Vermummungsgebot / Masking command

Heute im literarischen Corona-Tagebuch zu bestaunen: ein Reigen vermummter Gestalten, deren Masken allmählich mit ihren Gesichtern verwachsen.

Schweißgebadet fährst du aus dem Schlaf hoch. Instinktiv schüttelst du dich, um die Nachwehen des Alptraums, der dich heimgesucht hat, abzustreifen.
Im Traum war jedes Gesicht, dem du begegnet bist, zu einer unförmigen Masse zerflossen. Jedwede Kontur war verschwunden, ein Gesicht war wie das andere. Sie bauten sie vor dir auf wie Wellen in der Brandung, die zerfielen, sobald du dich ihnen nähertest.
Nur die Augen lösten sich nicht auf. Sie allein blieben zurück. Gehetzte, verängstigte Augen, die sich von den Gesichtern lösten und dich von überallher anstarrten: aus den Wolken, aus den Bäumen, von den Gehwegen, aus dem Gebüsch. In ihrer Furcht wirkten sie ausgesprochen bedrohlich, wie bei einem in die Enge getriebenen Tier, das zubeißen würde, wenn man ihm zu nahe käme.
Schlaftrunken erhebst du dich von deinem Bett und trittst ans Fenster. Auf die Straße schauend, musst du feststellen: Der Alptraum ist Wirklichkeit geworden. Jedes Gesicht ist zu einem blauen Stein erstarrt, zu einem Eisblock, der sich wie im ewigen Eis an den anderen Eisschollen vorbeischiebt.
Kein Lächeln widersetzt sich mehr den unerbittlich geraden Schneisen des Alltags. Starr folgen die Augen den Wegen, die andere für sie gebahnt haben.

Ein halbes Jahr darauf hast du erneut einen Alptraum. Dieses Mal zerfließen die Gesichter nicht vor deinen Augen. Stattdessen ist nun jedes Detail überdeutlich zu erkennen. Alles sieht aus, als würde man es durch eine Lupe betrachten. Sind die Lippen wirklich schon immer so wulstig gewesen? Die Wangen so hohl? Die Nasen so spitz?
Während du diesen Gedanken nachhängst, öffnet sich auf einmal das Tor eines Mundes. Du erschrickst über die Dunkelheit, die sich dahinter auftut. Reflexartig versuchst du zu fliehen – aber es ist zu spät. Der Mund weitet sich zu einem Raubtierrachen, ein giftiger Atem entströmt ihm, der dich an deinen Ort bannt. Hilflos musst du zusehen, wie der Schlund zu einem Abgrund wird, der dich in seine finstere Tiefe hinabsaugt.
Wieder stehst du von deinem Bett auf und trittst ans Fenster. Und wieder musst du feststellen: Der Alptraum hat nur einen anderen Ausdruck gefunden für das, was Wirklichkeit geworden ist.
Zwar haben alle die blauen Schleier abgelegt, die bis vor kurzem ihre Gesichter verdeckt hatten. Die Gesichter aber sind nicht mehr dieselben. Die Schleier haben sich ihren Zügen eingebrannt, auch unbedeckt wirken die Gesichter maskiert. Keine Regung zeigt sich auf ihnen, die Lippen sind fest verschlossen, eine heruntergelassene Schranke, die jeden Fremden abwehrt.
Auch die Augen sehen noch immer aneinander vorbei, ängstlich darum bemüht, sich einen Weg durch den Menschendschungel zu bahnen. Niemand wagt es, dem anderen zu nahe zu kommen. Und wenn doch einmal zufällig ein Finger eine fremde Hand streift, zuckt er zurück, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt.
Ein jeder erzittert vor der Existenz des anderen. Ein jeder ist für den anderen eine lebensgefährliche Bedrohung. Niemand kennt mehr einen schlimmeren Feind als den, der seine Nähe sucht.

René Magritte: La traversée difficile (The difficult crossing / Der schwere Übergang), 1963

English Version

Today in the literary Corona diary: a procession of hooded figures whose masks gradually merge with their faces.

