Ein Gedicht frei nach Ossip Mandelstams Stalin-Epigramm / A Poem Based on Ossip Mandelstam’s Stalin Epigram
1933 verfasste Ossip Mandelstam ein Gedicht gegen Stalin, das er letztlich mit dem Leben bezahlen musste. In angepasster Form lässt sich das Gedicht auch auf autokratische Herrscher im Allgemeinen beziehen – nicht zuletzt auf den aktuellen Kreml-Despoten.
Der Diktator
Wir schreiten lautlos, ohne einen Schritt zu spüren.
Unsere Reden lassen wir vom Wind verwehen.
Kümmerlich sind die Krümel uns’rer Worte,
und alle sind von IHM gefärbt, dem Kreml-Hünen.
Glitschig wie Würmer glänzen seine Finger,
schwer wie ein Urteil wiegt sein Wort.
Ungeziefer drängt sich um ihn, dienstbeflissen,
und schwärmt um seinen Stiefelschaft.
Vor ihm die krummen Nacken seiner Unterführer,
im Untertanenspiel schon halb zum Tier geschrumpft.
Einige pfeifen, andere miauen oder heulen,
nur ER allein erteilt beim Bellen auch Befehle,
ein Höllenfürst, der ohne Unterlass Erlasse schmiedet:
Erlasse wie Geschosse, die dich niederstrecken.
Und jede Streckbank ist für ihn ein Ruhekissen,
ein himbeersüßes Blutbad für den großen Führer.
Frei nach Ossip Mandelstam: Мы живем, под собою не чуя страны… (1933)
Mandelstams Überleben als Dichter dank mächtiger Förderer
Ein lebensgefährliches Gedicht
Zu der hier vorgelegten Nachdichtung
Ein schrecklicher Euphemismus
Tschistka – Säuberung. Mit diesem Begriff wird eine Epoche in der sowjetischen Geschichte der 1930er Jahre bezeichnet.
Es ist einer der schrecklichsten Euphemismen der Geschichtsschreibung. Denn konkret bedeutet „Tschistka“ hier: Säuberung des Regimes von Gegnern. Mehrere Millionen Menschen verloren ihr Leben, weil sie von Stalin und seinen Geheimdienstschergen als Regimegegner eingestuft wurden. Allein zwischen 1936 und 1938 – der Zeit des so genannten „Großen Terrors“ – wurden jeden Tag um die tausend Menschen als vermeintliche Volksfeinde hingerichtet.
Um als Regimegegner eingestuft zu werden, musste man dabei keineswegs Antikommunist sein. Es genügte, eine abweichende Meinung zur offiziellen Kommunismusdoktrin zu vertreten.
Man musste auch nicht in offene Opposition zum Regime treten. Es genügte, jemanden zu kennen, der vom Geheimdienst als unsicherer Kantonist eingestuft worden war. Es genügte, Gedichte zu schreiben, die sich nicht in das Korsett der offiziellen Kulturideologie fügten. Es genügte, solche Gedichte zu verbreiten – natürlich unter der Hand, und zumeist mündlich, im Flüsterton, denn an das Drucken nicht-staatskonformer Werke war selbstredend nicht zu denken.
Mandelstams Überleben als Dichter dank mächtiger Förderer

Vor diesem Hintergrund verfasste Ossip Mandelstam 1933 jene Verse, die später als „Stalin-Epigramm“ in die Geschichte eingingen. Mandelstam – 1891 im damals zu Russland gehörenden Warschau als Sohn eines jüdischen Lederhändlers geboren – gehörte zwar insbesondere mit seiner frühen, dem Symbolismus nahestehenden Dichtung zu jenen Autoren, deren Werk im Widerspruch stand zu der offiziell ausgerufenen „proletarnaja kultura“ (abgekürzt „Proletkult“). Dennoch wurde er – anders als die meisten anderen Dichtenden, die sich nicht dem Diktat der sozialistischen Kulturdoktrin unterordneten – nicht mit einem kompletten Schreib- und Publikationsverbot belegt.
Der Grund dafür war zunächst, dass Mandelstam sich in den 1920er Jahren stärker auf das Schreiben kulturkritischer Essays und anderer Prosa verlegte. Noch stärker wog, dass er für deren Veröffentlichung auf die Unterstützung des mächtigen Chefredakteurs der Zeitung Iswestija und Vorsitzenden der Komintern, Nikolaj Bucharin, bauen konnte.
Nichtsdestotrotz war auch für ihn das Verfassen eines stalinkritischen Werkes in der extrem repressiven Phase der 1930er Jahre ein lebensbedrohliches Unterfangen. Dies war natürlich auch Mandelstam bewusst. Die Verse kursierten daher ausschließlich mündlich im engsten Freundeskreis des Dichters.
