Der Tag der Wahrheit/1 / The Moment of Truth/1

Tagebuch eines Schattenlosen/2: Der Blackout/8 / Diary of a Shadowless Man/2: The Blackout/8

Die Antikriegsaktion liegt hinter Theo. Leider ist sie nicht so verlaufen wie erhofft.

Theo thinks back to the anti-war action now lyring behind him. Unfortunately, it did not turn out as hoped.

Freitag, 6. Oktober

Da liegt sie nun also vor mir auf dem Tisch, Georges seltsame Notfalluhr, dieses angebliche Eintrittstor in ferne Zeiten. Wie ein großes blaues Auge schaut das Ziffernblatt mich an, ein Auge, aus dem tausend andere Augen mir entgegenfunkeln. Und jedes Auge ist ein Fenster in eine andere Welt.
Nie hätte ich gedacht, dass die Uhr einmal eine andere Bedeutung für mich bekommen würde als die, mir die Zeit anzuzeigen. Aber so, wie die Dinge liegen, werde ich mich wohl ernsthafter mit ihr befassen müssen. Kann es sein, dass an Georges abenteuerlicher Geschichte doch etwas dran ist – dass die Uhr mehr ist als ein banales Zeitmessgerät?

Krieg und Frieden

Am liebsten würde ich wirklich auf der Stelle in eine andere Zeit fliehen – oder die Zeit zurückdrehen, um den gestrigen Tag ungeschehen zu machen. Dabei ist unsere Aktion doch anfangs ganz nach Plan verlaufen!
Wie erwartet gesellten sich schon bald nach Beginn unserer Schicht zwei Aufpasser zu uns, die jeden unserer Handgriffe mit ihren Raubvogelblicken verfolgten. Natürlich wirkten ihre Kampfmontur und die umgeschnallten Schnellfeuerwaffen ausgesprochen bedrohlich. Andererseits entsprachen sie so sehr dem Klischee des martialischen Bodyguards, dass sie auf mich fast schon wie Spielfiguren aus dem Baukasten wirkten.
Auch ihr hartnäckiges Schweigen fügte sich in das Bild des grimmigen Kriegers. Jeder Versuch, ihnen mehr als unartikulierte Laute zu entlocken, schlug fehl. Es war, als hätte man ihnen die Zunge herausgerissen, um jede Form von Feindkontakt im Keim zu ersticken. Das war nicht gerade angenehm, kam aber auch nicht überraschend. Wir hatten uns im Vorfeld sehr genau überlegt, wie wir mit solchen maulfaulen Kampfmaschinen umzugehen hätten.
In dem zentralen Bunkersaal, wo der Präsident seine Rede halten sollte, war derweil alles bereit für den großen Moment. Der Saal befand sich direkt unterhalb des Kontrollraums, mit dem er im oberen Teil durch eine gemeinsame Fensterfront verbunden war. Wenn ich mich von meinem Platz erhob, konnte ich zwischen den Monitoren hindurch das Geschehen auf der großen politischen Bühne unmittelbar verfolgen.
Immer mehr hochgestellte Persönlichkeiten trafen ein, die dazu auserkoren waren, Zeugen der historischen Ansprache zu werden. Hell schimmernde Kostümchen glitten an Designeranzügen vorbei, hochdekorierte Uniformen trafen auf aufstrebende Hosenanzüge. Und dazwischen: zehn Aufwartefräulein, die der Crème de la Crème der Gesellschaft exquisite Häppchen und erlesene Tropfen reichten.
Zwei der dienstbaren Damen mit den schwarz-weißen Minikleidchen waren mir wohlbekannt. Katzengleich huschten sie zwischen den einzelnen Smalltalk-Grüppchen hin und her, so dass ihre Schattenlosigkeit niemandem auffiel.
Als ich inmitten all der gewichtigen Anziehpuppen Lina entdeckte, vergaß ich für einen Moment alle Vorsichtsregeln und trat an die Fensterfront. „Das könntest du ruhig auch mal für mich anziehen“, raunte ich ihr über das Headset zu, während ich ihr unauffällig winkte.
Verstohlen blickte sie zu mir hoch. In dem Menschenpulk, der sich mittlerweile um sie versammelt hatte, konnte sie mir aber nicht antworten, sondern schmunzelte nur still in sich hinein. So bezog der eisgraue Offizier, dem sie in dem Moment ein Glas Champagner reichte, ihr ganz spezielles Lächeln wohl auf sich. Jedenfalls schloss ich dies aus seinem süffisanten Grinsen.
Von da an nahm die Anspannung immer weiter zu. Die Gäste waren nun versammelt, jetzt warteten alle nur noch auf den Präsidenten und seine Entourage. Die Gespräche wurden zunehmend einsilbig, alle sahen mit einem Auge auf die große, zweiflügelige Tür, die sich jeden Moment auftun musste für den Allmächtigen.
