Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 26 / Diary of a Shadowless man, Part 26
Dienstag, 1. August
Soll ich Lina vielleicht doch noch einmal anrufen? Der Gedanke, sie könnte auch etwas mit dieser im wahrsten Sinne des Wortes obskuren Firma zu tun haben, lässt mir keine Ruhe. Und außerdem: Wenn Lina mit Shadow Colours Kontakt hatte (oder immer noch hat), kann sie mir bestimmt auch etwas über die S.E.S. berichten. Bei dieser ominösen Behörde muss ich nämlich baldmöglichst „vorstellig werden“, wie man das in den Kreisen wohl nennt.
Wahrscheinlich ist es das Beste, wenn ich zunächst die gestrigen Ereignisse noch einmal Revue passieren lasse.
Der Jäger der Schattenlosen
Mit einiger Wut im Bauch war ich schließlich vom Computer aufgesprungen, um dem hartnäckigen Klingeln und Klopfen an meiner Tür ein Ende zu bereiten. Ich war fest entschlossen, den Schattenhändler – denn wer anders als er konnte mich auf diese Weise bedrängen? – ein für alle Mal in die Schranken zu weisen. Mir war auf einmal selbst unbegreiflich, wie er mich so um den Finger hatte wickeln können. Nun, ich würde ihm schon klarmachen, dass ich nicht gewillt war, mich weiterhin von ihm zum Narren halten zu lassen!
Als ich aber die Haustür aufriss, stand mir nicht der Schattenhändler, sondern ein kleiner, etwas gedrungen wirkender Mann gegenüber, den ich nie zuvor gesehen hatte. Pikiert über meine ungestüme Begrüßung, trat er einen Schritt zurück. Seine seitlich gescheitelten Haare glänzten im Licht des Hausflurs. Ob sie nur lange nicht gewaschen oder mit Pomade eingerieben worden waren, konnte ich auf die Schnelle nicht erkennen.
„Was soll denn dieser Klingelterror? Können Sie nicht warten?“ fuhr ich ihn an.
Der Mann vor mir ließ sich durch meinen rüden Ton keineswegs aus der Ruhe bringen. Scheinbar gleichgültig – wie bei einer Fahrkartenkontrolle, wenn man das ordnungsgemäß entwertete Billett aus der Tasche zieht – nestelte er aus der Brusttasche seiner abgenutzten Anzugjacke eine Klarsichthülle, durch die ein Passfoto und eine Dienstmarke hindurchschimmerten.
„Tramer, Schattenermittlungsbeauftragter“, stellte er sich vor. „Ich bin Bevollmächtigter der Schattenermittlungsstelle, kurz S.E.S. …“ Er ließ das seltsame Kürzel bedeutungsschwer im Raum stehen, als sollte es mir irgendetwas sagen. Ich aber sah ihn nur verständnislos an.
„Ich weiß beim besten Willen nicht, wovon Sie reden“, bekannte ich unwirsch. Es ärgerte mich, dass offenbar noch andere Leute als der Schattenhändler in meinem Leben herumschnüffelten. Mit dem wäre ich jetzt schon fertig geworden. So aber musste ich mich erst wieder auf die neue Situation einstellen.
„Denken Sie nicht, Herr C., wir sollten uns für die Besprechung der Angelegenheit in Ihre Wohnung begeben?“ Er sah sich auffällig im Hausflur um, wie um den delikaten Charakter seines Besuchs zu betonen. Dabei wäre es doch eigentlich an ihm gewesen, sich für seinen unhöflichen Auftritt zu schämen!
Mit einer ausladenden Handbewegung wies ich in die Wohnung. „Bitte, fühlen Sie sich wie zu Hause!“ forderte ich ihn sarkastisch auf.
Allerdings wirkte meine Ironie wohl etwas bemüht. In Wahrheit war mir ganz und gar nicht zum Scherzen zumute. Schließlich war auch diesem Fremden mein Name geläufig wie der eines bekannten Filmschauspielers. Sicher hatte auch er mich schon längere Zeit durch sein Netz-Fernrohr beobachtet. (Nein, ich werde meinen Nachnamen hier trotzdem nicht preisgeben! Wer immer mir gerade auf die Finger schaut, soll wissen, dass ich nicht gewillt bin, es ihm allzu leicht zu machen!)
Im Unterschied zum Schattenhändler, der seine Unterlagen in einem blank polierten Koffer mit sich geführt hatte, hielt der Herr von der S.E.S. eine zerschlissene Aktentasche in der Hand. Diese stellte er neben dem Esstisch ab wie ein Lehrer, der seine Schüler mit dem Blick auf die Prüfungsunterlagen auf die Folter spannen möchte. Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch, verschränkte die Hände ineinander und blickte mir mit der behaglich-sadistischen Freundlichkeit des Examinators ins Gesicht. Das verhieß nichts Gutes.
„Nun denn, Herr C.“, begann er, „Theo C., wenn ich mich nicht irre …“
Er machte Anstalten, nach seiner Aktentasche zu greifen, um meine Personalien zu überprüfen, aber ich bekannte mich anstandslos zu meinem Namen.
