Die Kunst des sprachlosen Sprechens / The art of speechless speech

Viertes Türchen des musikalischen Adventskalenders: Trad.Attack!: Kuukene (Mond)

English Version

Bei einer Reise ins Land der Seele müssen viele Grenzen überwunden werden. Mit ein paar Tricks kann man sich die nötigen Visa aber leicht selbst ausstellen.

Ein zentrales Element aller Meditation ist die Überwindung des bewussten Denkens. Nur wem es gelingt, die Denkmuster des Alltags hinter sich zu lassen, kann durch die Meditation auf neue Gedanken kommen – oder vielleicht sogar zu Einsichten gelangen, die sich jenseits des bewussten Denkens vollziehen.
Die innere Schau, die in solchen kontemplativen Prozessen angestrebt wird, entspricht in mancherlei Hinsicht einem bewussten Schlaf. Die Bilder des Inneren, die sonst in den Träumen unbewusst an unserem inneren Auge vorüberflackern, können dabei klarer wahrgenommen und so in das bewusste Denken integriert werden. Kontemplation und Reflexion stehen so in einem dynamischen Wechselprozess zueinander.
Um sich von den Fesseln der gewohnten Wahrnehmungsmuster zu befreien, sind zu allen Zeiten diverse Hilfsmittel eingesetzt worden. Hierzu zählen Rauschmittel ebenso wie bestimmte Tänze, die zu Trancezuständen führen und so die Lösung vom Alltags-Ich erleichtern können. Entsprechende Praktiken sind von Schamanen ebenso bekannt wie von der türkischen Sufi-Kultur, in der bis heute durch rituelle Drehbewegungen eine Annäherung an Gott gesucht wird. Das äußere entspricht dabei einem inneren Kreisen um sich selbst, bewirkt also eine intensive Form geistiger „Kon-Zentration“.
Ein weiteres Mittel, den unaufhörlichen Fluss der Gedanken vorübergehend auszublenden, besteht darin, das eine Rauschen durch ein anderes zu übertönen. Entsprechende Praktiken sind vor allem von den diversen Formen ritueller Gebete bekannt. So sind sich etwa Christen, die den Rosenkranz beten, der einzelnen Gebetsformeln kaum mehr bewusst, wenn sie diese vor sich hinmurmeln. Stattdessen dienen die heiligen Worte eher dazu, sich von den säkularen Satzmustern zu lösen und sich innerlich für das Göttliche zu öffnen.
Derartige Formen rituellen Sprechens müssen allerdings nicht notwendigerweise der Anbahnung religiöser Erfahrungen dienen. Sie können vielmehr auch allgemein eine innere Katharsis bewirken, im Sinne einer Reinigung des Denkens von unnötigem Ballast.
Hinzu kommt, dass die formelhafte Sprache notwendigerweise überpersönlich ist und so der üblichen Ichbezogenheit des Denkens entgegenwirkt. Dies erleichtert die Konzentration auf das Wesentliche und die geistige Annäherung an jenen Urgrund des Seins, in dem es kein Ich und kein Du mehr gibt, sondern alles in einer gemeinsamen Wurzel miteinander verbunden ist.
Ein schönes Beispiel für eine solche Verknüpfung von rituellem Sprechen und der Überwindung der Grenzen zwischen Ich und Du, Ich und Welt, Ich und Kosmos ist das Lied Kuukene (Mond) des estnischen Trios Trad.Attack!. Der Liedtext wirkt wie eine Art Zauberspruch oder Gebet an den Mond bzw. den Morgenstern und wird in dem Song wie ein Mantra wiederholt. Entnommen ist er einer alten Aufnahme einer traditionellen estnischen Dorfsängerin, die am Schluss des Liedes auch selbst eingeblendet wird.
Seinen Ursprung hat der Text in den Segenswünschen, wie sie früher im Rahmen dörflicher Gemeinschaftsfeiern vorgetragen wurden. Seinem Inhalt nach hatte er seinen Platz dabei wohl im Rahmen von Hochzeitsfesten oder Initiationsfeiern wie der Kommunion oder dem Eintritt ins Erwachsenenalter.
Der rituelle Charakter des Gesangsvortrags wird in dem Lied nicht nur durch entsprechende repetitive Klangsequenzen betont, sondern auch durch das dazugehörige Video. Dieses setzt die Innenschau, zu der das Lied einlädt, als surreale Bilderwelt in Szene und erscheint so als integraler Bestandteil des Songprojekts. Die Begegnung zwischen Mann und Frau, ihre schwebende Annäherung aneinander, wird dabei zu einer Art Chiffre für das Mit- und Gegeneinander der Elemente, das das kosmische Geschehen in Gang hält.

