Trümmerküsse / Rubble Kisses

Zusätzlich zu den äußeren Mauern gibt es unter einem Besatzungsregime auch innere Mauern, die aus den traumatischen Erfahrungen erwachsen. Sie machen es noch schwerer, einen Weg zurück ins Leben zu finden und sich für andere Menschen zu öffnen.

English Version

Es war natürlich reiner Zufall, dass ihr einander begegnet seid. Und doch hast du das Gefühl, dass das Schicksal euch beide an der Hand genommen hat, damit eure Wege sich kreuzen.

Beide habt ihr euch ziellos durch das Trümmermeer treiben lassen, als menschliches Treibgut in einer Totenstadt, in der sich die Häuser nur noch als ihre eigenen Grabsteine ineinander verkeilen, als verzerrte Erinnerungen, in denen Alptraum und Wirklichkeit nahtlos ineinander übergehen. Irgendwann haben die Wellen des Vergessens euch dann einander in die Arme gespült.

Und nun sitzt Nastja neben dir, auf einer Bank, die als Botin einer anderen, unendlich fernen Welt in diese Welt des Untergangs hineinragt, als absurdes Überbleibsel einer Zeit, in der es noch Spaziergänge gab und Mußestunden. Du spürst ihre Nähe, ihren warmen Körper, der wie ein unausgesprochenes Trostversprechen neben dir pulsiert, dieses atmende  Leben, das sich ganz selbstverständlich mit der Welt vermählt. Wie gerne würdest du diese Brücke zurück ins Leben betreten!

Aber irgendetwas hemmt deine Bewegungen. Es ist, als als hättest du dich verbrannt und würdest jedes Staubkorn wie einen glühenden Dorn auf deiner Haut fühlen.

Das war schon so, als ihr nebeneinander durch das Trümmermeer getrieben seid. Jedes Wort, das ihr selbst ausgesprochen habt, war wie ein Gluttropfen, der brennend in eurem Mund zerplatzte. Und die Worte des anderen trafen euch wie ein Funkenregen.

Da habt ihr angefangen, mit Worten zu schweigen, die Worte durch euch hindurchfließen zu lassen wie Schiffe, die für ein paar Minuten einen Hafen anlaufen und dann gleich wieder in See stechen. Von dem neuen Verkaufsstand hörtet ihr euch reden, wo es angeblich Zucker zu kaufen geben soll, von der Fristverlängerung für die Beantragung der neuen Pässe und dem Busverkehr zur Grenze, der nun ganz zum Erliegen gekommen ist.

Wie blinde Tauben verirrten sich die Gerüchte in euer Gespräch. Aber gerade dieses beredte Schweigen brachte euch einander nahe, wie Menschen, die in der Fremde ein Klagelied aus der Heimat hören.

Du möchtest Nastja umarmen, aber im selben Augenblick durchzuckt dich ein brennender Schmerz; ein Schmerz, der sich rasch zu einem einzigen großen Feuersturm ausweitet und sich in deinem ganzen Körper ausbreitet. Reflexartig schließt du die Augen.

Du siehst dich durch ein Haus gehen, auf der Suche nach etwas, an das du dich nicht mehr erinnerst. Da erzittert auf einmal die Luft. Ein gewaltiger Knall fährt mitten durch dich hindurch, die Schallwelle wirft dich zu Boden. Dein rechter Arm – so scheint es dir – ist durch den Knall in Flammen aufgegangen.

Du möchtest das Feuer ersticken, aber du kannst dich nicht bewegen. Der Flammenschmerz wird stärker, er setzt deinen ganzen Körper in Brand. Du hörst dich schreien, aber der Schrei erstirbt in deiner Kehle. Einen Moment darauf ist alles schwarz um dich her.

Als du wieder zu dir kommst, liegst du in einem Lazarett. Tröpfchenweise sickert die Erinnerung zurück in dein Gedächtnis, nur ganz langsam tauchst du wieder ein in die Szenerie, die deine Vergangenheit von deiner Zukunft abgetrennt hat. Im selben Augenblick schießt auch der brennende Schmerz wieder in deinen Arm ein. Du tastest nach ihm, aber du greifst ins Leere – dein rechter Arm ist nicht mehr da.

