Der letzte Eintrag im literarischen Corona-Tagebuch stellt die alles entscheidende Frage: Wo ist eigentlich Gott abgeblieben?
Als du an jenem Morgen in die Kirche kommst, empfängt dich nichts als eine große, dunkle Leere.
Alle Bänke sind verwaist. Niemand tuschelt verstohlen mit seinem Nachbarn. Niemand blättert geistesabwesend in seinem Gebetbuch. Niemand harrt in andächtigem Gebet des erlösenden Harmoniesturms der Orgel.
Befremdet gehst du in die Sakristei, um dich für deine Predigt umzukleiden. Auch dort: Leere. Grabesstille. Verlassenheit. Kein Messdiener erwartet dich. Kein Mitglied des Kirchenvorstands sucht unter einem Vorwand die Nähe des Allerheiligsten. Keine Diakonin hilft dir bei der Vorbereitung auf die Messe.
Hast du dich etwa im Tag geirrt? Du weißt zwar genau, dass das nicht der Fall sein kann, schaust aber dennoch auf deine Armbanduhr. Wie erwartet verkündet auch sie, dass dies der Tag der Glaubensfeier sei, der Tag für die Erneuerung des Bundes mit dem Allerhöchsten.
Du atmest tief durch. Vielleicht, sagst du dir, ist es ja sogar besser so. Für diesen ganz besonderen Tag, an dem nach langer, krisenbedingter Schließung der Kirche erstmals wieder eine Messe gefeiert werden soll, hast du dir auch eine ganz besondere Predigt zurechtgelegt. Die ganze Woche über hast du daran gefeilt. Womöglich ist es sogar von Vorteil, sie jetzt noch einmal in Ruhe durchzugehen und im kontemplativen Zwiegespräch mit dem wahren Herrn dieses Hauses dessen Segen für die Messe zu erbitten.
Also kniest du andächtig vor dem Altar nieder und rufst im Geist den Text der Predigt auf. Aber es gelingt dir nicht, dich auf die Worte zu konzentrieren. Sobald du in die Flut der Sätze eintauchst, verwirren sie sich wie Wellen, die vor dem Strand ineinanderfließen und sich in wahlloser Folge am Ufer brechen.
Seufzend erhebst du dich und drehst dich um. Lange lässt du deinen Blick durch das Gewölbe wandern, auf der Suche nach irgendeinem Halt, einer Gestalt oder wenigstens dem Schatten einer Gestalt. Aber vergebens: Der Kirchenraum ist so verwaist wie zuvor, du blickst in eine überdimensionisierte Gruft.
Wie ist das nur möglich? Gerade in diesen krisenhaften Zeiten müssten die Menschen doch in Scharen in diese Arche strömen, an den einzigen Ort, wo es einen Anker gibt, der ihnen Halt verspricht in haltloser Zeit!
Da spürst du einen Stich im Herzen. Gegen deinen Willen hat sich in deinem Innern eine Tür geöffnet, die du seit deiner Jugend stets fest verschlossen gehalten hast. Eine Tür, hinter der sich all die Mauern türmen, die dich einstmals getrennt haben von dem, dem du heute dienst. Und plötzlich wird dir wieder schmerzlich bewusst, dass ein Anker spitze Enden haben muss, um sich im Boden zu verwurzeln; und dass diese Enden, wenn sie sich in einem Herzen beheimaten, auch Wunden schlagen können, von denen tiefe Narben zurückbleiben.
All die dunklen Fragen recken dir auf einmal wieder ihre Fratzen entgegen und stechen ihre spitzen Giftpfeile in dein Herz: Was ist das für eine Macht, die ihre Geschöpfe willkürlich mit Krankheiten und Seuchen zu Tode quält? Die alles Erschaffene auseinanderbrechen lässt, kaum dass es das Licht der Welt erblickt hat, wie Kinder, die ihre Bauklötzchentürme aus purem Übermut immer wieder einreißen? Die ein Dasein nur um den Preis der Auslöschung eines anderen Daseins überdauern lässt? Die ihre Schöpfung wie ein gewaltiges Schlachthaus angelegt hat?
Ist es auch nur im Entferntesten denkbar, eine solche Schöpfung mit den Idealen von Frieden und Liebe, Versöhnung und Barmherzigkeit in Verbindung zu bringen? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass das Universum – oder zumindest diese Welt, als die einzige dir vertraute – der Schauplatz zweier Mächte ist, die erbittert um die Vorherrschaft im Kosmos ringen?
Aber wie kannst du an die Erlösungskraft einer Macht glauben, die zulässt oder zulassen muss, dass neben und mit ihr eine andere Macht existiert, die in allem das Gegenteil von ihr ist? Die den Keim der Zerstörung und, noch schlimmer, der Lust an der Zerstörung in den Wesen sät?
