21. Türchen des musikalischen Adventskalenders: Mikel Laboa: Txoria txori (nach einem Gedicht von Joxean Artze)
Wer die seltene Blume der Liebe entdeckt, wird sie vielleicht pflücken, um sie ganz für sich zu haben. Genau dadurch aber wird er sie verlieren.
Wenn man einen anderen Menschen liebt, wünscht man ihm natürlich nur das Beste: Gesundheit, innere Harmonie, Erfolg – und sicherlich auch ein größtmögliches Maß an Freiheit.
Für diese Freiheit gibt es allerdings zwei Beschränkungen. Zum einen gehen wir unausgesprochen davon aus, dass die Freiheit den Menschen, den wir lieben, nicht in die Arme eines anderen treibt. Zum anderen hoffen wir, dass die Freiheit sich nicht gegen ihn selbst richtet – dass seine Freiheit ihn also nicht auf Abwege führt, die seiner Gesundheit schaden oder ihn von der Erfüllung seiner Lebensträume wegführen könnten, ohne dass er dies merkt.
Damit kommt es bei der Freiheit, die wir einem geliebten Menschen lassen, immer auf die richtige Balance an. Totale Freiheit könnte leicht in Sorg- und Interesselosigkeit münden – und wäre damit das Gegenteil einer liebenden Hinwendung zu einem anderen. Setzt man der Freiheit dagegen zu enge Grenzen, so schießen im Garten der Liebe rasch die Unkräuter der Eifersucht und der Kontrollsucht aus dem Boden – Unkräuter, die die Liebesblüte am Ende ganz überwuchern und ersticken können.
Einen anderen Menschen zu lieben, bedeutet eben nicht, ihn sich selbst zu überlassen. Vielmehr geht die Liebe immer auch mit einem intensiven Mitschwingen mit der Person des anderen einher. So etwas ist nicht möglich, ohne dass wir uns ein Bild des anderen machen. Dieses darf ihn jedoch nicht auf einen bestimmten Entwicklungsstand festlegen oder ihn an ein abstraktes Ideal binden, sondern muss immer eine Skizze sein, die sich an seinen eigenen Möglichkeiten orientiert und ihn auf diese hin entwirft. Eben dies ist die besondere Verantwortung, die sich aus der Liebe ergibt.
Dass dabei auch die engen Verflechtungen eine Rolle spielen, die sich durch die Liebe zwischen einem selbst und dem anderen ergeben, liegt in der Natur der Sache. Die Kunst ist es jedoch, diese Verflechtungen nie zu Fesseln werden zu lassen. Erscheinen sie nicht mehr als natürlicher Teil des eigenen Lebens, der dieses auf ein anderes Ich hin erweitert, sondern als Routine oder gar Zwang, der dem eigenen Entfaltungsdrang Ketten anlegt, so entsteht rasch der Wunsch, diese Ketten abzuwerfen.
Die Liebe ist demnach Freiheit und Gebundensein zugleich. Nur wenn das eine sich organisch aus dem anderen ergibt, kann sie erblühen und auf Dauer gedeihen.
Diese scheinbar unpolitischen Gedanken lassen sich auch auf die Beziehung eines Staates zu den in ihm lebenden Menschen beziehen. Auch hier muss das Ziel die Ermöglichung größtmöglicher Freiheit für jeden einzelnen sein. Dies darf aber ebenfalls nicht mit Zügel- und Regellosigkeit verwechselt werden. Vielmehr muss die Freiheit jedes einzelnen dort beschnitten werden, wo sie die Freiheit anderer in unzumutbarer Weise einschränkt oder gar negiert.
Auch die Bildnisproblematik lässt sich auf die Beziehung zwischen Staat und Bürgern übertragen. Auch ein Staat mag wohl ein Bild seiner Bürger entwerfen dürfen, im Sinne eines Ideals, auf das hin er die Regeln für das Zusammenleben konzipiert. Dieses Bild darf aber niemals auf abstrakten Idealen oder gar auf den Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen beruhen. Es muss vielmehr stets an den allgemeinen Menschenrechten ansetzen, die die verschiedenen Wege zu individueller Erfüllung berücksichtigen und es den einzelnen ermöglichen, sie einzuschlagen.
In ähnlicher Weise ist spontan auch das baskische Gedicht Txoria Txori (Vogel, kleiner Vogel) von Joxean Artze verstanden worden, nachdem es Ende der 1960er Jahre von Mikel Laboa vertont worden war. Vordergründig ist das Lied über einen Vogel, den man nur dadurch an sich binden kann, dass man ihm die Flügel stutzt, eine Parabel auf die Freiheit. Es lässt sich auf die Situation eines Menschen beziehen, dem man aus Liebe, um ihn ganz zu besitzen, die Freiheit nimmt – der aber eben dadurch innerlich verkümmert und so am Ende nicht mehr der ist, als den man ihn lieben gelernt hat.
Unter der strengen Zensur der Franco-Diktatur ist das scheinbar unpolitische Lied im Baskenland auf die Situation des eigenen Volkes bezogen worden – dem die Freiheit genommen worden ist, um es dem abstrakten Ideal eines spanischen Nationalstaats zu unterwerfen. Heute genießt das Baskenland zwar eine weitreichende Autonomie, die die kulturelle und sprachliche Eigenart der Menschen dort anerkennt. Völlige Unabhängigkeit ist dem Land aber noch immer verwehrt. So ist Txoria Txori bis heute die inoffizielle Hymne des Baskenlandes, in der sich die Utopie eines selbstbestimmten Lebens widerspiegelt.
