Mord im Reichstag, Kapitel 1 / Murder in the German Parliament, Chapter 1
Auf der ersten Etappe der neuen literarischen Reise auf LiteraturPlanet lernen wir die Protagonistin des Romans, Lidia Afanasjewna, näher kennen. Wir erfahren etwas über ihre Arbeit, ihren brummigen Mann Igor und über Aljoscha – den Mann ihrer Träume, der leider tatsächlich nur in ihren Träumen existiert.
On the first stage of the new literary journey on Planet Literature, we get to know the protagonist of the novel, Lidia Afanasyevna. We learn about her work, her grumpy husband Igor and about Alyosha – the man of her dreams, who unfortunately indeed only exists in her dreams.
Ausbruch aus dem Fernseher
Man konnte durchaus nicht sagen, dass diese Woche gut begonnen hätte für Lidia Afanasjewna. Genau genommen hatte ihre Pechsträhne sogar schon am vergangenen Abend eingesetzt, als das Mantra der Verhöre in einem Late-Night-Krimi sie in den Schlaf gewiegt hatte. Prompt hatte der Böse ihre fehlende Wachsamkeit ausgenutzt, um sich aus seinem Fernsehkäfig zu befreien und in ihre gute Stube einzudringen. Nun stand er da und sann, seiner Natur gemäß, auf Böses.
Er war genauso schwarz wie in der nächtlichen Gasse, wo die Guten ihn gestellt hatten. Nur die Augen leuchteten zombiehaft aus seinem finsteren Antlitz heraus. Lidia Afanasjewna wollte um Hilfe rufen und weglaufen, sich in Sicherheit bringen vor diesem Unhold, der schon durch seine bloße Anwesenheit die Umgebung verpestete. Aber der Schlaf hatte sie gefesselt und geknebelt, sie brachte keinen Ton heraus und war wie verwachsen mit ihrem Fernsehsessel.
Heimtückisch sah der Böse sich um und suchte nach einem Objekt für seine finsteren Absichten. Endlich schien er etwas Passendes gefunden zu haben, um seine Mordlust zu befriedigen. „Na warte – dir drehe ich den Hals um“, hörte Lidia Afanasjewna ihn zwischen den Zähnen hindurch zischen.
Ihr stockte der Atem, aber zu ihrer Erleichterung kam der Böse nicht auf sie zu, sondern ging in Richtung des kleinen Aquariums, das in einer Ecke des Raumes auf einer Kommode stand. Ehe Lidia Afanasjewna sich über das Aquarium wundern konnte – denn sie war sich sicher, nie eines besessen zu haben –, hatte der Böse den darin schwimmenden Fisch auch schon an der Gurgel gepackt und ihm ein Messer an die Kehle gehalten.
Lidia Afanasjewna stutzte: Hatten Fische denn überhaupt eine Gurgel? Sie kam jedoch nicht dazu, diese Frage zu vertiefen, denn im selben Augenblick wurde ihr klar, dass sie selbst der Fisch war, den abzustechen der Böse im Begriff war. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle, der genug Schreckenspotenzial besaß, um nicht nur den Bösen in die Flucht zu schlagen, sondern auch sie selbst aus ihrem Sessel hochfahren zu lassen.
Gestohlene Zeit
Beim Aufwachen blickte Lidia Afanasjewna zunächst misstrauisch in die Ecke, in der eben noch das Aquarium gestanden hatte. Auch als sie sich endlich traute, sich von ihrem Sessel zu erheben, bewegte sie sich mit äußerster Vorsicht durch den Raum, als hätte der Böse sich nur im Nebenzimmer versteckt, um in einem geeigneten Moment wieder über sie herzufallen. Dabei signalisierte ihr doch schon allein das veränderte Fernseh-Mantra, das nun aus der Anpreisung von Einzelteilen eines unfassbar günstigen Kaffeeservices bestand, dass der Böse vertrieben worden war.
Im Bad zeigte der Spiegel ihr ein teigiges Gesicht mit hervorquellenden Augen, über dem eine blonde Dauerwelle den Dreizack des Poseidon zu imitieren schien. Eine Bemerkung Igors – des Mannes, der einmal ihr Herzallerliebster gewesen war – schoss ihr durch den Kopf: „Du siehst ja aus wie ein Karpfen, der einen Hai verschluckt hat! Lass doch endlich mal deine Schilddrüse untersuchen!“
Sie schüttete sich Wasser ins Gesicht, um das Feuer der Gedanken im Keim zu ersticken. Beim Dösen auf dem Fernsehsessel war ihr Kopf zur Seite hin abgeknickt, ein hartnäckiger Schmerz pochte in ihrem Nacken und sandte Stromschläge durch ihre Adern. Sie hatte einfach keine Kraft, sich jetzt dem aufgewühlten Schlamm am Grund ihres Lebens zu widmen.
