Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 16 / Diary of a Shadowless Man, Part 16
Freitag, 21. Juli
Seltsam … An das Telefonat mit Karsten, das ich damals, nachdem ich mir meiner Schattenlosigkeit vollends bewusst geworden war, geführt habe, habe ich gar nicht mehr gedacht. Erst jetzt, im Zuge meiner systematischen Rekonstruktionsarbeit, ist es mir wieder eingefallen. Ich muss es wohl verdrängt haben.
Natürlich sind mir heute, über ein halbes Jahr nach dem Telefonat, nur noch Bruchstücke des Gesprächs in Erinnerung. Ich will dennoch versuchen, aus den in meinem Kopf herumschwirrenden Wortfetzen ein Ganzes zu formen – auch wenn ich mir bewusst bin, dass ich die Höhle des Vergessens damit nur wieder mit einer neuen Decke aus Fiktionen auskleide.
Geschichte eines Schattenverlusts: 11. Telefonat mit einem Arbeitskollegen
Ich sehe mich noch nach dem Handy greifen und die Nummer von Karsten wählen. Ein kurzes Tuten, dann hörte ich seine Stimme: „Ja bitte?“
„Hallo, hier ist Theo!“ Ich bemühte mich, entspannt zu wirken, merkte aber, dass mir das nur schlecht gelang. In der Dunkelheit klang meine Stimme wie zerspringendes Glas, und ich selbst war der Einbrecher, der das Geräusch durch eine unvorsichtige Bewegung ausgelöst hatte.
Für einen endlosen Augenblick war es still in der Leitung. Dann fragte Karsten: „Na, altes Haus, wieder von den Toten auferstanden?“
„Ja, danke“, murmelte ich, „es geht mir wieder besser.“ Die Allerweltsredewendung, die er benutzt hatte, löste ein merkwürdiges Unbehagen in mir aus.
Karsten fuhr fort, in der unverbindlich-kollegialen Art mit mir zu reden: „Du warst wohl ziemlich knülle gestern Abend, was?“
Gestern Abend? War der Betriebsausflug wirklich erst 24 Stunden her? „Ich weiß nicht“, redete ich mich heraus. „Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“
Karsten lachte. „Na siehst du! Sag‘ ich doch! – Mein Lieber, du musst einen ganz schönen Rausch gehabt haben. Aber wir andern waren ja auch nicht mehr ganz nüchtern – sonst hätten wir dich bestimmt vom Weitersaufen abgehalten.“
„Wie … wie bin ich eigentlich nach Hause gekommen?“ erkundigte ich mich vorsichtig. „Ich meine, bei unserer Teamsitzung, als ich …“
„Als du aus den Latschen gekippt bist?“ unterbrach Karsten mich, um einen frotzelnden Unterton bemüht. „Du bist doch plötzlich weggerannt – weißt du das wirklich nicht mehr? Aber Sabrina und Nobby sind dir nachgerannt. Kann sein, dass die dich nach Hause gekarrt haben.“
„Sag‘ mal, Karsten …“ Ich zögerte. Schließlich hatte ich angenommen, Karsten selbst hätte mich nach Hause gebracht – ein Gedanke, der mir jetzt völlig abwegig vorkam.
„Ja?“ Täuschte ich mich, oder klang seine Stimme wirklich leicht genervt?
„Ach nichts“, gab ich entmutigt zurück. „Ich dachte nur … Als ich vor euch an dem Whiteboard gestanden habe … Als ihr mich da angeschaut habt …“
Karsten wurde plötzlich ernster, fast väterlich: „Mach dir mal keine Sorgen, Alter. Das wird schon wieder. Wir haben ja alle so unsere kleinen Macken, und es …“
„Nein“, beharrte ich, „ich meine, als ich vor dem Whiteboard stand, in dem Lichtstrahl, da habt ihr doch wahrscheinlich … Ihr müsst doch …“
Karsten lenkte ab. Es war deutlich zu spüren, dass ihm das Thema unangenehm war: „Hey! Ich sag‘ dir doch, dass das kein Beinbruch war! Jetzt ruhst du dich erst mal ordentlich aus, und dann wird alles wieder seinen geregelten Gang gehen. Nur der Chefin schuldest du natürlich eine Erklärung.“
Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde. „Ja, klar … Hat sie was gesagt zu meinem Auftritt?“
„Nichts Bestimmtes, glaub‘ ich. Wir waren halt alle erst mal … nun, sagen wir: beunruhigt, als du da so reingetorkelt gekommen bist. Aber wie gesagt, das kann ja jedem mal passieren.“ Er klang auf einmal seltsam entfernt – als hätte er das Handy auf laut gestellt, um die Hände für etwas anderes frei zu haben.
Ich nahm noch einen weiteren Anlauf: „Habe ich wirklich nur verkatert gewirkt, als ich …?“
„Warte mal“, fiel er mir erneut ins Wort, „bei mir klingelt’s gerade an der Tür.“
Ich hatte nichts gehört. Aber es gibt ja auch leisere Türklingeln, die man durchs Telefon nicht unbedingt wahrnimmt. In jedem Fall war die kurze Gesprächspause für mich sehr hilfreich. Ich sah nun ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit Karsten über den Vorfall zu reden.
