Der Einladung in den Palast der Eiskönigin konntest du nicht widerstehen. Zu reizvoll erschien dir die Aussicht, ihr sagenumwobenes Reich einmal aus der Nähe zu sehen.
Seltsame Gebilde empfangen dich in dem Palast, die an längst vergessene Saiten in dir rühren, ohne dass das Netz deiner Erinnerungen einen Halt darin fände. Der Boden in dem majestätischen Prunksaal ist von so makellosem Glanz, dass du dich ganz schwerelos fühlst. Es ist, als würdest du durch die Luft gehen. Der ganze Kosmos scheint sich in diesem Boden zu spiegeln – auch wenn dir natürlich bewusst ist, dass es sich dabei in Wahrheit nur um ein Abbild der Decke handelt, an der sich das Eis zu funkelnden Sternenhaufen verdichtet hat.
Hier und da gaukeln Eisblöcke dir die Existenz von Tischen und Sitzgelegenheiten vor. Da du jedoch kein Ruhebedürfnis empfindest, schenkst du dem keinerlei Beachtung und wanderst weiter durch den fremdartigen Palast. Je tiefer du in ihn eindringst, desto mehr wächst du hinein in diese Welt aus Eis, desto mehr blättert deine alte Heimat, das Feuerland, von dir ab.
Die Eiskönigin selbst bekommst du nicht zu Gesicht, doch hast du die ganze Zeit über das Gefühl, als wäre sie ganz in deiner Nähe. Ihre diamantenen Augen ruhen auf dir, das Lametta ihrer Haare bestäubt deine Haut mit Eiskristallen, und ihr Schnee-Atem trägt dich in einer unsichtbaren Sänfte durch den Raum. Zuweilen ist es dir auch, als würde ihr Gesicht sich in Formen entäußern, in denen du, ein Gefangener deiner inneren Bilder, die Gestalten deiner früheren Heimat zu erkennen meinst. Dann scheinen ihre Locken dir als silberne Zweige zu winken, und ihre Lippen spreizen sich zu wohlgeformten Blüten, während ihr Körper sich als glitzernde Matte über den Boden breitet. Ihre Arme aber umfangen dich mit der kühlen Euphorie eines Himmels, der dir die ewige Dauer aller Erscheinungen verheißt.
Gerade als du dich in den Gemächern der allgegenwärtigen Abwesenden zu Hause zu fühlen beginnst, verblasst diese jedoch zu einem Schatten, der den eben noch so vielgestaltigen Palast in eine dunkle Halle verwandelt. Das Blut gefriert dir in den Adern, du spürst, wie du deine Gestalt verlierst und selbst zu einem jener unbestimmten Gebilde erstarrst, die dich hier von allen Seiten umgeben. Und während die Eiskönigin ihre kalte, gleichmütige Hand um dein Herz legt, siehst du die Bruchstücke deines Lebens wie zerrissene Blütenwolle an dir vorbeitanzen.
English Version
The Ice Queen
The invitation to the palace of the Ice Queen was too tempting for you to resist. The prospect of seeing her legendary kingdom from close up seemed too appealing to you.
The palace welcomes you with bizarre shapes that stir long-forgotten strings in you, without the web of your memories finding a firm hold in them. The floor in the majestic hall is of such flawless splendour that you find yourself completely weightless. It feels as if you were walking through the air. The whole cosmos seems to be reflected in this floor – even though you are of course aware that what you see is only a reflection of the ceiling, where the ice has condensed into sparkling clusters of stars.
Here and there, blocks of ice suggest the existence of tables and seats. But since you feel no need to rest, you pay no attention to this and continue to wander through the peculiar palace. The deeper you penetrate into it, the more you become absorbed in this world of ice, the more your old home, the land of fire, flakes away from you.
The ice queen herself is not to be seen, and yet all the time you have the feeling that she is right next to you. Her diamond eyes are fixed on you, the tinsel of her hair sprinkles your skin with ice crystals, and her snow breath carries you through the room in an invisible palanquin. At times you feel as if her face were expressing itself in forms in which you, a prisoner of your inner images, recognise the figures of your former homeland. Then her curls seem to wave at you as silver branches, her lips widen into graceful blossoms, while her body spreads over the ground like a glistening carpet – and her arms embrace you with the frigid euphoria of a sky that promises you the eternal duration of all appearances.
But just as you begin to feel at home in the chambers of the omnipresent absentee, she fades into a shadow that transforms the glittering palace into a dark hall. The blood freezes in your veins, you feel yourself losing your shape and congealing into one of those indeterminate structures that surround you from all sides. And while the ice queen puts her cold, indifferent hand around your heart, you see the fragments of your life dance past you like dandelion dust.
Bilder: Liefdefjord, Svalbard: A look inside an iceberg (Wikimedia); Christian Birmingham: Illustration aus dem Buch „Hans Christian Andersen: The Snow Queen“, 2008
Nati
Ein beeindruckender Text. Heute hat er mich besonders berührt. Draußen alles weiß und kalt.
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Gamma Hans
Ich habe der Eiskönigin gesagt
kalte Hände
tun meiner alten Haut
nicht mehr gut.
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