Lidia Afanasjewna verordnete sich eine Schmerztablette und tastete sich dann durch den dunklen Flur zum Schlafzimmer vor. Die Lampe war schon seit Wochen kaputt, sie war es längst leid, Igor immer wieder daran zu erinnern. Allerdings hätte das Gesäge, in dem er seinen allabendlichen Rausch ausklingen ließ, auch Taubstummen den Weg gewiesen.
Sie wollte sich schon in die Kissen sinken lassen, da fiel ihr Blick auf den Funkwecker. „4.55 Uhr!“ riefen die Leuchtziffern ihr zu. 4.55 Uhr? Lidia Afanasjewna hatte das Gefühl, belogen zu werden, ja, beraubt worden zu sein. Das also war es, was der Böse verbrochen hatte! Obwohl er sich höchstens fünf Minuten in ihrer Wohnung aufgehalten hatte, war nun auf einmal die ganze Nacht vorbei. Er hatte ihr also im wahrsten Sinne des Wortes „die Zeit gestohlen“!
Aber alles Klagen half ja nichts. Das Einzige, was sie jetzt noch tun konnte, war, dem Wecker seinen Feldwebeltriumph zu nehmen und ihn an seinem durchdringenden Morgenappell zu hindern.
Aljoscha-Träume
Während Igor sich grunzend auf die andere Seite wälzte, begab Lidia Afanesjewna sich in die Küche. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, dann trottete sie ins Bad. Mechanisch griff sie nach ihren Schminkutensilien, um aus dem Gespenst, das sie war, einen halbwegs vorzeigbaren Menschen zu machen.
Wieder in der Küche, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein, die sie stehend in kleinen Schlucken trank. Geistesabwesend blickte sie aus dem Fenster. Zu der frühen Stunde gab es da draußen kaum etwas, an dem ihr Blick sich festhalten konnte. Die meisten Fenster des gegenüberliegenden Hochhauses waren noch verdunkelt, nur einige wenige starrten schon auf den freien Platz herab, der sich zwischen den beiden Häuserblöcken erstreckte. Keine Bewegung, kein Leben war zu erkennen.
Lidia Afanasjewna ließ ihren Blick ganz nach oben wandern, zum Dachgeschoss, das von ihrer Position im dritten Stock aus nur schemenhaft zu erkennen war. Dort oben, dachte sie, musste Aljoscha wohnen. Ja, sagte sie sich, das ist der einzige ihm angemessene Ort.
Was er heute wohl tun würde? Aljoscha beschäftigte sich ja jeden Tag mit etwas anderem, so dass man nie sicher sein konnte, welche Seite seiner Person er einem zuwenden würde. Er war niemals der, als den man ihn zu kennen meinte, er war stets ein anderer. Aber heute – da war sich Lidia Afanasjewna ganz sicher –, heute würde er ein Künstler sein. Wer weiß, vielleicht war er sogar schon aufgestanden, schaute wie sie aus dem Fenster und brütete über den Entwürfen der Werke, die er an diesem Tag zu gestalten gedachte.
Lidia Afanasjewna schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie sah Aljoscha vor seiner Staffelei stehen, den Pinsel in der Hand, mit kühnem Strich fuhr er über die Leinwand und verwandelte malend das Haus, in dem Lidia Afanasjewna wohnte, in einen Palast aus einer anderen Welt. Die Fenster wirkten wie Bullaugen in seinem Bild, das Haus glitt wie ein Unterseeboot durch die Nacht, und wenn man die Bullaugen lange genug ansah, weiteten sie sich zu Sternentoren, durch die man in eine andere Welt entschweben konnte.
Sinnlose Eile
Lidia Afanasjewna riss die Augen auf: Schon 5.25 Uhr! Sie musste sich beeilen, wenn sie die S-Bahn noch erreichen wollte. Also im Laufschritt: Mantel übergeworfen, in die Stiefel geschlüpft, Schal umgebunden, den Hausflur mit dem hallenden Klick-Klack ihrer Absätze erfüllt.