Ich blickte auf die Uhr: Es war zehn vor elf, kurz vor dem angekündigten Beginn der Ansprache. Und tatsächlich: Pünktlich wie die Primetime-Nachrichten glitten die Türflügel auseinander, und der hohe Herr rauschte mit seinem Begleiterpulk in den Saal.
Allgemeines Geraune, alle wandten die Köpfe zur Tür. Das war das Signal für Lina und Yvonne, sich davonzustehlen. Die beiden Notstromaggregate befanden sich an zwei verschiedenen Ecken des Bunkers, waren aber jeweils über Notausgänge zu erreichen, die von der Küche abgingen. Als Mitglieder des Catering-Personals konnten Lina und Yvonne sich daher unbemerkt dorthin verdrücken.
Auf meiner Bildschirmwand konnte ich verfolgen, wie die beiden ohne äußere Anzeichen von Nervosität der Küche zustrebten. Ganz schön cool, die Ladies, dachte ich.
Unmittelbar darauf trat der Präsident ans Rednerpult. Der Ton seiner Rede war feierlich-getragen, doch bemühte er sich gleichzeitig um eine entschlossen-kämpferische Haltung. Diese unterstrich er insbesondere durch seinen starr nach vorne gerichteten Blick. Praktischerweise konnte er so zugleich den Monitor mit dem vorbereiteten Redetext fixieren.
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!“ begann er. „Dies sind schwere Zeiten für uns alle. Wir alle träumen von einer Welt des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands, einer Welt, in der es keine Kriege gibt, in der einer die Würde des anderen achtet und in der ein jeder genug zu essen und ein Dach über dem Kopf hat. Generationen von Menschen haben sich darum bemüht, diesen Traum wahr werden zu lassen, und auch diese Regierung hat sich ganz diesem Ziel verschrieben.“
Ich sah zu Schorsch herüber. Mit der Andeutung eines Kopfschüttelns bestätigte er mir, was ohnehin klar war. Unseren ursprünglichen Plan, eine Unachtsamkeit der beiden Kampfschweiger hinter uns für die Betätigung der Replay-Taste zu nutzen, konnten wir vergessen. Die beiden funktionierten wie Automaten, nichts hätte sie ablenken können. Glücklicherweise hatten wir uns für diesen Fall einen Ersatzplan zurechtgelegt.
„Ich muss mal für kleine Jungs“, sagte Schorsch betont beiläufig zu mir.
In der Tat schienen die beiden Aufpasser von seinem dringenden Bedürfnis keine Notiz zu nehmen. Also würde Schorsch auf der Toilette problemlos den Replay-Modus aktivieren können! George hatte nämlich vorsorglich von seinen Nerds eine Kopie der Überwachungssoftware erstellen lassen. So konnten wir die Bilder auf den Monitoren quasi per Fernbedienung einfrieren.
Der Präsident hatte kurz innegehalten und die Kamera vor ihm – stellvertretend für „das Volk“ – fest angesehen. Als er weiterredete, erhob er kaum merklich die Stimme: „Leider gibt es auf dieser Welt nun aber genug skrupellose Herrscher, die scheren sich nicht um unsere Träume, denen sind Frieden, Freiheit und Demokratie nicht nur gleichgültig, sondern sie sind sogar bereit, all das zu zerstören, was die Menschheit in Jahrhunderten aufgebaut hat. Um die Weltherrschaft an sich zu reißen, töten sie wahllos jeden, der sich ihnen in den Weg stellt!“
Ich blickte auf den Monitor, der die Notausgänge hinter der Küche zeigte: Das Bild war noch immer nicht eingefroren! Sollte die Fernsteuerung der Monitore doch nicht so gut funktionieren, wie George versprochen hatte? Oder hatte Schorsch auf der Toilette keinen Empfang?
Ich drehte mich zur Tür um. Da erst fiel mir auf, dass einer der beiden Klonkrieger den Raum verlassen hatte. Ich war so vertieft gewesen in die Beobachtung des Saales, dass ich sein Weggehen gar nicht bemerkt hatte. Das verhieß nichts Gutes!
Der Präsident wurde nun noch staatstragender. Jetzt gab er sich als Anwalt der ganzen Welt: „In einer solchen Situation gilt es für einen jeden uns, genau abzuwägen, ob er lieber einen bedrohten, zerbrechlichen Frieden behalten oder sich darum bemühen möchte, die Welt für uns alle sicherer zu machen. Gibt es denn überhaupt einen ‚halben‘ Frieden? Ist der Frieden nicht ein unteilbares Gut, das schon dann zerbricht, wenn Einzelne es gefährden?“
In diesem Augenblick fiel mein Blick auf einen der Spezialagenten im Gefolge des Präsidenten. Er hatte mir bislang den Rücken zugedreht und sich auch jetzt nur ganz kurz umgewandt. Dennoch kam mir sein Gesicht seltsam bekannt vor.