Mikel Laboa: Txoria txori (nach einem Gedicht von Joxean Artze); aus: Bat-Hiru (1974)
Text des Gedichts mit (französischen) Hintergrundinformationen zu Entstehung von Gedicht und Lied auf antiwarsongs.org
Vertonung von Mikel Laboa; mit spanischen Untertiteln:
Übersetzung
Infos zu Mikel Laboa auf baskultur.info
Über Joxean Artze
Der im Januar 2018 im Alter von 78 Jahren verstorbene Dichter gründete 1966 zusammen mit anderen Künstlern die bis 1972 bestehende Gruppe Ez Dok Amairu, die wichtige Impulse für die Erneuerung der baskischen Kultur geliefert hat. Zusammen mit seinem Bruder Jesús und mit Mikel Laboa hat er in den 1970er Jahren neuartige multimediale Aufführungen kreiert. Dabei kam ihm auch seine Kunstfertigkeit beim Spielen des traditionellen baskischen Perkussionsinstruments Txalaparta zugute.

English Version
The freedom of love and the love of freedom
21st door of the musical Advent calendar: Mikel Laboa: Txoria txori (after a poem by Joxean Artze)
Whoever discovers the rare flower of love will perhaps pluck it to have it all to himself. But precisely by doing so, he will lose it.
When we love another person, we naturally wish him or her only the best: health, inner harmony, success – and probably also the greatest possible degree of freedom.
However, there are two limitations to this freedom. Firstly, we unspokenly assume that the freedom will not drive the person we love into the arms of another. Secondly, we hope that it will not be turned against the loved one himself – that the freedom will not lead him astray in a way that could harm his health or lead him away from the fulfilment of his life’s dreams without him realising it.
This means that we always have to find the right balance in the freedom we give to a loved one. Total freedom could easily lead to carelessness and lack of interest – and would thus be the opposite of a loving devotion to another. If, on the other hand, we set too narrow limits on freedom, the weeds of jealousy and excessive control quickly spring up in the garden of love – weeds that can end up completely overgrowing and suffocating the blossom of love.
Loving another person precisely does not mean leaving him or her to his or her own devices. Rather, love is always accompanied by an intense resonating with the other person. This is not possible without forming an image of her or him. However, this picture must not limit the person to a certain level of development or bind him or her to an abstract ideal, but must always be a sketch that is oriented towards the person’s own possibilities and that designs him or her towards these. This is precisely the special responsibility that arises from love.
It is in the nature of the matter that the close entanglements arising from the love between oneself and the other person also play a role in this process. The special challenge here is never to let these entanglements become shackles. If they no longer appear as a natural part of one’s life, as something that expands it towards another self, but as a routine or even a constraint that puts chains on one’s own desire to grow, the wish to throw off these chains quickly arises.
Love is therefore freedom and boundedness at the same time. Only when one organically results from the other can it blossom and flourish in the long run.
These seemingly apolitical thoughts can also be applied to the relationship of a state to the people living in it. Here, too, the goal must be to ensure the greatest possible freedom for each individual. However, this must also not be confused with licentiousness and an absence of rules. Rather, the freedom of each individual has to be limited where it unreasonably restricts or even negates the freedom of others.
Even the issue of forming an image of others can be applied to the relationship between the state and its citizens. A state, too, may well create an image of its citizens, in the sense of an ideal towards which the rules for living together are conceived. However, this image must never be based on abstract ideals or even on the interests of single social groups. Rather, it has to be based on general human rights, which take into account the various paths to individual fulfilment and enable people to follow these paths.
In a similar way, the Basque poem Txoria Txori (Bird, little bird) by Joxean Artze has spontaneously been understood after it was set to music by Mikel Laboa in the late 1960s. On the surface, the song about a bird that can only be retained by clipping its wings is a parable of freedom. It can be related to the situation of a person who is deprived of freedom out of love, in order to possess him completely – and who, precisely because of this, withers away inwardly and in the end is no longer the person as whom one has learned to love him.
Under the strict censorship of Franco’s dictatorship, the seemingly apolitical song was related by the Basques to the situation of their own people – who were deprived of their freedom in order to subject them to the abstract ideal of the Spanish nation-state. Today, the Basque Country enjoys far-reaching autonomy that recognises the cultural and linguistic distinctiveness of the indigenous people. Complete independence, however, is still denied to the country. Thus, Txoria Txori is still the unofficial anthem of the Basque Country, reflecting the utopia of a self-determined life.
Mikel Laboa: Txoria txori (after a poem by Joxean Artze); from: Bat-Hiru (1974)
Text of the poem with (French) background information on the genesis of poem and song on antiwarsongs.org
Musical setting by Mikel Laboa; with Spanish subtitles
Translation
Info about Mikel Laboa in The Guardian, December 2008
About Joxean Artze
The poet passed away in January 2018 at the age of 78. Together with other artists, he founded the group Ez Dok Amairu in 1966, which lasted until 1972 and provided important impulses for the renewal of Basque culture. With his brother Jesús and with Mikel Laboa, he created innovative multimedia performances in the 1970s. In this, he also benefited from his skill in playing the txalaparta, a traditional Basque percussion instrument.
Bilder / Pictures: Gerd Altmann. Möwe / gull (Pixabay); Ksarasola: Joxean Artze und Mikel Laboa als Graffiti-Porträts auf einer Mauer im Baskenland, Februar 2019 (Wikimedia); Hintergrund 1: Oberholster Venita: Vogel (Pixabay); Hintergrund 2: Ractapoupolus (Pixabay)
Spinnradl-Sabine
Schöner Text.
🌟
Liebe zwischen Verbundensein und Freiheit.
Sie möchte sich geborgen und doch frei fühlen – dann kann sie gedeihen.
Liebe Grüße
Sabine vom 🕷 🕸
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rotherbaron
Danke und liebe Grüße zurück!
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Eve
Thank you so much. Your words and the music of your „calendsr“ are just wonderful.
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