Unwillkürlich wich sie zurück, als sie die Haustür öffnete. Ein eisiger Januarwind biss ihr in die Haut, Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen als dünne Rinnsale über ihre Wangen. Da hätte sie sich die Schminkmaskierung ja auch sparen können! Wahrscheinlich hätte sie als das Gespenst, das sie davor gewesen war, noch weniger erschreckend gewirkt als der Zombie, den die zerlaufende Wimperntusche nun aus ihr machte.
Eine Anzeigentafel, an der sie auf dem Weg zur S-Bahn-Station vorbeikam, zeigte minus 10 Grad an – eine Temperatur, bei der auch Weichen gerne einmal einfroren. Da würde doch nicht etwa …? – Doch, genauso war es: Die ganze Hetze war umsonst gewesen. „Bitte beachten Sie“, knarzte es aus dem Lautsprecher am Bahnsteig, „dass es wegen einer Störung im Betriebsablauf zu Verspätungen kommt. Wir bitten um Ihr Verständnis.“
Lidia Afanasjewna vergrub die Hände tief in ihren Manteltaschen, zog den Schal noch enger um ihren Kopf und stapfte fröstelnd auf und ab. Wie auf einer Bob-Bahn jagte der Wind durch die Bahnhofsschneise, wie eine Gruppe Halbstarker trieb er seinen Schabernack mit den Wartenden, die sich nirgends vor ihm in Sicherheit bringen konnten.
Der einzige Ort, der ein wenig Schutz geboten hätte – eine hinten und an den Seiten von Stellwänden umgebene Bank – war fest in Raucherhand. Vor die Wahl zwischen Erfrierungs- und Erstickungstod gestellt, erschien Lidia Afanasjewna das Erfrieren als die angenehmere, irgendwie natürlichere Variante. Das änderte sich allerdings, je länger die Warteminuten sich hinzogen.
Gerade als sie sich die Frage stellte, ob der Erstickungstod nicht doch angenehmer – weil schneller und, vor allem: wärmer – wäre, war aus der Ferne das erlösende Rattern des herannahenden Zuges zu hören. Glücklicherweise war es noch so früh, dass er trotz der Verspätung nicht hoffnungslos überfüllt war. Lidia Afanasjewna fand sogar noch einen Sitzplatz am Fenster, was den Vorteil bot, dass sie ihren Kopf, der ihr auf einmal viel zu schwer vorkam, von zwei Seiten abstützen konnte.
Im Vergleich zu dem zugigen Bahnsteig wirkte die Luft im Innern des Zuges ausgesprochen stickig. Die Fenster waren beschlagen, Lidia Afanasjewna fand sich in einer Glasglocke wieder, in der nichts zu sehen war außer den müden Spiegelbildern der anderen Fahrgäste, deren Köpfe willenlos im Takt der S-Bahn hin- und herschaukelten – wenn ihre Gesichter nicht gerade von Smartphones hypnotisiert wurden oder hinter Zeitungswänden verschwanden.
Aljoschas Augen
Die Augen zu schließen und in den Augen von Aljoscha zu versinken, war eins für Lidia Afanasjewna. Dunkel und geheimnisvoll leuchteten seine Pupillen ihr entgegen, mit dieser leichten Melancholie, wie sie bei einfühlsamen Männern häufiger vorkam. Darüber verlor sich die Stirn im Gestrüpp seiner Locken, in deren weiche Pracht Lidia Afanasjewnas Finger schon so oft knisternd eingetaucht waren.
Mitfühlend ruhte sein Blick auf ihr. „Aber Lidia Afanasjewna, meine Liebe, Teure – was haben Sie denn? Sie sind ja ganz blass!“
„Ach, Aljoscha“, seufzte sie, „ich bin es einfach leid …“
„Aber was denn, Lidia Afanasjewna“, hakte Aljoscha vorsichtig nach. „Was sind Sie leid?“
„Nun, dieses ganze Leben“, erklärte Lidia Afanasjewna. „Ich ertrage es einfach nicht mehr. Wenn dieser Zug mein Leben wäre, würde ich einfach an der nächsten Station aussteigen und den Zug in die entgegengesetzte Richtung nehmen.“
„So schlecht ist Ihr Leben doch gar nicht“, wandte Aljoscha ein. Seine sanft dahinplätschernde Stimme war Balsam für ihre Seele, auch wenn ihr nicht gefiel, was er sagte.
