Kreislaufstörungen / Circulatory Problems

Tagebuch eines Schattenlosen, Teil 10 / Diary of a Shadowless Man, Part 10

English Version

Samstag, 15. Juli

Es gibt Tage, da sitze ich stundenlang am Fenster und versenke mich ganz in das hin und her wogende Meer der Passanten. Es tut mir gut, mich als einer von ihnen zu fühlen, als Teil einer amorphen Masse, die treibend getrieben wird, immer in Bewegung und doch im Stillstand der immer gleichen Bewegungsmuster geborgen.
Wenn ich aus diesen Tagträumen erwache, fühle ich mich wie Strandgut, das vom Meer ausgespuckt worden ist. Neidvoll blicke ich dann auf all die anderen, die noch fest in ihren Schatten verwurzelt sind. Auf all die in sich selbst ruhenden Menschen, die sich frei bewegen können, weil ihr dunkles Spiegelbild ihnen die Gewissheit gibt, sie selbst zu sein.
Nur ganz selten nehme ich das dunkelflackernde Schattenspiel anders wahr. Vor ein paar Tagen zum Beispiel, an einem Abend, als das schräge Sonnenlicht die Konturen der Schatten besonders deutlich auf den Asphalt gezeichnet hat: Da war es mir plötzlich, als wären die Rollen zwischen den Schattenwerfern und ihren Dienern vertauscht. Da schien es mir, als würden die Diener ihren Herren nicht folgen, sondern sie unerbittlich verfolgen, als wollten sie jede ihrer Bewegungen kontrollieren.
Aber das war nur ein ganz flüchtiges Gefühl, das ich schon jetzt nicht mehr nachempfinden kann. Erst recht nicht, wenn ich an jenen Morgen zurückdenke, an dem zum ersten Mal die Wunde des Schattenverlusts in mir gebrannt hat.

Geschichte eines Schattenverlusts

7. Kreislaufstörungen

Die ersten Sonnenstrahlen, die mich als Schattenlosen getroffen haben … Ich spüre sie noch immer wie glühende Lanzen auf meiner Haut. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich halbwegs von dem Schock erholt hatte.
Als ich die Augen vorsichtig öffnete, bemerkte ich, dass ich mitten auf dem großen Platz stand, in den die Fuß­gängerzone von Hadderstetten mündet. Mein Rücken presste sich gegen die Blutbuche in der Mitte des Platzes, unter deren blätterlosem Gerippe ich ziemlich verloren gewirkt haben muss. Einige Passanten blickten im Vorübergehen neugierig zu mir herüber, andere waren sogar stehen geblieben und sahen mich mit einer Mischung aus Erschrecken und Mitleid an.
Ich spürte, dass ich weiter­gehen musste, wenn ich peinliche Fragen vermeiden wollte. Dennoch gelang es mir nicht gleich, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Es war, als führten meine Glieder ein von meinem Kopf unabhängiges Eigenleben und hätten beschlossen, mit dem Baumstamm zu verwachsen.
So verharrte ich noch einige endlose Minuten – oder waren es doch nur Sekun­den? – in meiner merkwürdigen Haltung. Schließlich kam eine ältere Frau auf mich zu. „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte sie teilnahmsvoll.
„Doch-doch“, stammelte ich. Eine unsinnige Angst, sie könnte mich anfassen, überkam mich. Ich hatte das Gefühl, nur aus einer durchscheinenden Hülle zu bestehen, die bei der kleinsten Berührung zerfallen würde.
Die plötzlich in mir aufsteigende Panik gab mir schließlich die Kraft, mich ruckartig von dem Baum zu lösen und mich von den Umstehenden zu entfernen. Wie Nadelstiche trafen ihre Blicke mich in meinem Rücken. Ihr Kopfschütteln übertrug sich auf mich wie das Schlingern eines Schiffes in stürmischer See. Wahrscheinlich hielten sie mich für betrun­ken.
Hinter der nächsten Straßenecke fand ich einen Hauseingang, zu dem die Tür nur angelehnt war. Ohne zu überlegen trat ich ein und setzte mich auf die unterste Treppenstufe. Anfangs dachte ich, es seien Handwerker im Haus, bis ich merkte, dass das hämmernde Geräusch von dem Blutandrang in meinem Kopf herrührte.
Eine Weile lang habe ich wohl so dagesessen, ganz darauf konzentriert, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Als das Hämmern allmählich nachließ und mein Atem wieder etwas ruhiger ging, versuchte ich, mich genau an die Straßenzüge von Hadderstetten zu erinnern, um nicht unnötig Zeit mit der Suche nach einem Café zu verbringen. Kreislaufstörungen, dachte ich, das sind sicher nur Kreislaufstörungen! Ein reichhaltiges Frühstück mit einem kräftigen Kaffee, und schon würde es mir wieder besser gehen.
„Suchen Sie etwas?“ Glücklicherweise war ich schon aufgestanden, als die Stimme eines Hausbewohners mich von hinten traf. Ein weiteres ruckartiges Aufstehen, und mir wäre wohl endgültig schwarz vor Augen geworden.
„Nein-nein, nur die falsche Hausnummer“, murmelte ich und trat wieder auf die Straße. Mir war eingefallen, dass es auch in der Seitenstraße, in der sich der Hauseingang befand, ein kleines Café gab. So würde ich nicht noch einmal über den sonnenbe­schienenen Platz gehen müssen.
Mit dem Café hatte ich Glück. Nicht nur, dass ich es ohne größere Probleme fand – es war auch zu dieser frühen Stunde schon geöffnet. Ich ließ mich in der hintersten Ecke auf einen der plüschbezogenen Stühle fallen und bestellte ein „Frühstück spezial“.
Wahrschein­lich habe ich kaum wahrgenommen, wie mir das Frühstück serviert worden ist. Jedenfalls setzt meine Erinnerung erst wieder mit dem neugierig-besorgten Blick der Kellnerin ein, der mich dazu veranlasste, mich den vor mir aufgereihten Brötchen, Rührei­ern, Marmeladentöpfchen, Wurst- und Käseplatten zuzuwenden. Die Eier waren schon völlig erkaltet, der Kaffee war nur noch lauwarm.