Trad.Attack!: Kuukene; aus: Trad.Attack! (EP, 2014); Text: Emilie Kõiv (1966)

Acoustic Session an der Chinesischen Mauer

Liedtext mit englischer Übersetzung

Übertragung ins Deutsche:

Band-Infos

Das Trio Trad.Attack!, dessen erster, 2014 veröffentlichter Extended Player in Estland auf Anhieb ein großer Erfolg wurde, bezieht sich musikalisch vielfach auf klassische estnische Instrumente und Vortragsweisen. Die drei Bandmitglieder sind hiervon auf je eigene Weise geprägt worden: Tõnu Tubli, Posaunist und Schlagzeuger, ist Sohn eines Dirigenten estnischer Blasorchester, Sandra Sillamaa spielt den estnischen Dudelsack, und Jalmar Vabarna gehört zur Minderheit der im Süden Estlands lebenden Setukesen, die über eine besondere Gesangstradition verfügen. Die Band versteckt ihre Prägung durch die estnische Folk-Tradition nicht, verbindet diese aber mit experimentellen Ansätzen, die Vergangenheit und Gegenwart auf reizvolle Weise miteinander verknüpfen.

Mehr Musik aus Estland: RB: Von der Lust am Experimentieren

English Version:

Many borders have to be overcome on a journey to the land of the soul. But with a few tricks you can easily issue the necessary visas yourself.

4th door of the musical Advent calendar: Trad.Attack!: Kuukene (Moon)

A key element of all meditation is the overcoming of conscious thinking. Only those who succeed in leaving the thought patterns of everyday life behind can discover new thoughts through meditation – or perhaps even reach insights that only occur beyond conscious thought.
The inner sight that is sought in such contemplative processes corresponds in many ways to a conscious sleep. The images of the inner world, which usually flicker unconsciously past our inner eye when we are dreaming, can be perceived more clearly and therefore be integrated into our conscious thinking. Contemplation and reflection are thus in a dynamic reciprocal process.
In order to free oneself from the chains of habitual patterns of perception, various aids have been used at all times. These include inebriating substances as well as certain dances that can lead to trance states and hence facilitate the detachment from the everyday self. Such practices are known from shamans as well as from the Turkish Sufi culture, in which an approach to God is sought through ritual rotary movements. The outer corresponds to an inner circling around oneself, thus causing an intensive form of spiritual „con-centration“.
A further means of temporarily blocking out the incessant flow of thoughts is to drown out one murmur with another. Such practices are known especially from the various forms of ritual prayers. For example, Christians who pray the Rosary are hardly aware of the concrete prayer formulas when they murmur them to themselves. Instead, the holy words rather serve to break away from secular sentence patterns and to become open to the divine.
However, such forms of ritual speech do not necessarily have to serve the purpose of initiating religious experiences. They can also bring about an inner catharsis in general, in the sense of purifying the mind from unnecessary ballast.
In addition, ritual language is necessarily super-personal and thus counteracts the usual self-centredness of thinking. This facilitates the concentration on the essential and the spiritual approach to the original source of being, in which everything is connected to each other in a common root.
A nice example for such a combination of ritual speaking and the overcoming of the boundaries between the Self and the You, the Self and the World, the Self and the Cosmos is the song Kuukene (Moon) by the Estonian trio Trad.Attack!. The lyrics of the song appear as a kind of magic spell or prayer to the moon respectively the morning star and are repeated in the song like a mantra. The text is taken from an old recording by a traditional Estonian female singer, who herself is also singing at the end of the song.
The text has its origin in the blessings that once used to be recited at village community celebrations. According to its content, it probably had its place in the context of wedding celebrations or initiation ceremonies such as First Communion or the entrance into adulthood.
The ritual character of the vocal performance is emphasised in the song not only by corresponding repetitive sound sequences, but also by the accompanying video. In this the inner sight to which the song invites is presented as a surreal world of images. It thus appears as an integral part of the song project. The encounter between man and woman, their hovering approach to each other, here becomes a kind of symbol for the interaction and counteraction of the elements, which keeps the cosmic process in motion.

Trad.Attack!: Kuukene;from: Trad.Attack! (EP, 2014); text: Emilie Kõiv (1966)

Video clip

Acoustic Session at the Great Wall of China

Lyrics with English translation

About Trad.Attack!

The trio Trad.Attack!, whose first Extended Player, released in 2014, was an immediate success in Estonia, refers musically to classical Estonian instruments and performance styles. The three band members have each been influenced by this in their own way: Tõnu Tubli, trombonist and percussionist, is the son of a conductor of Estonian wind orchestras, Sandra Sillamaa plays the Estonian Bagpipe, and Jalmar Vabarna belongs to the minority of the Setukese living in the south of Estonia, who have a special singing tradition. The band does not hide their influence by the Estonian folk tradition, but combines it with experimental approaches that connect past and present in a musically appealing way.

Bild/Picture: Zhanna Ocheret: Schwäne auf dem See bei Nacht / Svans on a lake by night (123RF), Hintergrund / Background: DarkMoon Arts: Skulptur / sculpure (Pixabay)

3 Antworten auf „Die Kunst des sprachlosen Sprechens / The art of speechless speech

  1. Rena Schmitt

    Der Text des Liedes ist in der Tat nicht sehr gehaltvoll, aber es entfaltet in der Tat eine meditative Wirkung. Mir persönlich gefällt die Version an der Chinesischen Mauer musikalisch besser. Ich finde übrigens die Adventskalender -Idee spannend und lese auch die einleitenden Texte gerne.Freue mich auf die weiteren „Türchen.“

    Gefällt 1 Person

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