Gott: Meisterbäcker oder Müßiggänger? / God: Master Baker or Meditator?

16. Türchen des musikalischen Adventskalenders: Marta sui Tubi: L’abbandono (Die Verlassenheit)

English Version

Vielleicht hat Gott uns verlassen. Vielleicht haben wir aber auch nur verlernt, seine Spuren in der Welt zu lesen.

Deus absconditus … der abwesende Gott … Gott hat uns verlassen, und nun treiben wir als Schiffbrüchige auf unserem morschen Weltenfloß durchs All …
Keine sehr angenehme Vorstellung. Auf der anderen Seite erscheint uns das Bild vom abwesenden Gott aber auch unmittelbar einleuchtend. Schließlich leben wir in einer Welt der Klima- und Naturkatastrophen, der Seuchen und Pla-gen, der gegenseitigen Ausbeutung und Vernichtung, der beständigen Missachtung der Würde von Mensch und Tier. Wie soll Gott in einer solchen Welt an-wesend sein?
Um allerdings die Frage von Gottes An- oder Abwesenheit beantworten zu können, müssen wir uns zunächst über unser Bild der Schöpfung klar werden. So könnten wir uns Gott beispielsweise als Meisterbäcker vorstellen, der ständig neue Rezepte ausprobiert und das Universum dann mit den Ergebnissen seiner Backkünste bestückt. Die Erde wäre dann vielleicht etwas Ähnliches wie ein Kuchenteig, der nicht richtig aufgeht und nun, von Gott als gescheiterter Versuch ad acta gelegt, in der großen Brodelküche des Universums vor sich hinfault.
Auf der anderen Seite könnten wir in Gott aber auch eine Art Müßiggänger sehen, der immer wieder Steinchen in den großen Teich des Universums wirft. In diesem Fall gäbe es zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Schöpfung. Zum einen könnten wir uns Gott wie einen unbeteiligten Betrachter vorstellen, der schlicht zusieht, in welchen Formen die Wellen des Universum-Teichs sich durch seinen Steinwurf anordnen. Zum anderen ließe sich aber auch argumentieren, dass der Stein – da er ja von Gott geworfen worden ist – als immerwährende göttliche Spur in der Schöpfung präsent sein muss.
In letzterem Fall wäre das Konstrukt eines abwesenden Gottes logisch unmöglich. Wenn es uns so scheint, als wäre er abwesend, so liegt das nach dieser Betrachtungsweise lediglich daran, dass wir – um im Bild zu bleiben – die Spur des göttlichen Steins verloren haben. Dies nämlich ist auch dann möglich, wenn wir uns Gott als müßiggängerischen Steinewerfer vorstellen. Denn ein solches Bild schließt ja keineswegs aus, dass Gott seiner Schöpfung in ihrer Entwicklung die-selbe Freiheit und Eigendynamik lässt, die auch der Steinewerfer dem Teich, der seinen Stein aufnimmt, zugestehen muss.
So betrachtet, verhält es sich also vielleicht genau umgekehrt: Nicht Gott hat uns verlassen, sondern wir haben Gott im Stich gelassen. Weil wir das aber nicht wahrhaben wollen, benehmen wir uns wie verwöhnte Kinder, die sich ihre Verfehlungen nicht eingestehen wollen und stattdessen ihre Eltern für ihre Missgriffe und Missgeschicke verantwortlich machen.
Mit anderen Worten: Vielleicht müssen wir uns einfach noch einmal neu auf die Suche nach den Spuren des göttlichen Steinwurfs begeben. Womöglich wird sich dann das Gefühl dieser unendlichen Verlassenheit ganz von selbst in Luft auflösen.
Auf diesen Gedanken spielt auch der Song L’abbandono (Die Verlassenheit) der italienischen Band Marta sui Tubi an. Hier ist es Gott selbst, der aus dem Zustand seiner Abwesenheit heraus über seine Schöpfung sinniert. Dabei stellt er klar, dass er den von ihm verlassenen Welten „sehr deutliche Spuren hinterlassen“ – nur dass diese „jeder falsch deutet“. Mit der nötigen geistigen Anstrengung sei es jedoch durchaus möglich, ihn als „winzige[n] Teil“, der in allem Sei-enden präsent ist, zu erkennen.
Der 2005 beim Meeting der Indepent-Labels als „bestes Video“ ausgezeichnete Clip zu dem Song veranschaulicht die thematisierte Verlassenheit der Menschen auf ironische Weise mit einem handgestrickten, sandmännchenhaften Zeichentrickfilm, der die Blickrichtung umdreht: Nicht Gott verlässt hier den von ihm geschaffenen Planeten, sondern er selbst ist es, der die Menschen ver-stößt, indem er sie mit einer Wunderkerzenrakete in die Finsternis des Univerums hinausschießt.

