
Nüstern fauchen von Nächten schwer
die Zeit ein neugebor’nes Meer
und Helden die gläubig den Tag entfachen.
Sterbendes Jahr, vielleicht
der Schrei von Vögeln die frei entfliegen
Wiesen breiten ein Perlentuch
die Zeit ein aufgeschlag’nes Buch
und Möwen die lachend im Sturm sich wiegen.
Sterbendes Jahr, vielleicht
das Schweigen einer verirrten Flotte
Segel sinken auf schwarzer See
die Zeit ein angeschoss’nes Reh
und Raben vor einer verschloss’nen Grotte.
Sterbendes Jahr, vielleicht
das Schweigen flechtenbewachs’ner Mauern
Nebel breiten ein Leichentuch
die Zeit ein zugeschlag’nes Buch
und Geister die lautlos den Raum durchtrauern.
English Version
Poems by Ilona Lay on the Occasion of New Year’s Eve
With a Commentary by the Author
At the turn of the year, LiteraturPlanet will present three poems by Ilona Lay over three days – today, at the beginning of the small series, with a commentary by the author.
Joyful Anticipation of the New Year or Expulsion of Evil Spirits?
Why are there so many exuberant celebrations and fireworks on New Year’s Eve? Is it because of the euphoric hope for a better time – the enthusiastic confidence that in the new year the problems will melt away like the snow next spring?
Or is the reason rather the expulsion of evil spirits – the spirits of sorrow, of grief over another irretrievably lost drop of our limited elixir of life?
On the Wings of Ecstasy
I, too, have celebrated several lavish parties on New Year’s Eve. One of them inspired me to write my euphoric Prayer of the Maenads, i.e. of those wild ladies who, as disciples of Dionysus, the god of wine and fertility, unleash indomitable powers.
In fact, we all know this exuberance of inebriation, which gives us the conviction that we can push aside all obstacles with a snap of our fingers. Such a feeling can indeed carry us on mighty wings into the new year – if we don’t crash into a tree on our nightly, exhilarated drive home.
The Magic Wand of Memory
New Year’s Eve is also a bit of a „half-empty-half-full-glass“ story. We can bemoan what we have lost – but we can also focus on the joyful anticipation of what lies ahead.
Unfortunately, the older we get, the emptier the glass becomes. The portion of the elixir of life that is left to drink becomes smaller and smaller. So year after year, the feeling of having almost emptied the glass comes more to the fore.
However, this does not necessarily mean that we have to let the evil spirits gain the upper hand and let ourselves be overwhelmed by the regret over the days gone by. After all, the past is only lost if we do not immortalise it with the magic wand of our memory.
Poetry: Inspired by Dionysus, Guided by Apollo
Thus, New Year’s Eve can also be celebrated as a day of reflection, of grateful remembrance of all the little fireworks that the past year has bestowed upon us. This, too, can provide us with a sense of confidence that allows us to cross over optimistically into the new year – in the sense that there will always be timeless moments in our lives that elude the seemingly unalterable trickling away of time in the hourglass of life.
Such considerations also resonate in the two poems that open the little poetic New Year’s Eve series today and tomorrow – before the euphoric Prayer of the Maenads follows on New Year’s Eve itself.
The basic mood of both poems, however, is rather contemplative-melancholic. Ultimately, poetry is perhaps less a daughter of the ecstatic Dionysus than a child of Apollo, the god of the Muses. After all, since he is also the god of divination and the art of healing, Apollo always directs the gaze of his disciples inwards, to the abysses of existence that can best be fathomed through quiet contemplation.
New Year’s Eve
A dying year, perhaps
the cry of an exhausted dragon
nostrils hissing from weary nights
time smells like a newborn sea
and heroes faithfully ignite the day.
A dying year, perhaps
the cry of birds that freely fly away
meadows spreading a cloth of pearls
time looks like an open book
and seagulls sway laughing in the storm.
A dying year, perhaps
the silence of an errant fleet
sails sinking in a gloomy sea
time bleeds like a wounded deer
and ravens circle around a shuttered cave.
A dying year, perhaps
the silence of lichen-covered walls
fogs spreading a sallow shroud
time hurts like a missing book
and ghosts sing a soundless lament.
Bilder / Images:Ken Leqoc: Brücke / Bridge; Stefan Keller: Fantasy (Pixabay) ; Dorothe (DarkMoonArt): Brücke / Bridge (Pixabay)