aus dem Zyklus Gesichter des Todes / from the Cycle Faces of Death
Ab heute auf LiteraturPlanet: Texte aus dem zweiten Teil von Ilona Lays Zyklus Gesichter des Todes. Darin geht es um den eigenen Tod: um die Art und Weise, wie das Zulaufen auf den Tod – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – unser Leben prägt.
Der Tod ist eine Tigerin
Der Tod ist eine Tigerin, die dir im Unterholz folgt.
Jeden deiner Schritte verschlingt sie mit ihren Blicken,
bei jedem Stolpern setzt sie an zum Sprung.
Sie nährt sich von dir, wenn du dich ernährst.
Sie wuchert in dir, wenn nichts dich ernährt.
Was immer du isst, ist gewürzt von ihr.
Was immer du nicht isst, ist Nahrung für sie.
Die Frucht, die du pflückst, ist gewachsen in ihr.
Die Luft, die du atmest, ist Atem von ihr.
Sie wächst mit dem Feuer, an dem du dich wärmst.
Sie wildert in dir, wenn nichts dich erwärmt.
Ihr Hauch umströmt eisig die heißeste Glut.
Im eisigsten Wintersturm flackert ihr Blick.
Sie sprießt in den Spuren, die du hinterlässt.
Sie keimt in der Leere, die nichts von dir weiß.
Schattenhaft schleicht sie um all deine Wege,
aus allem umfängt dich ihr Spiegelgesicht,
immer umweht dich ihr Raubtiergeruch.
Und du weißt:
Lautlos wird ihr Schatten eines Tages
aus dem Unterholz sich um dich schlingen
und dich für immer in ihr Reich entführen.
Und du, das entlaufene Tigerkind,
wirst dich stumm in die dornigen Arme
der zärtlich Verzehrenden fügen.
English Version
Ilona Lay: Death is a Tigress
Starting today on LiteraturPlanet: texts from the second part of Ilona Lay’s cycle Faces of Death. This time it’s about our own death: about the way in which our journey into death – whether we are aware of it or not – shapes our lives.
Death is a Tigress
Death is a tigress following you in the undergrowth.
Every step you take she devours with her gaze.
Every time you stumble, she is ready to pounce on you.
She feeds on you when you enjoy your food.
She proliferates in you when you run out of food.
Whatever you eat is flavoured by her.
Whatever you don’t eat is food for her.
The fruit that you pick has grown in her.
The air that you breathe is breath from her.
She grows with the fire that keeps you warm.
She rages within you when nothing can warm you.
Her breath flows icily around the hottest embers.
In the iciest tempests, her gaze flickers around you.
She sprouts in the traces you leave behind.
She thrives in the void that knows nothing of you.
Shadowy, she creeps around your paths,
from everything her mirror face embraces you,
her predatory scent envelops you.
And you know:
Noiselessly, one day her shadow
will wrap itself around you from the undergrowth
and carry you off into her realm.
And you, the runaway tiger cub,
will fall silently into the thorny arms
of the tenderly devouring mother.
Bilder / Images: Gosse, Philip Henry (1810 – 1888): Illustration aus dem Buch The Romance of Natural History / Illustration from the book The Romance of Natural History (1860/61); Wikimedia Commons ; Franz Marc (1880 – 1916): Der Tiger / The Tiger (1912); München, Lenbachhaus (Wikimedia commons)
Manfred Sauer
Wow!- Was für ein Text!- Das Gedicht hat mich mit einer Wucht getroffen wie schon lange nichts Geschriebenes mehr. Das sind stimmige Bilder, das ist Atmosphäre, das ist tiefste Wahrheit über das Leben. Mein Kompliment an Ilona Lay. Warum hat diese Dichterin noch keinen Lyrik-Preis gewonnen?- Vielleicht, weil viele Literatur-„Kenner“ nicht „getroffen“ werden wollen. Sie wollen konsumieren, Lyrik als Bestätigung des eigenen Lebensgefühls und als Produkt des Lifestyles?????? – Lyrik, die mich nicht „antastet“, worüber sich beim Stehempfang fabulieren lässt? – Dem verweigert sich diese Lyrik!- Ich bin jedenfalls beeindruckt von dieser wahrhaft poetischen und „gnadenlosen“ Stimme.
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Eve
Thank you! YES, this is poetry!
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