„Sie sind nicht allein“, fuhr er fort, „Ihre Töchter haben, wie man so sagt, ‚eine gute Partie‘ gemacht, Sie haben eine gemütliche, nach Belieben beheizbare Wohnung, dazu eine feste Stelle – also führen Sie doch eigentlich das, was man als ‚geregeltes Leben‘ bezeichnen würde.“
„Aber genau das ist ja das Problem!“ maulte Lidia Afanasjewna. Sie war ein wenig enttäuscht, dass Aljoscha nicht verstand, was sie meinte. Oder war es nur Höflichkeit, was ihn ihr Leben gegen sie selbst in Schutz nehmen ließ?
„Gerade weil mein Leben so geregelt ist, kommt es mir vor wie eine ausgelutschte Zitrone“, erklärte sie. „Ein Tag ist wie der andere, nie passiert etwas Neues, Überraschendes … Ob ich heute oder in 20 Jahren auf den Friedhof übersiedle, ist doch im Grunde einerlei.“
„Es gibt aber einige Menschen, die dankbar wären, wenn sie so leben könnten wie Sie“, beharrte Aljoscha, seine christliche Seite hervorkehrend – die einzige Facette seiner Person, die Lidia Afanasjewna nicht sonderlich schätzte.
„Nun gut“, gestand sie ihm zu, „es mag ja sein, dass dieses Leben von außen betrachtet recht komfortabel erscheint. Davon werde ich aber auch nicht glücklicher! Nicht allein zu sein, ist doch kein Wert an sich – wenn ich an meinen Igor denke, scheint mir eher das Gegenteil der Fall zu sein. Und eine feste Stelle zu haben, mag einem ja Sicherheit geben. Wenn es sich dabei aber um eine Putzstelle handelt, ist die feste Stelle eben auch eine feste Kette an den Füßen, ein Stacheldraht, der einen von seinen Träumen trennt.“
Lidia Afanasjewna verzog verächtlich das Gesicht. „Putzfrau! Wozu habe ich mich da denn durch das Übersetzerstudium gequält? Soll ich mich etwa als Simultandolmetscherin für Staubmilben betätigen?“
„Immerhin haben Sie die Ehre, Ihrer Arbeit im deutschen Bundestag nachgehen zu dürfen“, bemerkte Aljoscha mit einem feinen, mehrdeutigen Lächeln.
Lidia Afanesjewna winkte ab. „Besser bezahlt ist die Arbeit deshalb auch nicht!“
„Aber doch wohl etwas angenehmer, als wenn Sie Ihren Dienst in, sagen wir, einem Fußballstadion versehen müssten“, gab Aljoscha zu bedenken.
Nun war es an Lidia Afanasjewna, vieldeutig zu lächeln. ‚Wenn du wüsstest …‘, dachte sie. Aber sie schwieg lieber, um Aljoscha seinen Kinderglauben an den untadeligen Lebenswandel der Volksvertreter nicht zu nehmen.
Als könnte er ihre Gedanken lesen, setzte Aljoscha hinzu: „Gut, die Arbeit als Putzfrau hat natürlich immer etwas damit zu tun, den Dreck anderer Leute wegmachen zu müssen. Aber vergleichen Sie das doch einmal mit Ihrem früheren Leben in Ihrem russischen Heimatdorf, mit all dem Staub im Sommer, dem Morast, in den er sich im Frühjahr und im Herbst verwandelt hat, mit der Kälte, die im Winter durch die Ritzen Ihres Holzhauses gekrochen ist – erscheint es Ihnen da nicht doch als Privileg, jetzt in einem vollklimatisierten Gebäude mit modernsten Maschinen und den effektivsten Reinigungsmitteln den kaum vorhandenen Dreck des Vortags beseitigen zu müssen?“
Schmerzliche Erinnerungen
Lidia Afanasjewna spürte, wie sich unter ihren geschlossenen Augenlidern Tränen ansammelten. Wie erstaunlich unsensibel es doch von Aljoscha war, sie auf ihre alte Heimat anzusprechen!
Natürlich hatte er nicht Unrecht mit dem, was er sagte. Es war ihnen damals wirklich sehr unbehaglich zumute gewesen in dem kleinen Holzhaus, das sich den Jahreszeiten stets angepasst hatte, anstatt einen Ausgleich zu ihnen zu bieten. Eben deshalb hatten sie ja plötzlich alle das Deutsche in sich entdeckt, um guten Gewissens in das Land der Vorfahren ihres Mannes übersiedeln zu können.