„So, da bin ich wieder“, hörte ich ihn nach einer Weile sagen. Mir schien, als würde er die Luft stoßweise ausatmen, wie jemand, der sich gerade eine Zigarette angezündet hat.
„Wenn du Besuch hast, machen wir besser Schluss“, bot ich an. „Ich kann ja später noch mal anrufen.“
Ich hörte, wie Karsten an der Zigarette sog. In das Ausatmen des Rauchs hinein sagte er: „Wenn’s dir nichts ausmacht …“
„Aber nein“, bekräftigte ich, „kein Problem!“
Karsten klang spürbar erleichtert. „Also dann: Kopf hoch!“ tröstete er mich zum Abschied. „Wir werden das Kind schon schaukeln!“
Einen Moment lang blieb ich gedankenverloren neben dem Handy stehen. Warum hatte ich Karsten überhaupt angerufen? Was hatte ich mir davon versprochen? Schließlich griff ich, einem spontanen Impuls folgend, nach dem Trenchcoat und ging aus dem Haus.
English Version
Friday, July 21
Strange … The telephone conversation I had with Carsten back then, after I had become fully aware of my shadowlessness, had completely slipped my mind. Only now, in the course of my systematic reconstruction work, has it come back to my memory. I must have somehow repressed it.
Of course, today, more than half a year after the phone call, I only remember fragments of the conversation. Nevertheless, I will try to form a whole out of the scraps of words whirling around in my head – even if I am aware that in doing so, I am only lining the cave of forgetfulness with a new tapestry of fictions.
Story of a Shadow Loss: 11. Phone Call with a Colleague
I can still see myself reaching for the mobile phone and dialling Carsten’s number. A short toot, then I heard his voice: „Hello?“
„Hi, this is Theo.“ I tried to appear relaxed, but realised that I was doing a poor job of it. In the darkness, my voice sounded like shattering glass, and I myself was the intruder who had triggered the noise with a careless movement.
For an endless moment there was silence on the line. Then Carsten asked: „Hey, old chap, back from the dead again?“
„Yes, indeed,“ I murmured, „I feel better again.“ The commonplace phrase he had used provoked a strange uneasiness in me.
Carsten continued to talk to me in the non-committal collegial manner: „I guess you were pretty drunk last night, huh?“
Last night? Had the company outing really only been 24 hours ago? „I don’t know,“ I replied evasively, „I can’t remember exactly.“
Carsten laughed. „There you go! My dear, you must have had a pretty good buzz. But the rest of us weren’t quite sober any more either – otherwise we would certainly have stopped you from drinking any more.“
„How … how did I actually get home?“ I asked cautiously. „I mean, at our team meeting, when I …“
„When you fell off your feet?“ interrupted Carsten, striving for a joking undertone. „Well, you ran away all of a sudden – have you really forgotten about that? But Sabrina and Nobby followed you. So they possibly drove you home.“
„You know, Carsten …“ I hesitated. After all, I had assumed that Carsten himself had brought me home – a thought that now seemed completely absurd to me.
„Well?“ Was I mistaken, or did his voice really sound slightly annoyed?
„Oh, nothing,“ I returned, discouraged. „I just thought … When I stood in front of you all at the whiteboard …. when you looked at me there …“
Carsten suddenly became more serious, almost fatherly: „Don’t worry about it, dude. Everything will be fine. We all have our little quirks, and it…“
„No,“ I insisted, „I mean, when I was standing in front of the whiteboard, in the beam of light, you probably …. you must have …“
Carsten tried to avoid the subject. It was clear that he was uncomfortable with it: „Hey! I’m telling you, it wasn’t the end of the world! You just need a good rest and then everything will go back to normal. Of course, Ms. Zimmerman will expect an explanation from you.“
I felt my mouth go dry. „Yes, of course … Did she say anything about my … my performance?“
„Nothing special, I think. We were all just … well, let’s say: worried when you came staggering in like that. But as I said, this can happen to anyone.“ He suddenly sounded strangely distant – as if he had set the speakerphone function to free his hands for something else.
I made another attempt: „Did I really just seem hungover when I …?“
„Wait a minute,“ he cut me off again, „my doorbell just rang.“
I hadn’t heard anything. But there are indeed very quiet doorbells that you don’t necessarily notice through the phone. In any case, the short pause in the conversation was very helpful for me. I now realised that there was no point in continuing to talk to Carsten about the incident.
„So, here I am again,“ I heard him say after a while. It seemed to me that he was exhaling the air intermittently, like someone who had just lit a cigarette.
„If someone’s coming to see you, we’d better break up,“ I offered. „I can call back later.“
I heard Carsten take a drag on his cigarette. As he exhaled the smoke, he said: „Well, it you don’t mind …“
„Not at all,“ I affirmed, „no problem!“
Carsten sounded noticeably relieved. „Well then, cheer up!“ he comforted me as we said goodbye. „I’m sure we’ll work it out!“
For a moment I just stood there motionless, with the mobile phone in my hand, lost in thought. Why had I called Carsten in the first place? What had I expected from it? Finally, following a spontaneous impulse, I grabbed my trench coat and left the flat.