English Version

The Moment of Truth/1

Friday, October 6

So there it lies on the table in front of me, George’s strange emergency watch, this supposed gateway to distant times. The dial looks at me like a big blue eye, an eye from which a thousand other eyes sparkle at me. And each eye is a window into another world.
I never thought that the clock would have any other meaning for me than to indicate the time. But as things stand, I will probably have to take a more serious look at it. Could it be that there is some truth in George’s bizarre story after all – that the clock is more than just an ordinary time-measuring device?

Friday, October 6

In fact, I would really like to escape to another time right now – or turn back time to undo yesterday. And yet our mission went according to plan at the beginning!
As expected, soon after our shift began, we were joined by two supervisors who followed our every move with their bird-of-prey gazes. Of course, their combat uniforms and the rapid-fire weapons they had strapped on looked downright menacing. On the other hand, they corresponded so closely to the cliché of the martial bodyguard that they almost appeared to me like figures from a toy box.
Their stubborn silence likewise fitted the image of a fierce warrior. Every attempt to elicit more than inarticulate sounds from them failed. It was as if their tongues had been torn out to nip any form of enemy contact in the bud. It wasn’t exactly a pleasure to have them around, but it didn’t really surprise us either. We had thought very carefully in advance about how to deal with such tight-lipped fighting machines.
Meanwhile, in the central bunker hall where the president was to deliver his speech, everything was ready for the big moment. The hall was located directly below the control room, with which it was connected in its upper part by a common window front. When I stood up from my seat, I could directly follow the events on the big political stage from between the monitors.
More and more high-ranking personalities arrived, chosen to witness the historic speech. Brightly shimmering costumes glided past designer suits, highly decorated uniforms met aspirational pantsuits. And in between: ten waitresses who served the crème de la crème of society exquisite canapés and selected wines.
Two of the ladies on duty with the black and white mini dresses were well known to me. Like cats, they flitted back and forth between the individual small talk groups, so that no one noticed their shadowlessness.
When I spotted Lina among all the complacent dress-up dolls, I forgot all precautions for a moment and stepped up to the window front. „You could put that on for me too sometime,“ I whispered to her over the headset, while inconspicuously waving at her.
She glanced up at me furtively. In the crowd of people that had gathered around her in the meantime, she could not answer me, but only grinned silently to herself. So the ice-grey officer, to whom she handed a glass of champagne at that moment, probably referred her very special smile to himself. At least that’s what I deduced from his mischievous grin.
From then on, the tension increased more and more. All guests had arrived, now everyone was just waiting for the president and his entourage. The conversations became increasingly monosyllabic, everyone was looking with one eye at the big, double-winged door that was bound to open at any moment for the Almighty.
I glanced at the clock: It was ten to eleven, shortly before the announced start of the speech. And sure enough, like the prime-time news, the doors slid open and the high lord strode into the hall with his retinue.