Igor, der damals noch nicht einmal das Wort „Deutsch“ hätte buchstabieren können, hatte sich auf einmal an seinen deutschstämmigen Vater erinnert, obwohl der die Mutter seines Sohnes – hierin nicht gerade ein Musterbeispiel deutscher Tugend – noch vor der Geburt hatte sitzen lassen. Und sie selbst war Woche für Woche mit dem Bus in die Stadt gefahren, um ihr kümmerliches Schul-Deutsch auf ein einigermaßen alltagstaugliches Niveau zu bringen. Dabei hatte sie sich stets auch um besondere Pünktlichkeit bemüht. Ja, tatsächlich hatte sie damals, bevor sie die deutschen Züge näher kennengelernt hatte, hierin eine typisch deutsche Tugend gesehen.
Natürlich war ihr klar, dass der Blick zurück heute manches verklärte, was damals gerade ihre Ausreise befördert hatte. Andererseits traten durch den Abstand von mittlerweile fast zwanzig Jahren, die sie nun schon in Deutschland lebte, auch die positiven Aspekte ihres damaligen Lebens deutlicher hervor. Dazu zählten gerade auch die dünnen Holzwände ihres einstigen Hauses, die Tatsache also, dass die Grenzen zwischen Innen und Außen fließender gewesen waren, als es in Deutschland der Fall war.
In ihrer alten Heimat waren Innen und Außen wie durch einen osmotischen Prozess miteinander verbunden gewesen. Das galt sowohl für das Verhältnis zur Natur als auch für das zwischen privatem und öffentlichem Bereich. Der eigene Wohnungsbereich war zwar auch dort ein Schutzraum gewesen, doch hatten die Türen im Sommer offen gestanden, und auch im Winter hatte man andere zwanglos besuchen können.
Es gehörte zu den Dingen, an die sie sich am schwersten hatte gewöhnen können: dass die Deutschen auch ihr Privatleben wie die Abläufe in einem Betrieb bis ins kleinste Detail durchorganisieren und man für alles Termine machen muss. Nie würde sie das pikierte Gesicht ihrer damaligen Nachbarin vergessen, als sie, frisch aus Russland angekommen, einfach bei ihr geklingelt hatte, um sich vorzustellen.
Natürlich hatte sie den Mangel, den sie im russischen Winter oft gelitten hatten, keineswegs vergessen. Eben weil sie seinerzeit auch mit alltäglichen Dingen hatten sparen müssen, hatten ihr die Kartoffeln aber nie mehr so gut geschmeckt wie damals, gegen Ende des Winters, wenn jede einzelne eine kleine Kostbarkeit dargestellt hatte.
Und nie mehr hatte sie Feste so genossen wie die aus jener Zeit, als sich im beginnenden Frühling die Vorfreude auf die wärmer werdenden Tage in unbändige Lebensfreude übertragen hatte. Jeder hatte etwas zu diesen Festen beigetragen – der eine einen selbst gefangenen Fisch, der andere das lange aufgesparte letzte Glas Kompott, und natürlich hatte nie ein Mangel an Samogon, dem selbst gebrannten Schnaps, geherrscht. An die Alkoholvergiftung, die ihr Bruder sich dabei einmal zugezogen hatte, wollte sie allerdings lieber nicht zurückdenken …
„Aber Lidia Afanasjewna, Teuerste! Sie weinen ja! Habe ich Sie womöglich mit irgendetwas verletzt?“
Lidia Afanasjewna war so in ihren Gedanken versunken, dass sie Aljoscha ganz vergessen hatte. Gerne ließ sie es sich gefallen, dass er ihr über die Wangen strich und ihre Tränen trocknete. „Ach, Aljoscha!“ seufzte sie, während seine Arme sie umfingen wie eine weite, sternenreiche Steppennacht. „Halt mich ganz fest!“
Sie wusste natürlich, dass manch einer ihre Gefühle für Aljoscha kitschig gefunden und ihr heimliches Getuschel mit ihm pubertär genannt hätte. Das aber war ihr ganz egal. Sie war überzeugt, dass hieraus nur die Missgunst derer sprach, die der Empfindung einer so vollendeten, Trost bringenden Harmonie, wie Aljoscha sie erleben ließ, nicht fähig waren.
English Version
The Seed of Evil
Murder in the German Parliament, Chapter 1
Breakout from the TV
One could certainly not say that this week had started well for Lidia Afanasyevna. Actually, her streak of bad luck had already begun the previous evening, when the mantra of interrogations in a late-night thriller had lulled her to sleep. Promptly, the evildoer had taken advantage of her lack of vigilance to break free from his television cage and invade her snuggery. Now he stood there and, in keeping with his nature, conceived evil.