Marta sui Tubi: L’abbandono (Die Verlassenheit); aus: C’è gente che deve dormire (Es gibt Menschen, die schlafen müssen, 2005)

Live-Version

Interview mit Marta sui Tubi auf rockit.italy

Liedtext

Übersetzung

Die Verlassenheit

Die Häuser, in denen ich gelebt habe,
waren Himmel, die in eine Schachtel eingeschlossen waren.
Und ich habe sehr deutliche Spuren hinterlassen,
die nur jeder falsch deutet.

Die Erziehung sorgt nicht dafür,
dass man gut fortgehen kann,
ohne dass es schlecht steht
um die Morgendämmerung, die in mir lebt.

Im Grunde ist auch ein Planet nichts anderes als
eine Schachtel,
nur ein wenig kugelförmig.

Die Dinge, die ich nicht mitgenommen habe,
waren jene, die ich nicht gewollt habe,
jene, die ich aussortiert habe,
bevor ich fortgegangen bin …

Ich bin ein winziger Teil von dir, von mir und von dir,
nur ein winziger Teil,
nur ein winziger Teil von dir, von mir und von dir,
nur ein winziger Teil.

Über Marta sui Tubi

Die Band Marta sui Tubi wurde 2002 von dem 1971 geborenen Sänger Giovanni Gulino und dem 1978 geborenen Gitarristen Carmelo Pipitone gegründet, die beide aus dem sizilianischen Marsala stammen und zuvor jeweils schon in anderen Musikgruppen aktiv gewesen waren. Der Name der Gruppe bezieht sich auf eine Frau, die es beiden Musikern seinerzeit angetan hatte. Gulino und Pipitone begannen ihr gemeinsames Musikprojekt mit Auftritten in den Kneipen Bolognas, wo sie neben Cover-Songs auch eigene Werke zur Aufführung brachten. 2003 erschien ihr erstes Album, auf das bis heute fünf weitere gefolgt sind.

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English Version

God: Master Baker or Meditator?

16th door of the musical Advent calendar: Marta sui Tubi: L’abbandono (The abandonment)

Maybe God has abandoned us. But maybe we have just forgotten how to read his traces in the world.

Deus absconditus … the absent God … God has abandoned us, and now we are drifting through space as castaways on our rotten world raft ….
Not a very pleasant thought. On the other hand, the image of the absent God seems immediately plausible to us. After all, we live in a world of natural and climatic disasters, plagues and pestilences, mutual exploitation and destruction, constant disregard for the dignity of humans and animals. How should God be present in such a world?
However, in order to answer the question of God’s presence or absence, we must first be clear about our image of Creation. For example, we could imagine God as a master baker who constantly tries out new recipes and then decorates the universe with the results of his baking skills. The earth would then perhaps be something like a cake batter that does not rise properly and now, put aside by God as a failed attempt, is rotting away in the seething kitchen of the universe.
Alternatively, we could see in God a kind of meditator who keeps throwing stones into the vast pond of the universe. In this case, there would be two different perspectives on creation. On the one hand, we could imagine God as an uninvolved observer who simply watches how the ripples of the cosmic pond are arranged by his throwing of stones. On the other hand, it could also be argued that the stone – since it was thrown by God – must be present in creation as an everlasting divine trace.
In the latter case, the construct of an absent God would be logically impossible. According to this view, the only reason why he seems to be absent is that we – to keep with the metaphor – have lost track of the divine stone. Indeed, this is also possible if we imagine God as an idle stone thrower. For such an image by no means excludes the possibility that God allows his creation the same freedom and momentum in its development that the stone thrower must allow the pond that absorbs his stone.
If we look at things this way, it is perhaps the other way round: Not God has abandoned us, but we have abandoned God. And because we don’t want to admit this, we behave like spoiled children who are not ready to admit their wrongdoings and instead blame their parents for their failures and blunders.
In other words, perhaps we simply have to start searching anew for the traces of the divine stones. Possibly then the feeling of our infinite abandonment will vanish into thin air all by itself.
This idea is also reflected in the song L’abbandono (The Abandonment) by the Italian band Marta sui Tubi. Here it is God himself who ponders his creation from the perspective of his absence. In doing so, he emphasises that he has „left very clear traces“ in the worlds he has abandoned – the only problem being that „everyone misinterprets them“. With the appropriate spiritual effort, however, it would be quite possible to recognise him as a „[tiny] part“ present in every existing thing.
The clip for the song, which won the award for „best video“ at the Meeting of the Independent Labels in 2005, illustrates the theme of the abandonment of mankind ironically with a sandman-like cartoon that reverses the perspective. Here it is not God who leaves the planet he created, but he himself banishes his creatures by shooting them out into the darkness of the universe with a sparkler rocket.

