Dunkle Mächte / Dark Powers

Mord im Reichstag, Kapitel 3 / Murder in the German Parliament, Chapter 3

Aus einem Labyrinth seltsamer Träume erwachend, wird Lidia Afanasjewna von ihrem Mann auf einen Fernsehbericht über den von ihr gefundenen toten Politiker aufmerksam gemacht. Daran kommt ihr einiges merkwürdig vor.

English Version

Deutschland sucht die Super-Putzfrau

Grelles Licht kitzelte Lidia Afanasjewna an ihren Lidern. Sie befand sich in einem Fernsehstudio, als Teilnehmerin einer Reality-Show, in der Deutschlands Top-Reinigungskraft gesucht wurde. Alle Kandidatinnen mussten einen Gang putzen, der nach oben hin offen war. So konnten die Zuschauer per Televoting darüber abstimmen, welche Bewerberin ihre Arbeit am besten ausführte.
Gerade saß sie für das übliche Vorgeplänkel dem Moderator der Sendung gegenüber. „Und Sie kommen also aus Russland?“ wollte der smarte Fernsehmann wissen.
Lidia Afanasjewna hasste derartige Fragen. Als könnte sie in zwei Sätzen ihr Verhältnis zu ihrer alten Heimat umreißen – noch dazu vor Publikum! So beschloss sie, den Traum – denn um einen solchen musste es sich ja wohl handeln – an diesem Punkt zu verlassen.
Angestrengt suchte nach dem Ausgang aus dem Traum. Was war ihr noch gleich widerfahren, bevor sie sich schlafen gelegt hatte? Richtig, sie war früher als sonst nach Hause gekommen, Igor hatte noch – oder schon? – am Frühstückstisch gesessen.
„Schon Feierabend?“ hatte er sie gefragt, als sie die unterwegs besorgten Brötchen auf den Küchentisch legte. „Iss was passiert?“
„Ja, stell dir vor, es hat einen Toten gegeben!“ Sie war zu erschöpft gewesen, um ihm die ganze Geschichte zu erzählen.
Igor hatte sie ungläubig angesehen: „Einen Toten? Und was hast du damit zu tun?“
„Na, ich habe ihn gefunden.“
„Du hast ihn gefunden? Und wo soll das gewesen sein?“
„Auf dem Klo, wenn du’s genau wissen willst.“
Daraufhin war ein kurzes Schweigen eingetreten. Igor hatte ihr zugesehen, wie sie ein Brotmesser aus dem Küchenschrank nahm, um die Brötchen durchzuschneiden. Dann hatte er kurz aufgelacht und trocken angemerkt: „Also weißt du, manchmal frage ich mich, wer von uns beiden jeden Abend sein Wodkachen trinkt …“
Dunkel erinnerte sich Lidia Afanasjewna noch daran, dass sie zwei Brötchen durchgeschnitten und sich anschließend auf die Eckbank hatte fallen lassen. Erst dort hatte sie bemerkt, wie müde sie war. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich mit einem ausgiebigen Frühstück für die frühmorgendliche Aufregung zu entschädigen. Aber jetzt war es ihr doch verlockender erschienen, sich noch einmal hinzulegen.