Ein lebensgefährliches Gedicht
Nun war es gerade ein entscheidendes Merkmal der Stalin-Diktatur, dass der Geheimdienst überall seine Ohren hatte. Niemand konnte sich sicher sein, ob das, was er einem anderen im Vertrauen sagte, nicht auf Umwegen doch in den Akten der Staatssicherheit landete.
So geschah es auch mit Mandelstams Gedicht. Bereits ein halbes Jahr nach seiner Entstehung wurde er verhaftet und mit einer handschriftlichen Fassung seines Gedichts konfrontiert – einer seiner vermeintlichen Freunde hatte es an den Geheimdienst weitergereicht.
Nach intensiven, offenbar auch mit Folter verbundenen Verhören wurde Mandelstam allerdings nicht – wie nach einem offen stalinkritischen Text zu erwarten – zum Tode verurteilt, sondern nur in die Verbannung in den Ural und später nach Woronesch an der Wolga geschickt. Der Grund war erneut die Fürsprache Bucharins, dieses Mal verstärkt durch weitere Unterstützter wie Boris Pasternak, den späteren Schöpfer des „Doktor Schiwago“, und andere Personen des öffentlichen Lebens.
Mandelstam schützte offenbar sein Renommee als Autor, durch das seine Ermordung zu einem Imageproblem für das Regime geworden wäre. Im Rückblick stellt sich allerdings die Frage, ob das für den Dichter ein Vorteil war. Denn statt zu der schnellen Kugel wurde Mandelstam so faktisch zu einem Tod auf Raten verurteilt.
Schon die bei den Verhören erlittene Folter belastete ihn so sehr, dass er am Verbannungsort einen Selbstmordversuch unternahm. Als er 1938 erneut verhaftet wurde – sein Unterstützer Bucharin war mittlerweile selbst zum Staatsfeind erklärt und hingerichtet worden –, überlebte er die erneuten Torturen nicht mehr und verstarb Ende des Jahres in einem Lager in Wladiwostok.
Zu der hier vorgelegten Nachdichtung
Mandelstams „Stalin-Epigramm“ nennt an keiner Stelle direkt den Namen des Diktators. Einige Attribute des in den Versen beschriebenen Herrschers stellen jedoch einen unzweideutigen Bezug zu Stalin her.
Dies gilt insbesondere für den imposanten Schnurrbart, ein Markenzeichen dieses Sowjetführers, und die Bezeichnung des Autokraten als „Ossete“. Denn eben dieser Volksgruppe – deren Hauptsiedlungsgebiet heute de jure zwischen Russland und Georgien aufgeteilt ist, de facto aber auch im Süden von Russland kontrolliert wird – gehörte auch Stalin an.
Diese unausgesprochenen, gleichwohl für alle unmittelbar verständlichen Bezüge zu Stalin waren für die damalige Zeit wichtig, um dem Gedicht eine konkrete politische Bedeutung zu verleihen. Heute aber erschweren sie die Entfaltung einer über die Entstehungszeit hinausweisenden Bedeutung der Verse.
Eine solche überzeitliche Bedeutung ist jedoch in dem Gedicht selbst durchaus angelegt. Die autokratischen Herrschaftsmuster, auf die es anspielt, sind schließlich kein Spezifikum der Herrschaft Stalins. Sie lassen sich vielmehr auch in anderen Autokratien beobachten. Dies gilt gerade auch für den neuen Despoten im Kreml.
Deshalb sind in der hier vorgelegten Nachdichtung die unmittelbar auf Stalin verweisenden Bezüge bewusst ausgespart worden. Auch sonst lag der Schwerpunkt nicht auf möglichst wortgetreuer Übertragung, sondern auf einem zeitgemäßen Gewand für den Geist des Gedichts. Diese Vorgehensweise erscheint auch deshalb gerechtfertigt, weil enger an das Original anglehnte Nachdichtungen bereits existieren.

English Version
The Dictator
A Poem Based on Ossip Mandelstam’s Stalin Epigram
In 1933, Osip Mandelstam wrote a poem against Stalin, which he ultimately had to pay for with his life. In an adapted form, the poem can also be applied to autocratic rulers in general – not least the current Kremlin despot.
The Dictator
We step silently, without feeling our steps.
The wind blows away our words,
the meagre crumbs of our talks,
shadowed by HIM, the Kremlin giant.
His fingers shine as slippery as worms,
heavy as a judgment weighs his word.
Vermin crowd around him, eager to obey,
reverently bowing down to the shaft of his boot.
Beneath him the crooked necks of his subordinates,
half shrunk to animals due to their subjugation.
Some whistle, others meow or howl,
HE alone gives orders as he barks,
a prince of hell who forges decrees without ceasing,
decrees that strike you down like projectiles.
And every torture rack is a resting place for him,
a raspberry-sweet bloodbath for the giant leader.
Based on Osip Mandelstam: Мы живем, под собою не чуя страны… (1933)
Mandelstam’s Survival as a Poet Thanks to Powerful Patrons
About the Adaptation of the Poem Presented Here
A Terrible Euphemism
Chistka – Purges. This term is used to describe an epoch in Soviet history in the 1930s.
