Wenn keine Träne mehr die Trauer stillt / When Tears No Longer Quench the Grief

Wladimir Wyssotskijs Lied Bratskije Mogily (Massengräber) / Vladimir Vysotsky’s song Bratskiye Mogily (Mass Graves)

Das 1963 entstandene Gedicht Massengräber des russischen Gitarrenlyrikers Wladimir Wyssotskij bezog sich damals auf die russischen Opfer im Zweiten Weltkrieg. Heute dagegen assoziieren wir es mit von Russland selbst verschuldeten Massengräbern.

English Version

Massengräber

Auf Massengräbern stehen keine Kreuze,
hier hörst du keine Witwen weinen.
Nur Blumensträuße welken in der Sonne,
ein Grablicht lügt von Ewigkeit.

Die Erde, einst ein Füllhorn neuen Lebens,
ist hier von Steinplatten erdrückt.
Die Einzelleben, bunt und ungebunden –
ein Schicksal fesselt sie an diesen Ort.

Im flackernden Grablicht versinkend,
siehst du brennende Städte,
brennende Häuser und Parlamente,
brennende Soldatenherzen.

Nein, hier weinen keine Witwen.
Verhärtet sind die Herzen derer,
die hier schweigend stehen, kein Kreuz
durchbricht die Todeswüste.

Владимир Высоцкий (Wladimir Wyssotskij): Братские могилы (Bratskiye Mogily)

Tonaufnahme auf userau­dio.net

Ein seltsames Geburtstagsständchen

Das Lied zwischen Kriegsgedenken und militaristischem Patriotismus

Ambivalente Haltung Wyssotskijs zum Krieg

Biographie Wyssotskijs

Links

Ein seltsames Geburtstagsständchen

Moskau, 22. Juni 1963: Geburtstagsfeier von Semjon Wyssotskij, dem Vater Wladimir Wyssotskijs. Die „Zakuski“, das üppige Vorspeisenbuffet, sind längst abgeräumt, auch der zweite Gang ist schon serviert worden. Ehe der Geburtstagskuchen aufgetischt wird, erhebt sich der damals 25-jährige Wladimir und bringt seinem Vater als Geburtstagsständchen das gerade geschriebene Lied „Bratskije Mogily“ (Massengräber, wörtlich „Brüderliche Gräber“) dar.
Ein Stimmungskiller? Musste der Vater, ein Offizier der Roten Armee, das Lied nicht als Beleidigung empfinden?
Die Antwort ist ein doppeltes „Njet“. In Russland ist es durchaus üblich, zu vorgerückter Stunde mit dem entsprechenden Liedgut einen gehörigen Schuss Sentimentalität und Rührseligkeit in die Partysuppe zu rühren. Und natürlich haben die Anwesenden bei dem Lied auch nicht an die Massengräber gedacht, die dem stalinistischen Terror aus der Zeit der „Säuberungen“ in den 1930er Jahren geschuldet sind.
Auch die Massengräber in anderen Ländern werden nicht ganz oben auf der Liste der Assoziationen gestanden haben – etwa die Massengräber in der Ukraine, die auf die rücksichtslos durchgesetzte Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft Anfang der 1930er Jahre gefolgt waren. Das ukrainische Trauma des „Holodomor“ (Mord durch Hunger), das im aktuellen Massenmord in der Ukraine eine schreckliche Fortsetzung erfährt, war damals wohl kaum präsent in den Köpfen der Feiergemeinde.
Nein, die Anwesenden werden seinerzeit vor allem an die eigenen Opfer gedacht haben, die das russische Volk im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen die Wehrmacht zu beklagen hatte. Wyssotskijs Vater wurde durch das Lied damit indirekt als Held geehrt, der bereit gewesen war, die Heimat notfalls auch durch das Opfer des eigenen Lebens zu verteidigen.

Das Lied zwischen Kriegsgedenken und militaristischem Patriotismus

Dass das Lied auf einer Geburtstagsfeier wohlwollend aufgenommen wurde, bedeutete allerdings noch lange nicht, dass es auch die sowjetische Zensur passieren konnte. Hier gab es dann doch einen Widerspruch zu der offiziellen Parteilinie, die nicht das Leid der Gefallenen und ihrer Hinterbliebenen, sondern den Siegestaumel nach dem gewonnenen Krieg in den Vordergrund stellte. Wyssotskijs Lied geriet vor diesem Hintergrund in den Verdacht der Wehrkraftzersetzung.
Dennoch fand das Lied schon kurze Zeit darauf den Weg in die Öffentlichkeit. Zu verdanken war dies dem Film Я родом из детства (Ja rodom s djetsvo – Ich komme aus der Kindheit, 1966) zu verdanken. Dabei handelt es sich um eine Art sowjetischen Coming-of-Age-Film: Zwei Jungen leben an einer Stadt in Frontnähe und werden dort mit dem Leid des Krieges konfrontiert, während sie gleichzeitig nach ihrem Weg ins Leben suchen.
Zu diesem Film passte Wyssotskijs Lied über die Massengräber so gut, dass der Regisseur, Viktor Turov, es in die Handlung integrieren wollte. Dies wurde zwar zunächst von den Zensurbehörden untersagt, doch konnte man sich schließlich auf einen Kompromiss einigen. Dadurch erhielt der Regisseur die Erlaubnis, die beiden letzten Strophen des Liedes in den Film aufzunehmen, allerdings in der Fassung eines anderen Interpreten.
Dennoch erlangte das Lied auf diese Weise eine große Popularität und durfte im Anschluss, anders als die meisten anderen Lieder Wyssotskijs, auch öffentlich vorgetragen und verbreitet werden.