Es kostet dich Mühe, deine Augen wieder zu öffnen.  Es ist, als wäre die Welt von einem Vorhang aus Blei verdeckt, den du selbst unter Aufbietung all deiner Kräfte nicht anheben kannst.

Blinzelnd blickst du in deine in Trümmern liegende Welt – und versinkst in dem Abgrund von Nastjas halb geöffneten Augen. Du möchtest dich darin verkriechen wie ein verwundetes Tier – aber aus der Tiefe ihres Abgrunds dringen dieselben Schreie an dein Ohr, die dich auch aus dir selbst vertreiben. So berühren sich eure Lippen nur ganz flüchtig, wie Menschen, deren Körper sich in einer Fußgängerzone im Vorübergehen streifen.

Regungslos bleibt ihr nebeneinander sitzen, ganz nahe beieinander und doch unendlich weit voneinander entfernt. Eingeschlossen in die Mauern eurer Trauer, bleibt euch der Weg in ein anderes Leben versperrt.

English Version

Rubble Kisses

In an occupation regime, people do not only suffer from the outer walls. There are also inner walls resulting from traumatic experiences. This makes it even more difficult to find a way back into life and to open up to other people.

It was, of course, pure chance that you met each other. And yet you have the feeling that fate has taken you both by the hand to make your paths cross.

Both of you have drifted aimlessly through the sea of debris, as human flotsam in a city of the dead, where the houses only loom as their own tombstones, as distorted memories in which nightmare and reality merge seamlessly. At some point, the waves of oblivion just swept you into each other’s arms.

And now Nastya is sitting next to you, on a bench that protrudes into this world of doom as a messenger of another, infinitely distant world, as an absurd remnant of a time when there were still promenades and hours of leisure. You feel her closeness, her warm body pulsating next to you like an unspoken promise of consolation, this breathing life that intertwines itself with the world quite naturally. How you would love to step onto this bridge back into life!

But something inhibits your movements. It is as if you had been burnt and felt every speck of dust like a glowing thorn on your skin.

That was already the case when you were drifting side by side through the sea of rubble. Every word you spoke was like a drop of ember that burst into flames in your mouths. And the words of the other hit you like a shower of sparks.

So you began to speak without saying anything, to let the words flow through you like ships that call at a harbour for a few minutes and then immediately set sail again. You heard yourselves talking about the new stall where sugar was supposed to be available, about the documents to be submitted for the new passports and about the bus transport to the border, which has now come to a complete standstill.

Like blind doves, rumours strayed into your conversation. But it was precisely this eloquent silence that made you feel close to each other, like people who hear a dirge from home in a foreign country.

You want to embrace Nastya, but at the same moment a burning pain sears through you; a pain that quickly expands into one great firestorm and spreads throughout your entire body. Reflexively, you close your eyes.

You see yourself walking through a house, looking for something you no longer remember. Suddenly the air trembles. A tremendous bang goes right through you, the sound wave throws you to the ground. It seems to you that your right arm has burst into flames.

You want to smother the fire, but you cannot move. The burning pain is getting stronger, it sets your whole body on fire. You hear yourself scream, but the scream stifles in your throat. A moment later, everything around you turns black.

When you regain consciousness, you are lying in a field hospital. The memory seeps back into your mind drop by drop, only very slowly do you dive back into the scenery that has separated your past from your future. At the same moment, the burning pain sears through your arm again. You feel for it, but you reach into the void – your right arm is no longer there.

It costs you a great deal of effort to open your eyes again. It feels as if the world were covered by a curtain of lead that you cannot lift, no matter how hard you try.

Blinking, you look into your shattered world – and sink into the abyss of Nastya’s half-open eyes. You want to crawl into them like a wounded animal – but from the depths of her abyss the same cries reach your ear that drive you out of yourself. So your lips touch only fleetingly, like people whose bodies brush against each other in a pedestrian zone.

Motionless, you remain sitting on the bench, close to each other and yet infinitely far apart. Locked within the walls of your grief, the path to another life remains blocked for you.

Bilder / Images: Mona El Falaky: Kopf einer Engelsskulptur / Head of an angel sculpture (Pixabay; im Original farbig / coloured in the original); Rainhard Wiesinger: Engelsstatue / Statue of an angel (Pixabay; detail)

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