He was just as black as in the night alley where the good guys had confronted him. Only his eyes shone zombie-like from his dark face. Lidia Afanasyevna wanted to call for help and run away, to seek shelter from this fiend who was polluting the surroundings by his mere presence. But sleep had shackled and gagged her, she could not utter a sound and remained glued to her television armchair.
Insidiously, the evildoer looked around, searching for an object for his sinister intentions. At last he seemed to have found something suitable to satisfy his lust for murder. „Just you wait – I’ll wring your neck,“ Lidia Afanasyevna heard him hiss between his teeth.
Her breath was caught in her throat, but to her relief, the evildoer did not approach her, but walked towards the small fish tank that stood on a chest of drawers in a corner of the room. Before Lidia Afanasyevna could wonder about the fish tank – for she was sure she had never had one –, the evildoer had already grabbed the fish swimming in it by the throat and held a knife to it.
Lidia Afanasyevna wondered: Did fish have throats at all? However, she did not have the chance to consider this question further, because at the same moment she realised that she herself was the fish that the evildoer was about to stab. A hoarse scream escaped from her throat, which sounded horrible enough not only to send the evildoer running, but also to make her jump up from her armchair.
Stolen Time
On waking up, Lidia Afanasyevna at first looked suspiciously into the corner where the fish tank had stood a moment ago. Even when she finally dared to get up from her armchair, she moved through the room with extreme caution, as if the evildoer had only hidden in the next room to attack her again at a suitable moment. Yet the changed television mantra alone, which now praised the components of an incredibly cheap coffee service, indicated that the evildoer had been driven away.
In the bathroom, the mirror showed her a pasty face with bulging eyes, over which a blond perm imitated the trident of Poseidon. A remark by Igor – the man who had once been her sweetheart – flashed through her mind: „You look like a carp that has swallowed a shark! Why don’t you finally get your thyroid checked?“
She poured water on her face to extinguish the fire of thoughts. Snoozing on the TV armchair, her head had slipped to one side. Now a persistent pain throbbed in her neck, sending electric shocks through her veins. She simply had no strength to face the churned mud at the bottom of her life now.
Lidia Afanasyevna prescribed herself a painkiller and then felt her way through the dark corridor to the bedroom. The lamp had been out of order for weeks; she had long since had enough of reminding Igor about it. However, the sawing sound into which his evening drunkenness usually ended would have led the way even for the deaf and dumb.
She was about to sink into the pillows when her eyes fell on the radio alarm clock. „4.55 a.m.!“ the luminous digits called out to her. 4.55? Lidia Afanasyevna had the feeling of being lied to, in fact, of having been robbed. So this was the crime the evildoer had committed! Although he had only been in her flat for five minutes at the most, the whole night was suddenly over. He had literally „stolen her time“!
But complaining was of no use now. The only thing she could do was to deprive the alarm clock of its sergeant’s triumph and prevent it from making its blaring morning call.
Dreaming with Alyosha
While Igor rolled over, grunting, Lidia Afanesyevna went to the kitchen. She switched on the coffee machine, then trotted into the bathroom. Mechanically, she reached for her make-up utensils to transform the ghost she was into a halfway presentable human being.
Back in the kitchen, she poured herself a cup of coffee, which she drank in small sips without sitting down. Absent-mindedly, she looked out of the window. At that early hour, there was hardly anything out there for her gaze to cling to. Most of the windows of the high-rise building on the opposite side were still darkened, only a few were already staring down at the open space between the two blocks of houses. No movement, no life was to be seen.
Lidia Afanasyevna let her gaze wander all the way up, to the top floor, which was only vaguely visible from her position on the third floor. Up there, she thought, must be Alyosha’s home. Yes, she said to herself, that is the only place appropriate for him.
She wondered what he would do today. Alyosha was constantly busy with something else, so you could never be sure which side of himself he would turn to you. He was never the person you thought you knew, he was always someone else. But today – Lidia Afanasyevna was quite sure of that – today he would be an artist. Who knows, maybe he had already got up, was looking out of the window like she was, and was poring over the sketches of the works he intended to create that day.