It is one of the most terrible euphemisms in historiography. For in concrete terms, „Chistka“ means here: Cleansing the regime of opponents. Several million people lost their lives because they were classified as opponents of the regime by Stalin and his secret service henchmen. Between 1936 and 1938 alone – the time of the so-called „Great Terror“ – around a thousand people were executed every day as supposed enemies of the people.
To be classified as an opponent of the regime, one did not have to be an anti-communist by any means. It was enough to hold a dissenting opinion to the official doctrine of communism.
You also didn’t have to be in open opposition to the regime to be considered anti-regime. It was enough to know someone who had been classified by the secret service as an unreliable citizen. It was enough to write poems that did not fit into the corset of the official cultural ideology. It was even enough to distribute such poems – of course under the table, and mostly orally, in whispers, because printing works that did not conform to the state was, needless to say, out of the question.
Mandelstam’s Survival as a Poet Thanks to Powerful Patrons

It was against this background that Osip Mandelstam wrote those verses in 1933 that later went down in history as the „Stalin Epigram“. Mandelstam – born in 1891 in Warsaw, then part of Russia, as the son of a Jewish leather merchant – was one of those authors whose work contradicted the officially proclaimed „proletarnaja kultura“ (abbreviated to „Proletkult“), especially with his early poetry, which was close to Symbolism. Nevertheless, unlike most other poets who did not submit to the dictates of the socialist cultural doctrine, he was not completely banned from writing and publishing.
The reason for this was firstly that in the 1920s Mandelstam concentrated more on writing essays and other forms of prose. Even more important was that he could count on the support of the powerful editor-in-chief of the newspaper Izvestia and chairman of the Comintern, Nikolay Bukharin.
Nevertheless, writing a work critical of Stalin in the extremely repressive phase of the 1930s was a life-threatening undertaking for him too. Mandelstam himself, of course, was also aware of this. The verses therefore circulated exclusively orally among the poet’s closest circle of friends.
A Life-threatening Poem
However, it was a key feature of the Stalinist dictatorship that the secret service had its ears everywhere. No one could be sure whether what they said to someone else in confidence would not end up in the files of the state security organs in a roundabout way.
Precisely this is what happened to Mandelstam’s poem. Only six months after it was written, he was arrested and confronted with a handwritten version of his epigram – one of his supposed friends had passed it on to the secret service.
After intensive interrogations, apparently involving torture, Mandelstam was not sentenced to death, though – as was to be expected after a text openly critical of Stalin –, but only sent into exile in the Urals and later to Voronezh on the Volga. Once again, this was thanks to Bukharin’s intercession, this time reinforced by further supporters such as Boris Pasternak, the later creator of „Doctor Zhivago“, and other public figures.
Mandelstam was apparently protected by his reputation as an author, which would have made his assassination an image problem for the regime. In retrospect, however, the question arises whether this was an advantage for the poet. For instead of the quick bullet, Mandelstam was effectively condemned to a death by instalments.
The torture suffered during the interrogations already burdened him so much that he attempted suicide in exile. When he was arrested again in 1938 – his supporter Bukharin had himself been declared an enemy of the state and executed in the meantime –, he did not survive the renewed tortures and died in a Gulag camp in Vladivostok at the end of the year.
About the Adaptation of the Poem Presented Here
Mandelstam’s „Stalin Epigram“ does not directly mention the dictator’s name at any point. However, some attributes of the ruler alluded to in the verses establish an unequivocal reference to Stalin.
This is especially true of the impressive moustache, a trademark of this Soviet leader, and the autocrat’s designation as „Ossetian“. For it was precisely this ethnic group – whose main settlement area is today de jure divided between Russia and Georgia, but de facto also controlled by Russia in the south – that Stalin belonged to.
These references to Stalin – unspoken but immediately comprehensible to everyone – were important at the time in order to give the poem a concrete political meaning. Today, however, they impede the unfolding of a meaning that goes beyond the time of the poem’s composition.
However, such a supra-temporal meaning is inherent in the poem itself. The autocratic patterns of rule implied in it are not, after all, specific to Stalin’s reign. Rather, they can also be observed in other authoritarian regimes – like for example in the one established by the current despot in the Kremlin.
For this reason, the references pointing directly to Stalin have been deliberately omitted in the adaptation of the poem presented here. In other respects, too, the emphasis was not on the closest possible literal transcription, but on a contemporary garment for the spirit of the poem. This approach also appears to be justified by the fact that translations closer to the original already exist.
Bilder / Images: Jakob Krüger: (Computer-)Zeichnung eines Dämons; Juni 2006 (Wikimedia commons; modifiziert / modified); Unbekannter Fotograf / Unknown author: Osip Mandelstam, 1914 (Wikimedia commons)