Im Scheinwerferlicht der Außerirdischen

Beruhigt drehte Lidia Afanasjewna sich auf die andere Seite: So war das also gewesen. Sie hatte sich ein Vormittagsnickerchen genehmigt, inzwischen war es Mittag, die Wolkendecke war aufgerissen, und nun schien die Sonne ins Zimmer herein.
Sie stutzte. Die Sonne? Aber das war doch gar nicht möglich! Das Schlafzimmerfenster war nach Westen ausgerichtet, im Winter bekam man sie hier doch gar nicht zu sehen.
Lidia Afanasjewna warf sich wieder auf den Rücken. Als sie blinzelnd die Augen öffnete, hatte sie eher den Eindruck, in eine sehr helle Lampe zu blicken, fast wie auf einem Operationstisch.
War sie etwa nach ihrem grausigen Fund im Reichstag zusammengebrochen? Hatte man sie in ein Krankenhaus gebracht? Aber wenn jemand einen Schock hatte, musste er doch nicht operiert werden! Befand sie sich vielleicht eher in einer Zahnklinik? Sollte ihr der Zahn gezogen werden, der ihr schon so lange Probleme bereitete? Und erinnerte sie sich unter dem Einfluss der Narkose womöglich an Dinge, die in Wahrheit schon viel länger zurücklagen?
Lidia Afanasjewna nahm alle Kraft zusammen und bemühte sich – dem Betäubungsmittel zum Trotz, das man ihr offensichtlich gespritzt hatte – an der Lampe vorbei in das Gesicht des Operateurs zu blicken. Dort, wo dessen Kopf hätte sein sollen, sah sie jedoch nur ein schwarzes Loch, aus dessen Innerem ihr zwei glühende Sternenhaufen entgegenleuchteten.
Die Außerirdischen! schoss es ihr durch den Kopf. Also hatte sie mit ihren Vermutungen doch richtig gelegen …
„Verdammt noch mal, Lidia, jetzt wach doch endlich auf!“
Seltsam, dachte Lidia Afanasjewna: Woher die Außerirdischen wohl ihren Namen kannten? Und warum packten sie sie mit solcher Gewalt an den Schultern? Wahrscheinlich schüttelten sie gerade ihr Gehirn aus dem Schädel, um es genauer untersuchen zu können. Da sie dann das Gesehene nicht mehr würde deuten können, beschloss sie, die Augen ganz weit aufzureißen – immerhin würde sie so vor ihrem Tod noch einmal einen echten Außerirdischen zu Gesicht bekommen.
Schemenhaft zeichnete sich im Gegenlicht eine Gestalt ab. Wie eine Weltraumreisende, die auf einem fremden Planeten gestrandet ist, blickte Lidia Afanasjewna in das hagere Gesicht eines Mannes, dessen Haupt vom Heiligenkranz des Alters gekrönt war. Es war Igor. „Na endlich!“ rief er aus. „Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf. Komm schnell – im Fernsehen berichten sie gerade über deinen Toten!“
Lidia Afanasjewna sah ihn verständnislos an: „Meinen Toten?“ Ihr Geist weilte noch immer in einer anderen Galaxie. Als sie begriff, wovon Igor redete, war dieser schon wieder verschwunden, als wäre er selbst nur ein Komet, der kurz die Umlaufbahn ihres Planeten gestreift hatte. Schlaftrunken folgte sie ihm ins Wohnzimmer.

Ungereimtheiten

Bedauernde Worte dröhnten ihr aus dem Fernseher entgegen: „… leitet eine Polarströmung weiterhin kalte Luftmassen nach Deutschland. In den nächsten Tagen bleiben uns die frostigen Temperaturen daher erhalten …“
„Jetzt hast du den Bericht verpasst!“ nörgelte Igor. Er hatte sich mit zerschlissener Jogging-Hose und T-Shirt auf das Sofa gelümmelt, die Hausschlappen hingen lose an seinen bloßen Füßen.
Lidia Afanasjewna seufzte. Wenn sie daran dachte, dass sie diesen nahen Verwandten des Affen einmal attraktiv gefunden und sogar zwei Kinder mit ihm gezeugt hatte …
„Ich habe dir doch schon hundert Mal gesagt, dass die Sendezeiten heutzutage keinerlei Bedeutung mehr haben!“ meckerte sie zurück. „Bestimmt ist der Bericht längst im Internet abrufbar – garniert mit allerlei Kommentaren und Zusatzinformationen.“
Igor brummte etwas Unverständliches und sah dann zu, wie seine Frau den Computer hochfuhr. Ein paar Klicks, und der Bericht ploppte auf dem Monitor auf. Mit der Eleganz einer Riesenechse wälzte sich Igor von seinem Lümmelplatz und bezog hinter seiner Frau Position.
In getragenem Ton verkündete eines der üblichen Nachrichten-Models: „Der langjährige Bundestagsabgeordnete Richard Groß ist heute Morgen tot in seinem Berliner Büro aufgefunden worden. Laut Angaben der Pressestelle des Bundestags ist er an plötzlichem Herzversagen gestorben. Groß war in diversen Ausschüssen aktiv, zuletzt hat er den Verteidigungsausschuss geleitet. Darüber hinaus …“
„Nun sag schon“, bedrängte Igor sie. „Ist das der Mann, von dem du erzählt hast?“
Lidia Afanasjewna starrte auf das Porträt des Toten, das während der Berichterstattung am oberen Bildrand eingeblendet wurde. „Ich denke schon …“, murmelte sie.
„Was soll das heißen: Du denkst schon?“ ereiferte sich Igor. „Entweder er war es, oder er war es nicht – das ist doch ganz einfach!“
Lidia Afanasjewna klickte den Bericht weg und rief einen Videoclip auf, in dem der Abgeordnete zu sehen war.
„Und?“ drängelte Igor weiter. „Bist du dir jetzt sicher?“
„Ich weiß nicht …“, zögerte Lidia Afanasjewna. „Der Tote hat irgendwie anders ausgesehen … Außerdem habe ich dir doch gesagt, dass ich ihn auf dem Klo gefunden habe – in seinem Büro war ich ja gar nicht!“
Igor machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wahrscheinlich hast du mal wieder geträumt. Warum sollte man die Leiche denn an einen anderen Ort bringen?“
Lidia Afanasjewna drehte sich zu Igor um: „Möchtest du gerne tot auf dem Klo gefunden werden?“
„Nein, aber …“
„Na also!“ schnitt sie ihm das Wort ab. „Denk doch einfach mal nach: Ein Mitglied des Hohen Hauses, das auf dem Scheißhaus verendet – das stärkt nicht gerade das Ansehen des Parlaments. Aber mich stört sowieso eher etwas anderes an dem Bericht …“
„Nämlich?“ fragte Igor ungeduldig, während seine Frau sich schon wieder schweigend durch die Kommentarleisten klickte.
„Die Todesursache“, entgegnete sie knapp, während sie einen Kommentar überflog, in dem es um die Belastungen ging, denen moderne Politiker ausgesetzt sind.
„Wieso?“ hielt Igor dagegen. „Herzversagen ist doch eine ganz normale Todesursache.“
„Eben!“ bekräftigte Lidia Afanasjewna. „So etwas könntest du letztlich auf jeden Totenschein schreiben. Wenn du mit deiner Raucherlunge einen Berg hochrennst, kriegst du auch einen Herzkasper. Die eigentliche Ursache für deinen Tod ist dann aber das ewige Gequalme und Herumlungern auf dem Sofa.“
„Was hast das denn jetzt damit zu tun?“ beschwerte sich Igor. Aber da seine Frau ihn ignorierte und sich weiter durch die Berichte im Netz klickte, beschloss er, sich erst einmal auf dem Balkon mit einer Zigarette zu beruhigen.