Marta sui Tubi: L’abbandono (The abandonment); from: C’è gente che deve dormire (Some people have to sleep, 2005)

Video clip

Live version

Interview with Marta sui Tubi on rockit.italy

Lyrics

Translation

The abandonment

The houses I lived in
were heavens enclosed in a box.
And I left very clear traces,
which are just misinterpreted by everyone.

Education does not ensure
that you can set out well,
without casting a shadow
on the dawn that lives in me.

Basically, even a planet is nothing more
than a little box,
only a bit more spherical.

The things I didn’t take with me
were the ones I didn’t want,
the ones I discarded
before I left…

I am a tiny part of you, of me and you,
just a tiny part,
just a tiny part of you, of me and you,
just a tiny part.

About Marta sui Tubi

The Italian band Marta sui Tubi was founded in 2002 by the singer Giovanni Gulino, born in 1971, and the guitarist Carmelo Pipitone, born in 1978, both of whom come from Marsala in Sicily and had previously been active in other bands. The name Marta sui Tubi refers to a woman to whom both musicians had felt attracted at the same time. Gulino and Pipitone began their music project with performances in the bars of Bologna, where they performed cover songs as well as own works. Their first album was released in 2003 and has been followed by five more to date.

Bilder / Pictures: Eso org.: Vistas Blick auf den Helix-Nebel / Vista’s Look at the Helix Nebula; Pexels: Gegenlicht / Backlit (Pixabay)

6 Antworten auf „Gott: Meisterbäcker oder Müßiggänger? / God: Master Baker or Meditator?

  1. Spinnradl-Sabine

    Ich habe deinen Text gern gelesen – auch wenn ich nicht an einen schöpferischen Gott glaube.
    Es gab eine Zeit, in der ich bei mir dachte – was ist das für ein Gott, der solche Dinge auf der Welt zulässt. Schickt Naturkatastrophen auf die Menschen – egal wie gut oder böse sie sind. Bei Sodom und Gomorrah soll er sich noch umgeschaut haben.
    Wie kann er manche Menschen so leiden lassen, wo er doch so mächtig sein soll.
    Manchmal kam er mir vor wie ein Laborleiter, der mit seinem Notizblock vor seinem Versuchsaufbau sitzt und Buch führt über das, was seine fehlerhaft konstruierten Geschöpfe so anstellen.

    Als ich diese Fragen für mich beantwortete, war ich nicht enttäuscht – es war nur eine Bestätigung der Gefühle, die ich schon lange Zeit vorher hatte.

    Interessant finde ich die Bibel trotzdem. In der ganzen Geschichte ist für mich Jesus eine Schlüsselfigur. Er war ein Kind seiner Zeit und versuchte Menschlichkeit in den seinerzeit herrschenden religiösen Dogmatismus zu bringen.

    Liebe Grüße
    Sabine vom 🕷 🕸

    Gefällt 1 Person

    1. rotherbaron

      Danke für deinen schönen Kommentar!- Das Bild mit dem Laborleiter gefällt mir. Ich glaube auch nicht an einen Gott als Person, aber ich staune wie ein Kind über die Wunder der Natur und wie wunderbar Ökosysteme aufeinander abgestimmt sind. Das hat etwas „Göttliches“. In der Natur findet man doch Spuren des Wunderbaren: Schmetterlinge, Schneeflocken … zart und perfekt.

      Gefällt 1 Person

      1. Spinnradl-Sabine

        oh ja 😊 die Wunder der Natur in all ihren Facetten – ob schön, ob gefährlich – haben etwas Göttliches.

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  2. Eliah

    Yes, it is our task to find and admire all the small traces and stone casts of God in nature. I agree with this. We must be mindful and careful not to destroy anything. When I look at how forests are cut down and animals are tortured and killed, I wish there were a God like the one in the song who shoots humankind into space.

    Gefällt 1 Person

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