Lidia Afanasyevna closed her eyes for a moment. She saw Alyosha standing in front of his easel, paintbrush in hand, boldly stroking the canvas and thus transforming the house where Lidia Afanasyevna lived into a palace from another world. The windows looked like portholes in his painting, the house glided through the night like a submarine, and if you looked at the portholes long enough, they widened into star gates through which you could float away into another world.
Senseless Hurry
Lidia Afanasyevna tore her eyes open: 5.25 a.m. already! She had to hurry if she wanted to catch the train. She hastily put on her coat, slipped into her boots, tied her scarf around her neck and then filled the hallway with the echoing click-clack of her heels.
Involuntarily, she backed away as she opened the front door. An icy January wind bit into her skin, tears rose to her eyes and ran as thin rivulets down her cheeks. So she could have done without the make-up masquerade! She would probably have looked even less frightening as the ghost she had been before than as the zombie the runny mascara now made of her.
A display board she passed on her way to the suburban train station showed minus 10 degrees – a temperature at which even railway switches tended to freeze. Did that indicate train delays again? – Unfortunately, that’s exactly how it was: all the hustle and bustle had been in vain. „Please note,“ it creaked from the loudspeaker on the platform, „that there will be delays due to a disruption in the operational process. We apologise for any inconvenience.“
Lidia Afanasyevna buried her hands deep in her coat pockets, pulled the scarf even tighter around her head and trudged up and down, shivering under the whipping blows of winter. The wind whizzed across the platform like on a bobsleigh run, like a group of teenagers playing tricks on the waiting people, who had nowhere to hide from this bully.
The only place that would have offered a little shelter – a bench surrounded by partitions at the back and sides – was occupied by smokers. Faced with the choice between suffocation and freezing to death, the latter seemed to Lidia Afanasyevna the more pleasant, somehow more natural option. This changed, however, the longer she had to wait for the train.
Just as she was wondering whether death by suffocation wouldn’t be more comfortable after all – because it would be quicker and, above all, warmer –, the relieving rattle of the approaching train could be heard from the distance. Fortunately, it was still so early in the morning that the wagons weren’t hopelessly overcrowded, despite the delay. Lidia Afanasyevna even found a place by the window that allowed her to support her head, which suddenly seemed much too heavy, from two sides.
Compared to the draughty platform, the air inside the train felt decidedly stuffy. The windows were fogged up, Lidia Afanasyevna found herself in a glass bell jar. All she could see were the tired mirror images of the other passengers, whose heads bobbed listlessly back and forth to the beat of the suburban train – unless their faces were hypnotised by smartphones or disappeared behind newspaper walls.
Alyosha’s Eyes
As soon as she closed her eyelids, Lidia Afanasyevna sank into Alyosha’s eyes. Dark and mysterious, his pupils sparkled at her with that slight melancholy typical of sensitive men. Above his eyes, his forehead was lost in the undergrowth of his curls, whose soft splendour had so often absorbed Lidia Afanasyevna’s fingers with a mysterious crackle.
Compassionately, his gaze rested on her. „But Lidia Afanasyevna, my dear, my adored lady – what’s the matter with you? You’re all pale!“
„Oh, Alyosha,“ she sighed, „I’m just tired of it all …“
„Tired of what, Lidia Afanasyevna?“ Alyosha cautiously inquired. „What are you weary of?“
„Well, of this whole life,“ yawned Lidia Afanasyevna. „I just can’t stand it anymore. If this train were my life, I’d just get off at the next station and take the train in the opposite direction.“
„I wouldn’t say your life is that bad,“ Alyosha objected. His gently rippling voice was balm for her soul, even if she didn’t like what he said.
„You’re not alone“, he continued, „your daughters have made, as they say, ‚a good match‘, you have a cosy flat that can be heated at will, plus a steady job – so you actually lead what is called a ’settled life‘.“
„But that’s exactly what the problem is!“ grumbled Lidia Afanasyevna. She was a little disappointed that Alyosha didn’t understand what she meant. Or was it just politeness that made him defend her life against herself?
„It is precisely because my life is so settled that it feels like a squeezed lemon“, she clarified. „One day is like the other, nothing new, surprising ever happens … Whether I move to the cemetery today or in 20 years is basically all the same.“
„But there are many people who would be grateful if they could live like you,“ Alyosha insisted, bringing out his Christian side – the only facet of his person that Lidia Afanasyevna did not find particularly appealing.