Du fröstelst. Mit aller Macht stößt du dir dunkle Tür, die sich in deinem Herzen aufgetan hat, wieder zu. Für einen Augenblick schließt du die Augen und lässt es zu, dass die Wogen der Dunkelheit an deiner Arche emporzüngeln. Sie schwankt heftig, aber sie geht nicht unter.
Mit einem Ruck reißt du die Augen wieder auf. Wie ein Schiffbrüchiger, der, von einer Welle überspült, nach Luft schnappt, saugen deine Blicke die Leere des gewaltigen Gewölbes ein. Diese undurchdringliche, alles durchdringende Leere, die das Abbild deiner Hoffnungslosigkeit ist – gleichzeitig aber auch deine einzige Hoffnung.

English Version:
The Void of Faith
When you entered the church that morning, nothing but a great, dark emptiness welcomed you.
All the pews were deserted. No one whispered secretly with their neighbours. No one was thoughtlessly leafing through his prayer book. No one was waiting in devotional prayer for the organ’s redemptive storm of harmony.
Astonished, you stepped into the sacristy to dress for your sermon. There too: emptiness. Silence of the grave. Abandonment. No altar boy was waiting for you. No member of the church council was looking for the proximity of the Holiest of Holies under any pretext. No deaconess was there to help you prepare for mass.
Had you been mistaken about the day? Although you knew very well that this couldn’t be the case, you looked at your wristwatch. As expected, it also announced that this was the day for the celebration of faith, the day for the renewal of the Covenant with the Almighty.
You breathed deeply. Maybe, you said to yourself, it was even better this way. For this exceptional day, when after a long, crisis-related closure of the church, a mass was to be celebrated for the first time again, you had also prepared an exceptional sermon. You had been working on it all week long. It might even be an advantage to go through it again in peace and quiet and to ask the true Lord of this house for his blessing in a contemplative dialogue.
So you kneeled down devoutly in front of the altar and recalled the text of the sermon. But you were not able to concentrate on the words. As soon as you were immersed in the flood of sentences, they became confused like waves crashing into each other and breaking on the shore in random succession.
Sighing, you stood up and turned around. For a long time you let your gaze wander through the vault, looking for something to hold on to, a figure or at least the shadow of a figure. But in vain: the church room was as deserted as before, you stared into an oversized crypt.
How was that possible? Especially in these times of crisis, people should flock to this ark in droves, to the only place with an anchor to give them stability in unstable times!
Suddenly you felt a stab in the heart. Against your will, a door had opened inside you, a door which you had always kept firmly closed since your youth. A door behind which all the walls that had once separated you from the one you served today were piled up. And all of a sudden you were painfully aware again that an anchor must have pointed ends to take root in the ground; and that these ends, if they are stuck in a heart, can also cause wounds that leave deep scars.
All the dark questions were at once stretching out their grimaces to you again and piercing their poisonous arrows into your heart: What kind of power was this that arbitrarily tormented its creatures to death with diseases and epidemics? That made everything created fall apart as soon as it had seen the light of day, like children who out of pure exuberance tore down their toy towers again and again? That allowed one form of existence to survive only at the price of the extinction of another existence? That had designed its creation like a giant slaughterhouse?
Was it even remotely imaginable to associate such a creation with the ideals of peace and love, reconciliation and mercy? Wasn’t it much more likely that the universe – or at least this world, as the only one familiar to you – was the arena of two powers struggling ferociously for supremacy in the cosmos?
But how could you believe in the saving grace of a power that allowed or had to allow another power to exist beside and with it, a power that in everything was the opposite of it? That sowed the seed of destruction and, even worse, the lust for destruction in all beings?
A shiver ran down your spine. With all your might you re-shut the dark door that had opened up in your heart. For a moment you closed your eyes and allowed the waves of darkness to leap up on your ark. It swayed heavily, but it did not sink.
With a jerk you opened up your eyes again. Like a shipwrecked sailor who, washed over by a huge wave, is gasping for air, your gaze sucked in the void of the enormous vault. This impenetrable, all-pervading void that was the reflection of your hopelessness – but at the same time your only hope.
Bildnachweise: Peter H. (Tama 66): Lost Places: Kirche; Vincent van Gogh (1853 – 1890): Der alte Kirchturm von Nuenen in der Abenddämmerung (1884; Wikimedia)
Picture credits: Peter H. (Tama 66): Lost Places: Church; Vincent van Gogh (1853 – 1890): The old Tower in the Fields (1884; Wikimedia Commons)
wolkenbeobachterin
gut geschrieben. hat mir gefallen. vielen dank fürs posten.
schönen abend dir. und weiterhin viel inspiration.
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rotherbaron
Vielen Dank! 😀Dir auch einen schönen Abend!
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wolkenbeobachterin
danke
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Nati
Ein starker Text! Über „ die Leere“ muss ich nachdenken.
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