Die verlorene Heimat der polnischen Juden / The Lost Homeland of the Polish Jews

Karolina Cicha & Spółka feat. Bart Pałyga: Białystok majn hejm

Musikalischer Adventskalender, 15. Türchen / Musical Advent Calendar, 15th Door

To The English Version

Die jüdische Kultur und Musik hat in vielen Zusammenhängen des europäischen Geisteslebens ihre Spuren hinterlassen. Vieles ist allerdings von der nationalsozialistischen Barbarei für immer ausgelöscht worden. Einen musikalischen Wiederbelebungsversuch hat die polnische Künstlerin Karolina Cicha mit ihrem Album Yiddishland unternommen.

Białystok, meine Heimat

Noch immer lebt in mir die Hoffnung
auf die Rückkehr in die Heimat.
Wie gerne würd‘ ich mein Zuhause wiedersehn,
die Stadt, wo ich geboren wurde,
mein Zuhause, mein geliebtes Heim
aus Ziegeln, Holz und Lehm.

Sobald ich aber meine Augen schließe,
seh‘ ich die Galgen auf den Straßen,
Trümmer, Unrat und Ruinen.
Die Faschisten haben dich zerstört, Białystok,
meine geliebte Heimatstadt.

Białystok, jede Straße, jedes Haus
steht mir noch vor Augen.
Białystok, ich vermisse dich
wie ein Kind die Mutter.
Białystok, du bist mein schönster Traum.
Białystok, all meine Lieder handeln nur von dir.

Was ist mein größter Wunsch?
Die Tränen meiner Mutter möcht‘ ich trocknen,
das ist mein größter Wunsch.
Białystok, du bist mein schönster Traum.
Wie gerne würde ich dich wiedersehen!
Białystok, jetzt wohne ich ganz
in meinen Liedern über dich.

Im Fenster scheint es, spiegeln sich,
die blassen Blicke meiner Mutter.
Ich weiß, sie bittet mich um Trost,
sie wartet, und sie weiß,
dass sie Erlösung finden wird.

Den schönsten Tag sehe ich kommen,
mit neuem Dach und Tür und Fenster,
den Tag der Befreiung, den Tag der Erlösung,
an dem wir vor Freude weinen werden.

Białystok, jede Straße, jedes Haus …

Karolina Cicha & Spółka feat. Bart Pałyga: Białystok majn hejm (polnisch); aus: Jidyszland / Yiddishland (2015)

Liedtext (polnisch)

Die jüdische Vergangenheit Białystoks

2013 veröffentlichte die 1979 im ostpolnischen Białystok geborene Sängerin, Schauspielerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin Karolina Cicha das Album Wieloma Językami (In vielen Sprachen). Darauf stellt sie zusammen mit Bart Pałyga und der Band Spółka die Musik der ethnischen Minderheiten vor, die in der Podlasien bzw. Podlachien genannten Region um Białystok zu Hause sind.
Während ihrer Arbeit an dem Projekt ist Cicha auch die reiche Tradition der jüdischen Musik in Polen zum Bewusstsein gekommen: Białystok war vor dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Stadt zu Russland gehörte, waren sogar zwei Drittel der Einwohner jüdisch. Dies änderte sich erst durch das Pogrom von 1906, das eine massive Auswanderungswelle unter der jüdischen Bevölkerung auslöste.
Ihre Beschäftigung mit der jüdischen Vergangenheit Białystoks bewegte Cicha dazu, der jüdischen Musik der Region ein eigenes Album zu widmen. Das Ergebnis veröffentlichte sie 2015 unter dem Titel Jidyszland / Yiddishland. Für das Album, das sie wieder zusammen mit der Band Spółka eingespielt hat, hat Cicha Archive durchstöbert und sich mit Spezialisten für Hebräisch und Jiddisch beraten. Am Ende hat sie 12 Lieder bzw. Gedichte ausgewählt, die sie entweder eigens für das Album vertont oder neu interpretiert hat.

Entstehungsgeschichte des Liedes

Das erste Lied auf dem Album trägt den Titel Białystok majn hejm (Białystok, meine Heimat / mein Zuhause) – nicht zu verwechseln mit der klassischen Białystok-Hymne gleichen Namens. 1942 von einem jüdischen Flüchtling in Taschkent geschrieben, blickt das Lied aus der Distanz zurück auf die verlorene Heimat. In der Erinnerung lässt es noch einmal das alte, jüdisch geprägte Białystok auferstehen.
Die nationalsozialistische Auslöschung des jüdischen Białystok wird zwar erwähnt, jedoch der Idylle der alten Straßen und Häuser gegenübergestellt, nach denen das Ich sich zurücksehnt „wie ein Kind, das seine Mutter vermisst“. Dieser „Mutter“ – und vielleicht auch der in Białystok zurückgelassenen leiblichen Mutter – gilt das Versprechen, eines Tages zurückzukehren und das zerstörte jüdische Leben zu erneuern.

