Der Tsunami-Feind

Wer sich gegen einen Gewalttäter nicht gewaltsam verteidigt, läuft Gefahr, einer Gewaltherrschaft den Weg zu ebnen. Aber auch wer auf Gewalt mit Gewalt antwortet, wird von der Logik der Gewalt infiziert.

English Version

Kein Zweifel: Der Mann, der dort hinten durch die Ruinenstraße stolziert, ist dein Feind.

Er trägt keine Uniform, aber du kennst ihn. Du weißt, dass er zu  jenen gehört, die deine Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt haben, die das Wenige geplündert haben, dass sie nicht zerstört haben, die deine Brüder getötet und deine Schwestern vergewaltigt haben.

Während du im Schutz eines Geröllhaufens auf den Feind anlegst, geht dir ein Satz durch den Kopf, den du in letzter Zeit immer wieder gehört hast: „Der Feind ist über uns hereingebrochen wie eine Naturkatastrophe.“

Du empfindest es genauso, obwohl du weißt, dass der Vergleich nicht haltbar ist. Eine Naturkatastrophe ist ein einmaliges Ereignis, ein eruptiver Ausbruch von Naturgewalt, der meist sehr schnell vorübergeht, auch wenn die Folgen noch monate- oder sogar jahrelang zu spüren sind. Die Gewalt einer Naturkatastrophe ist außerdem nie zielgerichtet. Sie vernichtet wahllos alles und alle, auf die sie trifft.

Wenn man den Gewalt-Tsunami, mit dem der Feind euch überflutet, als Naturgewalt betrachten wollte, so wäre es folglich so, als hätte man einer Naturkatastrophe ein Bewusstsein gegeben. Als würde man ihre Zerstörungswut auf ein Ziel ausrichten. Als würde man der Natur die Möglichkeit geben, Lust an ihrer Auslöschungsmacht zu empfinden.

Aber all das sind letztlich müßige Phantastereien. Nichts davon wird, findest du, der Planmäßigkeit gerecht, mit welcher der Feind das Leben in seinem Nachbarland – deinem Land! – auslöscht.

Langsam nähert sich der Feind deinem Schussfeld. Vorsichtig entsicherst du deine Waffe. Nur noch ein paar Schritte, dann wird er ein Opfer eben jener Gewalt werden, die er selbst entfacht hat.

Auch das, denkst du, ist ein wichtiger Unterschied zu einer echten Naturkatastrophe. Ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben, ein Tsunami mögen verheerende Folgen haben – aber ihre Gewalt ist doch nicht ansteckend. Sie lösen im Gegenteil ein Bedürfnis nach Nähe und Zusammenrücken aus, nach Hilfsbereitschaft und Solidarität, nach gemeinsamem Trauern und Wiederaufbauen. Der Gewalt-Tsunami dieses Überfalls dagegen ist wie ein Virus, das alle infiziert, die mit ihm in Berührung kommen.

Waffen hast du früher nur aus den Fernsehkrimis gekannt. Nie hättest du gedacht, dass du mal selbst mit einer in einem Hinterhalt sitzen und einem anderen Menschen auflauern würdest. Dass du wirklich und wahrhaftig ein anderes Leben auslöschen würdest. Dass du einen anderen Menschen nur noch als Zielscheibe betrachten würdest, die zu treffen dir eine ähnliche Befriedigung verleiht wie das Umwerfen eines Dosenhaufens auf einem Jahrmarkt.

Jetzt ist die Schussposition ideal. Dein Finger krümmt sich am Abzug, er zittert leicht, aber der Gewehrlauf ruht fest auf dem Steinbrocken vor dir. Nun musst du nur noch abdrücken. Warum tust du es nicht? Was hindert dich daran?

Hast du etwa Angst, einen Unschuldigen zu treffen? Einen, der vielleicht selbst gewaltsam mitgerissen worden ist von dem kriegerischen Tsunami, ohne zu wissen, was ihm geschah, ohne innere Überzeugung, vielleicht sogar mit einem heimlichen Entsetzen angesichts der Zerstörungsgewalt, zu deren Verbreitung er selbst beiträgt?

Aber müsste jemand, der so empfindet, sich nicht einfach aus der Umarmung des Tsunamis lösen? Müsste er nicht auf der Stelle aufhören, dessen Dynamik mit in Gang zu halten, selbst auf die Gefahr hin, dann selbst von dem Tsunami zermalmt zu werden?

Außerdem: Was bleibt dir anderes übrig, als jeden Tropfen des alles fremde Leben auslöschenden Tsunamis zu versengen? Jeder einzelne Tropfen ist eine Gefahr für dich, für alle und alles, was dir lieb und teuer ist. Wenn du den Tsunami nicht bekämpfst, wird er all das unter sich begraben. Die Wahl ist so einfach wie brutal: Er oder ihr, das eine Leben oder das andere, der Sieg der einen Gewalt oder der anderen.

Der Feind ist fast schon wieder aus deinem Schussfeld verschwunden. Du richtest deine Waffe neu aus, drückst aber noch immer nicht ab. Woher kommt nur diese plötzliche Hemmung?

Vielleicht ist es das Bewusstsein, dass der Feind auch dann gewinnen wird, wenn er nicht siegen sollte. Dass er all jene, die der von ihm entfesselte Tsunami berührt hat, mit dem Virus des Misstrauens, des Hasses und der Gewaltbereitschaft infiziert hat. Dass jeder Schuss, den du auf ihn abgibst, den Tsunami nährt. Dass selbst eine vollständige Befreiung vom Feind dir deine Freiheit nicht zurückgeben wird.