„All right,“ she conceded, „it may be that this life seems quite comfortable from the outside. But that doesn’t make me any happier! Not being alone is not a value in itself – when I think of my Igor, it rather seems to me that the opposite is true. And having a permanent job may give you security. But if it’s a cleaning job, the steady job is also a firm chain on your feet, a barbed wire that separates you from your dreams.“
Lidia Afanasyevna grimaced contemptuously. „Cleaning lady! Why did I struggle through my translator’s studies then? Am I supposed to work as a simultaneous interpreter for dust mites?“
„After all, you have the honour of doing your work in the German Bundestag,“ Alyosha remarked with a fine, ambiguous smile.
Lidia Afanesyevna sighed again. „That doesn’t make any difference. The work doesn’t pay better just because the dust is cleared away in such an honourable place.“
„But a little more pleasant than if you had to do your duty in, say, a football stadium,“ Alyosha pointed out.
Now it was Lidia Afanasyevna’s turn to smile ambiguously. If you only knew …, she thought. But she preferred to remain silent so as not to deprive Alyosha of his childlike belief in the irreproachable conduct of the people’s representatives.
As if he could read her thoughts, Alyosha added: „Well, of course, working as a cleaning lady always has something to do with removing other people’s dirt. But compare that with your former life in your Russian home village, with all the dust in summer, the mud it turned into in spring and autumn, with the cold that crept through the cracks of your wooden house in winter. Against this backdrop, doesn’t it seem like a privilege to work in a fully air-conditioned building with the most modern machines and the most effective cleaning agents, removing the barely existing dirt from the day before?“
Sorrowful Memories
Lidia Afanasyevna felt tears gathering under her closed eyelids. How amazingly insensitive it was of Alyosha to allude to her former homeland!
Of course, he was not wrong in what he said. They had really felt very uncomfortable in the little wooden house that had always adapted to the seasons instead of providing a counterbalance to them. That was precisely why they had all suddenly discovered the German roots in themselves, so that they could move to the land of their husband’s ancestors with a clear conscience.
Igor, who at that time could not even spell the word „German“, had suddenly remembered his father of German origin, although the latter had abandoned his son’s mother – not exactly a model of German virtue in this respect – before he was born. And she herself had taken the bus into town week after week to bring her poor school German up to a level that was more or less suitable for everyday life. At the same time, she had always tried to be particularly punctual. Before she got to know the German trains better, she had seen this as a typical German virtue.
Of course, it was clear to her that in retrospect some of the things that had prompted her to leave back then seemed transfigured. On the other hand, the distance of almost twenty years that she had now lived in Germany also made the positive aspects of her previous life stand out more clearly. These included precisely the thin wooden walls of her former house, the fact that the boundaries between inside and outside had been more fluid than they were in Germany.
In her former homeland, inside and outside had been connected as if by an osmotic process. This applied both to the relationship to nature and to that between private and public space. Although one’s own living space had been a shelter there, too, the doors had been open in summer, and even in winter it had been possible to visit others casually.
It was one of the things she had found most difficult to get used to: that the Germans even organise their private lives down to the smallest detail, like the procedures in a company, and that you have to make appointments for everything. She would never forget the piqued face of her neighbour when, freshly arrived from Russia, she had simply rung her doorbell to introduce herself.
Of course, she had by no means forgotten the shortages they had often suffered in the Russian winter. But precisely because they had had to be sparing with everyday things in those days, the potatoes had never again tasted as good to her as they did back then, towards the end of winter, when each one had been a little treasure.
And never again had she enjoyed festivities as much as those of that time, when in the beginning of spring the anticipation of the warmer days had turned into an unbridled joy of life. Everyone had contributed something to these feasts – some a home-caught fish, others the long-saved last jar of compote, and of course there had never been a shortage of samogon, the home-distilled vodka. However, she preferred not to think back to the alcohol poisoning that her brother had once suffered from after such a feast …
„But Lidia Afanasyevna, dearest! You’re crying! Have I possibly hurt you with something?“
Lidia Afanasyevna was so lost in her thoughts that she had completely forgotten Alyosha. She gladly let him stroke her cheeks and dry her tears. „Oh, Alyosha!“ she sighed, as his arms embraced her like a wide, starry steppe night. „Hold me close!“
She knew very well that some people would have found her feelings for Alyosha trashy and would have called her secret whispering with him childish. But she didn’t care about that at all. She was convinced that this only testified to the resentment of those who were incapable of feeling such a perfect, comforting harmony as Alyosha provided her.
Bilder /Images: Collagen von Ilka Hoffmann; Hung Diesel: Fisch /Fish (Pixabay)