Besonderheiten von Cichas Interpretation des Liedes

Das Besondere an Cichas Interpretation des Liedes ist es, dass sie die unerfüllt gebliebene Erneuerungshoffnung auf der Ebene der Musik einlöst. Denn Cicha trägt das Lied nicht so vor, wie es seinerzeit vielleicht gesungen worden wäre. Stattdessen baut sie zwar Elemente der jüdischen Klezmer-Musik in ihre Interpretation ein, verbindet diese jedoch mit modernem Ethno-Jazz.
So wirkt die Musik nicht veraltet, sondern durchaus gegenwärtig – und gibt dadurch der jüdischen Kultur, von der sie zeugt, einen Platz im heutigen (wenigstens musikalischen) Alltag.
Diesem Prinzip folgt auch der Videoclip zu dem Lied. In Schwarz-Weiß gedreht, verweist er zwar darauf, dass das jüdische Leben, von dem das Lied handelt, größtenteils vernichtet worden ist. Gleichzeitig lassen Cicha und der sie begleitende Bart Pałyga das jüdische Leben aber mit ihrer lebendigen Vortragsweise wiederauferstehen.
Indem sie dabei musizierend durch die Straßen von Białystok ziehen, verbinden sie die Musik – und damit auch die untergegangene Kultur – wieder mit dem gegenwärtigen Alltag der Stadt. Gleichzeitig machen eingeblendete Bilder aus der Vergangenheit und Erinnerungssequenzen mit älteren Menschen deutlich, was durch das nationalsozialistische Vernichtungswerk verloren gegangen ist.

Informationen zu dem Musikprojekt und zu Karolina Cicha auf culture.pl: Yiddishland – Karolina Cicha & Spółka

Mehr zum Thema: Jüdische Musik aus Polen

Karolina Cicha; uploaded by czarna_dziura on last.fm, December 5, 2010

English Version

The Lost Homeland of the Polish Jews

Karolina Cicha & Spółka feat. Bart Pałyga: Białystok majn hejm

Jewish culture and music have left their mark on many areas of European life. Much of it, however, has been erased forever by Nazi barbarism. With her album Yiddishland, the Polish artist Karolina Cicha has made an attempt at musical revival.

Białystok, my Home

I haven’t given up hope
to return to the city where I was born,
to see my home again, my beloved home,
made of wood and bricks and clay.

But as soon as I close my eyes,
I see the gallows in the streets,
garbage, ruins and debris.
The fascists have destroyed you, Białystok,
my beloved hometown.

Białystok, I remember every street and every house.
Białystok, I miss you like a child misses its mother.
Białystok, you are my most beautiful dream.
Białystok, all my songs turn around you.

What is my greatest wish?
I want to dry my mother’s tears –
that is my greatest wish.
Białystok, you are my most beautiful dream.
How I would love to return to you!
Białystok, now I live entirely
in my songs about you.

In the window, it seems, are reflected
the pale glances of my mother.
I know she’s asking me for consolation,
she’s waiting, and she knows
that she will find redemption.

I see the most beautiful day coming,
with a new roof and door and window,
the day of liberation, the day of renewal,
when we will weep with joy.

Białystok, I remember …

Karolina Cicha & Spółka feat. Bart Pałyga: Białystok majn hejm(Polish); from: Jidyszland / Yiddishland (2015)

The Jewish Past of Białystok

In 2013, Karolina Cicha, a singer, actress and literary scholar born in 1979 in Białystok (Eastern Poland), released the album Wieloma Językami (In Many Languages). On it, she presents, together with Bart Pałyga and the band Spółka, the music of the ethnic minorities native to the region around Białystok called Podlasia or Podlachia.
During her work on the project, Cicha also became aware of the rich tradition of Jewish music in Poland: Białystok was an important center of Jewish life before World War II. At the beginning of the 20th century, when the city belonged to Russia, as many as two-thirds of the inhabitants were Jewish. This changed only after the pogrom of 1906, which led to a massive wave of emigration among the Jewish population.
Her involvement with Białystok’s Jewish past inspired Cicha to dedicate a separate album to the Jewish music of the region. The result was released in 2015 under the title Jidyszland / Yiddishland. For the album, which she recorded again with the band Spółka, Cicha scoured archives and consulted with specialists in Hebrew and Yiddish. In the end, she selected 12 songs or poems that she either reinterpreted or set to music especially for the album.

Genesis of the Song

The first song on the album is entitled Białystok majn hejm (Białystok, my home / homeland) – not to be confused with the classic Białystok anthem of the same name. Written in 1942 by a Jewish refugee in Tashkent/Uzbekistan, the song looks back at the lost homeland from a distance. In memory, it once again evokes the old, Jewish Białystok.
The extermination of Jewish Białystok by the Nazis is mentioned, but contrasted with the idyll of the old streets and houses, for which the self longs back „like a child missing its mother.“ To this „mother“ – and perhaps also to the real mother left behind in Białystok – the promise is made to return one day and renew the destroyed Jewish life.

Special Features of Cicha’s Interpretation of the Song

What is special about Cicha’s interpretation of the song is that it satisfies the unfulfilled hope of renewal on the level of music. Cicha does not perform the song as it might have been sung at the time it was written. Instead, she combines elements of Jewish klezmer music with modern ethno-jazz.
In this way, the music does not seem outdated, but quite contemporary – and thus gives the Jewish culture to which it bears witness a place in today’s (at least musical) everyday life.
This approach is also taken up in the video clip for the song. Shot in black and white, it points out that most of Białystok’s Jewish life has been destroyed. At the same time, however, Cicha and Bart Pałyga, who accompanies her, bring Jewish culture back to life with their vibrant performance.
By playing music as they wander through the streets of Białystok, they reconnect the music – and with it the vanished culture – with the city’s contemporary everyday life. Simultaneously, interspersed images from the past and memory sequences with older people make clear what was lost through the National Socialist extermination.

Information about the music project and Karolina Cicha on culture.pl: Yiddishland – Karolina Cicha & Spółka

Titelbild / Title image: Die Synagoge von Białystok auf einer Postkarte aus dem Jahr 1920 / The synagogue of Białystok on a postcard from 1920

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