Fortsetung folgt am Dienstag.

English Version

Dark Powers

Waking up from a labyrinth of strange dreams, Lidia Afanasyevna’s attention is captured by a television report about the dead politician she found. A number of things about it seem quite peculiar to her.

Germany Seeks the Super Cleaning Lady

Bright light tickled Lidia Afanasyevna’s eyelids. She was in a television studio, a contestant in a reality show looking for Germany’s top cleaning lady. All the contestants had to clean a corridor that was open at the top. This allowed the viewers to decide by televoting which candidate did her job best.
Just then, she sat opposite the show’s host for the usual preliminary banter. „So you’re from Russia?“ the smart TV man wanted to know.
Lidia Afanasyevna hated such questions. As if she could describe her relationship with her old homeland in two sentences – and in front of an audience at that! So she decided to leave the dream – for that is what it had to be – at this point.
Anxiously, she searched for the way out of her dream. The best means of doing so was to find out what had happened to her before she had gone to sleep. Okay, let’s see, she thought: I had come home earlier than usual, Igor was still – or already? – sitting at the breakfast table …
„Closing time already?“ he had asked her as she laid the bread rolls she had bought on the way on the kitchen table. „Anything out of the ordinary?“
„Yes, guess what, there’s been a dead man!“ She had been too exhausted to tell him the whole story.
Igor had looked at her incredulously. „A dead man? And what have you got to do with it?“
„Well, I found him.“
„You found him? And where would that have been?“
„In the loo, if you want to know exactly.“
Puzzled, Igor had watched her take a bread knife from the kitchen cupboard to cut through the rolls. Then he had laughed briefly and remarked dryly: „You know, sometimes I wonder which of us drinks vodka every evening …“
Lidia Afanasyevna still remembered that she had cut two rolls and then sunk down on the corner bench. It was only there that she realised how tired she was. Actually, she had intended to compensate for the early morning excitement with a hearty breakfast. But now it had seemed more tempting to get some more sleep.