Langsam schlendert der Feind um die Ecke. Vielleicht denkt er gerade an den nächsten Heimaturlaub, daran, wie er seine Frau und seine Kinder in die blutbefleckten Arme schließen wird. Der Atem des Todes hat ihn gestreift, ohne dass er es je erfahren wird.

Du sicherst dein Gewehr und legst es neben dir auf den Boden. Hast du versagt? Was, wenn der Feind gerade jetzt, nachdem er um die Ecke gebogen ist, ein anderes Leben auslöscht? Aber hätte der Schuss auf ihn nicht ebenfalls eine neue Gewaltwelle ausgelöst?

Du lehnst dich gegen einen Geröllhaufen und schließt die Augen. Du musst an deine Oma denken, an die Sonntage in der Kirche, diesen stundenlangen monotonen Singsang, die dunkle Beschwörung des Unerreichbaren, Unfassbaren. Wie schön wäre es doch, wenn diese Gesänge nicht in der Kirchennacht verhallen, sondern irgendwo auf eine sonnenhelle Macht treffen würden, die mit ihrem Zauberstab die Weltenwaage wieder ins Gleichgewicht bringen könnte!

English Version

The Tsunami Enemy

Those who do not defend themselves violently against a perpetrator of violence run the risk of paving the way for a reign of violence. But even those who respond to violence with violence become infected by the logic of violence.

There’s no doubt about it: the man strutting through the street of ruins back there is your enemy.

He doesn’t wear a uniform, but you know him. You know that he is one of those who have turned your town into a field of rubble, who have looted the small rest they did not destroy, who have killed your brothers and raped your sisters.

As you lie in wait for the enemy in the shelter of a pile of rubble, a phrase that you have heard over and over again lately runs through your mind: „The enemy has swept over us like a natural disaster.“

You feel the same way, although you know that the comparison is not tenable. A natural disaster is a one-time event, an eruptive outburst of natural force that usually goes by very quickly, even if the consequences are felt for months or years to come. Moreover, the violence of a natural disaster is never targeted. It indiscriminately destroys everyone and everything that comes in its way.

Consequently, if the tsunami of violence with which the enemy inundates your country were to be regarded as a force of nature, it would be as if a natural disaster had been given a consciousness. As if its destructive fury were directed towards a goal. As if nature were given the opportunity to enjoy its power of annihilation.

But all this is ultimately idle speculation. In your eyes, none of this does justice to the planned course of action by which the enemy extinguishes life in his neighbouring country – your country!

As the enemy approaches your field of fire, you carefully point your weapon at him. Only a few steps more and he will become a victim of the very violence he has unleashed.

That, too, you think, is an important difference to a real natural disaster. A volcanic eruption, an earthquake or a tsunami may have devastating consequences – but their violence is not contagious. On the contrary, they trigger a need for moving closer together, for helpfulness and solidarity, for joint mourning and rebuilding. The tsunami of violence unleashed by this assault, by contrast, is like a virus that infects all those who come into contact with it.

Weapons are something you used to know only from TV crime series. You never thought that one day you would sit in an ambush with a gun yourself, ready to kill another person. That you would really and truly wipe out another life. That you would see another human being only as a target, which to hit would give you a satisfaction similar to that of knocking over a pile of cans at a fair.

Now the shooting position is perfect. Your finger curls on the trigger, it trembles slightly, but the barrel rests firmly on the boulder in front of you. All you have to do is pull the trigger. So why don’t you do it? What is preventing you from shooting?

Are you perhaps afraid of hitting an innocent person? One who has possibly himself been violently swept along by the tsunami of war, without realising what was happening to him, without inner conviction, maybe even with a secret horror of the violence that he himself is helping to spread?

But shouldn’t someone who feels this way simply detach himself from the tsunami’s embrace? Shouldn’t he immediately stop helping to keep its momentum going, even at the risk of being crushed by the tsunami himself?

Besides, what else can you do but scorch every drop of this tsunami that is drowning all life around you? Every single drop is a danger to you, to everyone and everything that matters to you. If you do not fight the tsunami, it will bury all that you hold dear. The choice is as simple as it is brutal: one life or the other, the victory of one force or the other.

The enemy has almost disappeared from your field of fire. You readjust your weapon, but still don’t pull the trigger. Where does this sudden inhibition come from?

Perhaps it is the awareness that the enemy will win even if he is not victorious. That he has infected all those brushed by the tsunami he has unleashed with the virus of mistrust, hatred and the propensity to violence. That every shot you fire at him feeds the tsunami. That even a complete liberation from the enemy will not give you back your freedom.

Slowly, the enemy saunters around the corner. Perhaps he is thinking of the next home leave, of how he will embrace his wife and children in his blood-stained arms. The breath of death has touched him without him realising it.

You secure your rifle and place it on the ground beside you. Have you failed? What if the enemy were to snuff out another life right now, after turning the corner? But wouldn’t shooting him down also have triggered a new wave of violence?

You lean against a pile of rubble and close your eyes. Your grandmother comes to your mind, the Sundays in church, those hours of monotonous chanting, the dark evocation of the unattainable, incomprehensible. How wonderful it would be if these chants did not fade into the church night, but somewhere happened upon a bright power that could bring the world’s scales back into balance with its magic wand!

Bilder / Images: Arnold Böcklin (1827 – 1901): Die Pest / The Plague (1898); Kunstmuseum Basel (Wikimedia Commons); Iwan Aiwasowski / Ivan Aivazovsky (1817 – 1900): Die Sintflut / Deluge (1864); Wikimedia Commons

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