Ambivalente Haltung Wyssotskijs zum Krieg

Als Teil eines patriotischen Films zeugt das Lied auch von der ambivalenten Haltung Wyssotskijs zum Krieg. Er war zwar sicher kein Unterstützer des sowjetischen Militarismus, andererseits aber auch kein Pazifist. Diese zwiespältige Haltung drückt sich auch in den verschiedenen Fassungen von Bratskije Mogily aus. Manche betonen stärker den patriotischen Aspekt des Opfertods, andere eher das Leid der Hinterbliebenen.
Angesichts der gegenwärtigen Situation, in der die russische Armee selbst Massengräber in einem andern Land sät, verbietet sich jeder patriotische Unterton. Ich habe mich deshalb bewusst für eine sehr freie Nachdichtung des Liedes entschieden, die den Schwerpunkt auf das die menschliche Leidensfähigkeit sprengende Grauen der Massengräber legt.

Biographie Wyssotskijs

Wladimir Wyssotskij (Vysockij/Vysotsky/Wyssozki) besuchte nach der Schulzeit die Schauspielschule des Mos¬kauer Kunsttheaters. Seit 1964 war er am Taganka-Theater in Moskau tätig und begann gleichzeitig eine Karriere als Filmschauspieler.
Die Popularität, die er auf diese Weise erlangte, nutzte Wyssotskij auch für die Verbreitung seiner Gedichte. In vertonter Form fanden manche von ihnen Eingang in Filme, in denen der Autor mitwirkte.
Daneben gab es freilich auch Lieder, die Wyssotskij – wie andere Gitarrenlyriker auch – nur im kleinen Kreis vortragen konnte. Seine Werke waren nicht durchgehend regimekritisch, legten jedoch immer wieder den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Tabus. Hierzu zählte etwa der sowjetische Antisemitismus, den der Sänger – als Sohn eines jüdischen Vaters – wohl auch aus eigener Erfahrung kannte.
Als Schauspieler war Wyssotskijs Paraderolle der Hamlet. Dessen Tragik sah er in dem Zwang, einer Handlungsweise folgen zu müssen, die man im Innersten ablehnt. Hierzu gehört es auch, sich nicht von Konventionen lösen zu können, die beispielsweise gewalttätige Formen der Konfliktlösung als akzeptabel hinstellen.
Dem Alkohol und den Zigaretten alles andere als abgeneigt, verstarb Wyssotskij bereits mit 42 Jahren. Sein Tod löste, obwohl in den Staatsmedien nicht vermeldet, eine nationale Trauerwelle aus.

Die Geschichte des Liedes Bratskije Mogily wird nachgezeichnet auf song-story.ru (Russian). Dort finden sich auch Links zu den verschiedenen Versionen des Liedes, u.a. zu der Fassung aus dem Film Ja rodom s djetsvo (Ich komme aus der Kindheit).

Mehr zur russischen Gitarrenlyrik in RB: Der Krieg als Verrat am Selbst. Antikriegslieder in der russischen Gitarrenlyrik; rotherbaron.com, überarbeitete Fassung März 2022.

Igor Palmin: Wladimir Wyssotskij, April 1979 (Wikimedia commons)

English Version

When Tears No Longer Quench the Grief

Vladimir Vysotsky’s song Bratskiye Mogily (Mass Graves)

The poem Mass Graves by the Russian guitar poet Vladimir Vysotsky, written in 1963, referred at the time to Russian victims in the Second World War. Today, however, we associate it with mass graves caused by Russia itself.

No crosses can be seen on mass graves,
here you don’t hear widows crying.
Only flower bunches wither in the sun,
a grave light tells lies of eternity.

The earth, once a cornucopia of life,
is smothered here by slabs of stone.
The single lives, colourful and unbound –
one fate binds them to this place.

Immersed in the flickering grave light,
you stare at burning cities,
burning houses and parliaments,
burning soldiers‘ hearts.

No, there are no widows crying here.
Hardened are the hearts of those
who stand here in silence, no cross
breaks through this desert of death.