In the Spotlight of the Extraterrestrials

Reassured, Lidia Afanasyevna turned to the other side: That is what it had been like! She had allowed herself a morning nap, by now it was noon, the cloud cover had broken and the sun was shining into the room.
She stumbled over her own thought. The sun? But that wasn’t possible! The bedroom window faced west, and in winter you couldn’t see it here at all.
Lidia Afanasyevna rolled over on her back again. When she opened her eyes, blinking, she had the impression that she was looking into a very bright lamp, almost like on an operating table.
Had she collapsed after her gruesome discovery in the Reichstag? Had she been taken to hospital? But if someone was in shock, there was no need for an operation! Was she perhaps in a dental clinic? Was she going to have the tooth extracted that had been causing her problems for so long? And under the influence of the anaesthetic, did she possibly remember things that had actually happened much longer ago?
Lidia Afanasyevna mustered all her strength and – despite the anaesthetic she had obviously been injected with – tried to look past the lamp into the surgeon’s face. But where his head should have been, she saw only a black hole with two glowing clusters of stars shining towards her out of the darkness.
The aliens! it flashed through her mind. So she had been right with her suspicions after all!
„Damn it, Lidia, wake up at last!“
Strange, Lidia Afanasyevna thought: how did the aliens know her name? And why did they grab her by the shoulders with such force? She assumed that they were shaking her brain out of her skull in order to examine it more closely. Since she would then no longer be able to decipher what she saw, she decided to open her eyes as wide as possible – that way she would at least get to see a real alien once before she died.
A shadowy figure appeared in the backlight. Like a space traveller stranded on an alien planet, Lidia Afanasyevna looked into the gaunt face of a man whose head was crowned with the holy wreath of aging. It was Igor. „At last!“ he exclaimed. „I was beginning to think you wouldn’t wake up at all. Come quickly – they’re reporting about your dead man on TV right now!“
Lidia Afanasyevna looked at him uncomprehendingly: „My dead man?“ Her mind was still in another galaxy. By the time she realised what Igor was talking about, he had already disappeared again, as if he himself were just a comet that had briefly brushed the orbit of her planet. Drowsy, she followed him into the living room.

Inconsistencies

Regretful words droned to her from the television: „… polar air masses continue to dominate our weather. The frosty temperatures will therefore remain with us for the next few days …“
„Now you missed the report!“ grumbled Igor. He had lounged on the sofa in tattered jogging pants and a T-shirt, his slippers hanging loosely on his bare feet.
Lidia Afanasyevna sighed. To think that she had once found this close relative of the monkey attractive and had even had two children with him …
„I’ve told you a hundred times that broadcasting times have no meaning anymore these days!“ she grumbled back. „I’m sure the report is already available on the internet – garnished with all kinds of comments and additional information.“
Igor mumbled something unintelligible and then watched as his wife booted up the computer. A few clicks and the report popped up on the monitor. With the elegance of a giant lizard, Igor rolled out of his sofa cave and took up position behind his wife.
In a solemn tone, one of the usual news models announced: „Richard Gross, a long-time member of the Bundestag, was found dead in his Berlin office this morning. According to the Parliament’s press office, he died of sudden heart failure. Groß was active in various committees, most recently chairing the Defence Committee. In addition …“
„Now tell me,“ Igor urged her, „is this the man you told me about?“
Lidia Afanasyevna stared at the portrait of the man that faded in at the top of the screen during the report. „I think so …“ she murmured.
„What does that mean, you think so?“ groused Igor. „Either it was him or it wasn’t him – it’s very simple!“
Lidia Afanasyevna clicked away the report and called up a video clip showing the politician.
„So?“ Igor continued to urge. „Are you sure now?“
„I don’t know …“ hesitated Lidia Afanasyevna. „The dead man looked different somehow … Besides, I told you I found him in the restroom – I wasn’t in his office at all!“
Igor made a dismissive gesture with his hand. „You were probably dreaming again. After all, why should anyone move the body to another place?“
Lidia Afanasyevna turned to Igor. „Would you like to be found dead in the toilet?“
„No, but …“
„You see!“ she cut him off. „Just think for a moment: A member of Parliament dying on the crapper – that doesn’t exactly enhance the reputation of our politicians. But I’m more bothered by something else in the report anyway …“
„Namely?“ asked Igor impatiently, while his wife was already clicking through the comments in silence.
„By the cause of death,“ she replied curtly, while skimming through a comment about the stress modern politicians are exposed to.
„Why’s that?“ Igor wondered. „Heart failure is a perfectly normal cause of death.“
„Exactly!“ affirmed Lidia Afanasyevna. „You could write something like that on any death certificate. If you run up a mountain with your smoker’s lungs, you’ll have a heart attack too. But the real cause of your death would then be the constant smoking and lounging on the sofa.“
„What’s that got to do with the whole thing now?“ complained Igor. But since his wife ignored him and kept skimming through the reports on the net, he decided to calm down with a cigarette on the balcony.

To be continued on Tuesday.

Bilder / Images: Stefan Keller. Raumschiff (Pixabay); Open ClipArt: Retro (Pixabay)

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