There was a general murmur, and everyone turned their heads toward the door. That was the signal for Lina and Yvonne to sneak away. The two emergency power units were located at two different corners of the bunker, but each could be reached via emergency exits leading off the kitchen. As members of the catering staff, Lina and Yvonne were therefore able to get there unnoticed.
On my screen wall, I could watch the two of sauntering towards the kitchen without any outward signs of nervousness. Pretty cool, the ladies, I thought.
Immediately afterwards, the president stepped up to the lectern. The tone of his speech was solemn, but at the same time he tried to maintain a resolutely combative attitude. He emphasised this in particular by his rigidly forward-looking eyes. Conveniently, he was able to fix the monitor with the prepared speech text as well this way.
„My dear fellow citizens,“ he began, „these are difficult times for all of us. We all dream of a world of peace, freedom and prosperity, a world where there are no wars, where one respects the dignity of another and where everyone has enough to eat and a roof over their heads. Generations of people have striven to make this dream come true, and this government too is completely dedicated to this goal.“
I looked over at Shorsh. With a slight shake of his head, he confirmed what was already clear to me. We could forget our original plan of using a moment of inattention by the two passionate speech deniers behind us to press the replay button. The two of them were acting like automatons, nothing could distract them. Fortunately, we had a backup plan for this case.
„Just hold the fort by yourself for a moment – I’m going to the boys‘ room,“ Shorsh said to me in an emphatically casual manner.
In fact, the two overseers didn’t seem to take notice of his urgent need. So Shorsh would have no problem activating the replay mode in the restroom! Fortunately, George had been careful enough to have his nerds make a copy of the surveillance software. This gave us the opportunity of freezing the images on the monitors by remote control, so to speak.
The president had paused for a moment and looked firmly at the camera, which represented „the people“ for him. As he continued to speak, he raised his voice barely perceptibly: „Unfortunately, there are quite a number of unscrupulous rulers in this world. They don’t care about our dreams, and they are not only indifferent to peace, freedom and democracy, but they are even prepared to destroy everything that mankind has built up over centuries. In order to seize world domination, they indiscriminately kill anyone who stands in their way!“
I looked at the monitor showing the emergency exits behind the kitchen: the picture was still not frozen! Was the remote control of the monitors not working as effectively as George had promised after all? Or did Shorsh not get a signal in the restroom?
I turned around to the door. Only then did I realise that one of the two clone warriors had left the room. I had been so engrossed in watching the room that I hadn’t noticed him leave. That did not bode well!
The president now became even more statesmanlike, presenting himself as an advocate for the whole world: „In such a situation, it is up to each of us to weigh carefully whether we should rather keep a threatened, fragile peace or strive to make the world safer for all of us. Does there even exist such a thing as a ‚half‘ peace? Isn’t peace an indivisible whole that already breaks into pieces when individual scoundrels menace it?“
At that moment, my eyes fell on one of the special agents in the president’s entourage. He had so far turned his back on me, and even now he had only briefly changed his position. Nevertheless, his face seemed strangely familiar to me.

Bilder /Images: Stefan Keller: Auge in einem Rad / Eye in a wheel (Pixabay); Schäferle (Elias): Silhouette einer Burg bei Nacht / Silhouette of a castle at night (Pixabay)

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