English Version

Saturday, July 15

There are days when I sit for hours at the window and immerse myself completely in the sea of passers-by surging back and forth. It does me good to feel like one of them, part of an amorphous mass, driven and adrift at the same time, always in motion and yet sheltered in the stillness of the ever-repeated patterns of movement.
When I wake up from these daydreams, I feel like flotsam and jetsam spat out by the sea. Then I look enviously at all the others who are still firmly rooted in their shadows – at all the people resting in themselves and moving freely because their dark reflection gives them the certainty of being themselves.
Only very rarely do I perceive the dark flickering shadows differently. A few days ago, for example, on an evening when the slanting sunlight drew the contours of the shadows more clearly than usual on the asphalt: At that moment, it suddenly felt to me as if the roles were reversed between the shadow casters and their servants. It looked as if the servants did not follow their masters but pursued them relentlessly, controlling their every move.
But that was only a fleeting feeling, which now seems to me like someone else’s sensation – all the more so if I think back to that morning when the wound of losing the shadow burned inside me for the first time.

Story of a Shadow Loss: 7. Circulatory Problems

The first sunrays that hit me as a shadowless person … I can still feel them like glowing lances on my skin. It took some time until I had halfway recovered from the shock.
When I opened my eyes carefully, I noticed that I was standing in the middle of the large square into which the pedestrian zone of Hadderstetten opens. My back was pressed against the blood beech in the middle of the square, under whose leafless skeleton I must have looked pretty lost. Some passers-by glanced curiously at me, others even stopped and looked at me with a mixture of fright and pity.
I realised that I had to move on if I wanted to avoid embarrassing questions. Nevertheless, I did not immediately succeed in freeing myself from my torpor. It was as if my limbs had taken on a life of their own, independent of my head, and had decided to grow together with the tree trunk.
So I remained in my strange position for several endless minutes – or was it only seconds? Finally, an elderly woman approached me. „Are you unwell?“ she asked sympathetically.
„It’s … it’s all right,“ I stammered. A ridiculous fear that she might touch me came over me. I felt as if I consisted of nothing but a translucent shell that would shatter into pieces at the slightest touch.
The panic that suddenly rose in me finally gave me the strength to detach myself from the tree and move away from the bystanders. Like pinpricks, their gazes hit me in the back. Their head shaking affected me like the lurching of a ship in a stormy sea. They probably thought I was drunk.
At the next street corner I found an entrance to a house with the door ajar. Without thinking, I entered and sat down on the bottom step of the stairs. At first I thought there were workmen in the house. Only after a while did I realise that the pounding noise was coming from the rush of blood in my head.
For a while I must have sat there motionless, completely focused on not losing consciousness. Circulatory problems, I said to me, surely these are just circulatory problems! A hearty breakfast with a strong coffee would make me feel better again. Pull yourself together, I admonished myself, don’t be silly!
Gradually the hammering subsided and my breathing calmed down. I strained to remember the street layout in the centre of Hadderstetten exactly so as not to spend too much time looking for a café.
„Are you looking for something?“ Fortunately, I had already stood up when the voice of someone living in the house hit me from behind. Another jerky stand-up and I probably would have blacked out for good.
„No-no, just the wrong address,“ I muttered and stepped out.
I remembered that there was a small café nearby. That meant I didn’t have to walk across the sunlit square again for my breakfast.
I was indeed lucky with the café. Not only did I find it without any major problems – it was even open at this early hour. I sank into one of the plush chairs in the far corner and ordered the „Big Breakfast“.
Probably I hardly noticed how the breakfast was served to me. In any case, the first thing I remember after ordering is the curious, concerned look of the waitress, which made me turn to the rolls, scrambled eggs, jam pots, sausage and cheese platters lined up in front of me. The eggs were already completely cold, the coffee was only lukewarm.

Bild: Kalhh: Bäume / Trees (Pixabay); MysticsArtDesign: Spaziergang unter Bäumen / Walk under trees (Pixabay)

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