Владимир Высоцкий (Vladimir Vysotsky): Братские могилы (Bratskiye Mogily)

Album version on userau­dio.net

Live on YouTube

CONTENT

A Strange Birthday Serenade

The Song between War Commemoration and Militaristic Patriotism

Vysotsky’s Ambivalent Attitude Towards War

Short Biography of Vysotsky

A Strange Birthday Serenade

Moscow, June 22, 1963: Birthday party for Semyon Vysotsky, the father of Vladimir Vysotsky. The „zakuski“, the sumptuous appetiser buffet, has long since been cleared, even the second dish is coming to an end. Before the birthday cake is served, Vladimir Vysotsky, then 25 years old, stands up and serenates his father with the song „Bratskije Mogily“ (Mass Graves, literally „Brotherly Graves“), which he has just written.
A mood killer? Didn’t his father, a Red Army officer, have to take the song as an insult?
The answer is a double „Nyet“. In Russia it is quite common to stir a good dash of sentimentality into the party soup at an advanced hour with appropriate songs. And of course, those present at the performance were not thinking of the mass graves resulting from the Stalinist terror at the time of the „Great Purge“ in the 1930s.
Likewise, the mass graves in other countries will not have been high on the list of associations – as for example the mass graves in Ukraine that followed the ruthlessly enforced collectivisation in agriculture in the early 1930s. The Ukrainian trauma of the „Holodomor“ (death/extermination by hunger), which is being terribly continued in the current mass murder in Ukraine, was probably not present in the minds of the celebrating community back then.
No, those present at the time will have been thinking above all of their own sacrifices, the victims the Russian people had to mourn in the „Great Patriotic War“ against Nazi Germany. Vysotsky’s father was thus indirectly honoured by the song as a hero who had been prepared to defend his homeland even by sacrificing his own life if necessary.

The Song between War Commemoration and Militaristic Patriotism

However, the fact that the song was well received at a birthday party did not mean that it could also pass Soviet censorship. The reason for this was the official party doctrine, which did not focus on the suffering of the fallen and their survivors, but on the triumphant frenzy following the victory in the war. Against this backdrop, Vysotsky’s song came under suspicion of undermining military morale.
Nevertheless, the song soon found its way into the public domain thanks to the film Я родом из детства (Ja rodom s djetsvo – I come from childhood, 1966). This was a kind of Soviet coming-of-age film: two boys living in a town near the front have to face the suffering of war while at the same time searching for their own place in life.

Vysotsky’s song about the mass graves suited this film so well that the director, Viktor Turov, wanted to integrate it into the plot. This was initially forbidden by the censorship authorities, but in the end a compromise was found. The director was given permission to include the last two strophes of the song in the film, albeit in the version of a different performer.
In this way, the song gained great popularity, unlike most of Vysotsky’s other songs, was subsequently allowed to be performed and distributed in public.

Vysotsky’s Ambivalent Attitude Towards War

With its integration into a patriotic film, the song testifies to Vysotsky’s ambivalent attitude towards war. Although he certainly was not a supporter of Soviet militarism, he was not a pacifist either. This is also expressed in the different versions of Bratskije Mogily. Some emphasise more the patriotic aspect of sacrifycing one’s own life, others rather the suffering of those left behind.
In view of the current situation, in which the Russian army itself is sowing mass graves in a neighbouring country, any patriotic undertone is, of course, out of the question. I have therefore deliberately chosen a very free English adaptation of the text, focusing on the horror of the mass graves, which is beyond the capacity of human suffering.

Short Biography of Vysotsky

Vladimir Vysotsky attended the acting school of the Moscow Art Theatre after leaving school. From 1964 he worked at the Taganka Theatre in Moscow and at the same time began a career as a film actor.
Vysotsky also used the popularity he gained in this way to disseminate his poems. Set to music, some of them found their way into films in which the author took part.
Of course, there were also songs that Vysotsky – like other guitar poets – could only perform in small circles. His works were not consistently critical of the regime, but they repeatedly put their finger in the wound of social taboos. One example of this was Soviet anti-Semitism, which the singer – as the son of a Jewish father – probably knew from his own experience.
As an actor, Vyssotsky’s star role was Hamlet. In his view, the tragedy of Hamlet consisted in the compulsion to follow a course of action that is rejected in one’s innermost being. This includes not being able to break away from conventions that, for example, make violent forms of conflict resolution acceptable.
Far from being averse to alcohol and cigarettes, Vysotsky died at the early age of 42. Although not reported in the state media, his death provoked a nationwide wave of mourning.

Links

The history of the song Bratskije Mogily is documented on song-story.ru (Russian). The website also provides links to the different versions of the song, including the version from the film Ja rodom s djetsvo (I come from childhood).

More on Russian guitar poetry in RB: Der Krieg als Verrat am Selbst. Antikriegslieder in der russischen Gitarrenlyrik (The war as a betrayal of the self. Anti-war songs in Russian guitar poetry; German); rotherbaron.com, March 2022.

Bild / Image: Adrian Hill (1895 – 1977):Ruinen zwischen Bernafay Wood und Maricourt / Ruins between Bernafay Wood and Maricourt (1918); London, Imperial War Museums (Wikimedia Commons)

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