Ein tadelnder Blick traf mich. „Also, Herr C., ich nehme doch an, dass Sie sich der Tragweite ihres Fehlverhaltens bewusst sind?“
Ich entschloss mich, dieses Mal in die Offensive zu gehen, zumal ich keine Lust hatte, mich von dem speckigen Männlein einem längeren Verhör unterziehen zu lassen: „Wenn Sie auf meine Schattenlosigkeit anspielen wollen, dann sagen Sie das offen und tun Sie nicht so geheimnisvoll!“
Er lächelte fein. „Ich dachte, es wäre in Ihrem Interesse, wenn wir dieses Problem vorläufig nicht an die große Glocke hängen.“ Abschätzig sah er sich in meinem Zimmer um. „Es scheint mir fast“, konstatierte er, „dass Sie mit den Bestimmungen des SVG nicht recht vertraut sind.“
Ich war verwirrt. Es ärgerte mich, dass es ihm nun doch gelungen war, mich aus der Fassung zu bringen. „Was soll das heißen – SVG?“ fragte ich, schon etwas entgegenkommender im Ton. Schließlich wusste ich nicht, über welche Machtbefugnisse der Mann verfügte.
Herr Tramer schüttelte den Kopf. Die Augenbrauen wölbten sich zu einer Missbilligung, die fast schon Abscheu verriet. „Haben Sie wirklich noch nie etwas vom Schattenverlustgesetz gehört? Mein lieber Herr C.: Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie über ein halbes Jahr lang ohne Schatten durch die Welt gelaufen sind und sich nicht ein einziges Mal gefragt haben, welche Vorschriften der Gesetzgeber für einen solchen Fall erlassen hat!“
English Version
Tuesday, August 1
Should I perhaps call Lina again after all? The thought that she might also have something to do with this literally obscure company still haunts me. And besides, if Lina had (or still has) contact with Shadow Colours, she can surely tell me something about the SIA – an enigmatic agency I’ll probably have to visit soon.
Maybe it’s best if I first review yesterday’s events.
The Hunter of the Shadowless
Full of rage, I had finally jumped up from the computer to end the persistent ringing and knocking at my door. I was determined to put the shadow dealer – who else but he could harass me in this way? – in his place once and for all. Now I myself wondered how he could have wrapped me around his finger like that. Well, I would make it clear to him that I was not willing to let him fool me any longer!
But when I opened the door with a furious swing, it was not the shadow dealer who stood opposite me, but a short, somewhat stocky-looking man I had never seen before. Piqued by my impetuous greeting, he took a step back. His hair, parted on the side, shone in the light of the hallway. Whether it had just not been washed for a long time or had been rubbed with pomade, I could not tell at first glance.
„Why the hell are you ringing like crazy? Can’t you wait?“ I snapped at him.
The man in front of me was not at all put off by my rude tone. Seemingly indifferent – like at a ticket check when you show the properly validated ticket – he took a transparent envelope from the breast pocket of his unfashionable suit jacket, through which a passport photo and an official badge were shimmering.
„Cramer, Shadow Investigation Officer,“ he introduced himself. „I’m a plenipotentiary of the Shadow Investigation Agency, SIA for short …“
He let the strange abbreviation resonate meaningfully, as if it was supposed to tell me something. But I just looked at him uncomprehendingly.
„I really don’t know what you’re talking about,“ I admitted gruffly. It annoyed me that there were obviously more people than the shadow dealer snooping around in my life. This guy from Shadow Colours wouldn’t have scared me anymore. But as it was, I had to readjust to a completely new situation.
„Don’t you think, Mr C., that we should go inside to discuss the matter?“ The peculiar visitor looked around the hallway conspicuously, as if to emphasise the delicate nature of his concern.
With a sweeping gesture of my hand, I pointed into the flat. „You are welcome, make yourself at home!“ I invited him sarcastically.
But my irony probably seemed a bit forced. In truth, I was not at all in the mood for joking. After all, even this stranger was familiar with my name, as if I were a famous film actor. Surely he too had been watching me through his net telescope for quite a while. (No, I will not reveal my surname here anyway! Whoever is watching me right now should know that I am not willing to make it too easy for him).
Unlike the shadow dealer, who had carried his documents in a brightly polished case, the representative from the S.E.S. held a worn leather briefcase in his hand. This he placed beside the dining table like a teacher who wants to keep his pupils on tenterhooks by looking at the examination papers. He sat down opposite me at the table, clasped his hands together and looked me in the face with the complacent sadistic kindness of an interrogator. That did not bode well.
„Well then, Mr C.,“ he began, „Theo C., if I’m not mistaken …“
He made an effort to reach for his briefcase to check my personal details, but I professed to be myself straight away.
A reproving look met my eyes. „So, Mr. C., I assume you are aware of the implications regarding your misconduct?“
I decided to go on the offensive this time, especially as I had no desire to be subjected to a prolonged interrogation by the sleazy figure: „If you want to allude to my shadowlessness, then say it openly and don’t act so secretive!“
He smiled subtly. „I thought it would be in your interest not to make a big fuss about your little, say, blemish for the time being.“ Disparagingly, he looked around my room. „It almost seems to me,“ he stated, „that you are not quite familiar with the provisions of the SLA.“
I was confused – and at the same time annoyed that he had managed to unsettle me in the end. „SLA.? What does that mean?“ I asked, a little more accommodating in tone. After all, I didn’t know what kind of powers this man – ridiculous as he seemed – was entitled to.
Mr. Cramer shook his head. His eyebrows arched in a disapproval that almost showed disgust. „Are you seriously trying to tell me that you have never heard of the Shadow Loss Act? My dear Mr. C.: Surely you don’t want me to believe that you have been walking through the world without a shadow for over half a year and have never once asked yourself what regulations the legislator has enacted for such a case!“