Masking command

Bathed in sweat, you woke up from your sleep. Instinctively, you shook yourself to brush off the aftermath of the nightmare that had haunted you.
In your dream, every face you encountered had melted into a shapeless mass. All outlines had disappeared, one face was like the other. They were rising up in front of you like waves in the surf, disintegrating as soon as you approached them.
Only the eyes did not dissolve. Nothing remained but the eyes. Hunted, frightened eyes that detached themselves from the faces and stared at you from everywhere: from the clouds, from the trees, from the pavements, from the shrubbery. In their fear they looked extremely threatening, like a cornered animal that would bite if you came too close.
Drowsily you got up and snuck to the window. Looking out into the street, you realised: The nightmare had become reality. Every face had frozen into a blue stone, a block of ice, which, like in the eternal ice, passed by the other ice floes.
No smile resisted the relentlessly straight tracks of everyday life any more. Stunned, the eyes followed the paths that others had cleft for them.

Half a year later you were again haunted by a nightmare. This time the faces did not melt before your eyes. Instead, every detail was all too clearly visible. Everything looked as if you were staring at it through a magnifying glass. Had the lips really always been so bulging? The cheeks so hollow? The noses so pointed?
While you were pondering these thoughts, suddenly the gate of a mouth opened. You were startled by the darkness that gathered behind it. Reflexively you tried to flee – but it was too late. The mouth widened to a predator’s gullet, a poisonous breath poured out of it, banishing you to your place. Helplessly, you had to watch how the gullet turned into an abyss that sucked you down into its dark depths.
Once again you got up drowsily and snuck to the window. And again you had to realise: The nightmare had only found another expression for what had become reality.
Everyone had taken off the blue veils that until recently covered their faces. But the faces were no longer the same. The veils had been burned into their features, and even uncovered, the faces appeared to be masked. No movement was visible on them, their lips were firmly closed, a lowered barrier that repelled any stranger.
Even the eyes still looked past each other, anxiously trying to make their way through the human jungle. No one dared to get too close to the other. And if, nevertheless, a finger brushed against another hand, it flinched back as though it had touched a hot cooker.
Each one trembled in the face of the other’s existence. Each one was a life-threatening danger to the other. No one knew a worse enemy than the one who tried to get close to him.

Titelbild: René Magritte: Die Liebenden II (The Lovers II)

4 Antworten auf „Vermummungsgebot / Masking command

  1. Elias M.

    Ein sehr eindrücklicher Text!! Im Prinzip fühlen sich viele Menschen wie in einer Art Alptraum. Nur die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von Verdrängung über Konformismus und Resignation bis zu Angst und Wut. Die emotionale Seite der Pandemie wird zu wenig bedacht, aber sie wird Folgen haben für die Gesellschaft und die seelische Gesundheit vieler Menschen. Es ist gut, wenn man einen Draht zu seiner Seele hat. Bleiben Sie gesund!

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  2. PegasusImJoche

    „ Der Zeiten Spott und Geißel:
    Des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlung
    – – – Des Rechtes Aufschub
    Der Ämter Übermuth, und die Schmach,
    die Unwerth Schweigendem Verdienst erweist „
    {Shakespeare; Hamlet}

    *

    Lauschangriffe:

    Im Discounter: junge Mutter versucht ihrem Kleinkind im Buggywagen eine Stoffmaske in Kindergröße aufzuziehen, ringt mit dem sich wehrenden Kleinen, Wimmern, Zischeln der Mutter; älterer Mann: „Na, na, pscht, die Mami meints doch nur gut“; jüngerer Mann: „Hören Sie doch auf Ihr Kind so zu quälen“; älterer Mann: „Was geht Sie denn das an, halten Sie doch den Mund“; junge Mutter hastig raus aus dem Laden

    In der Tram: vor der Rollstuhlrampe wartet eine verwelkte Person mit grau eingefallenem Gesicht darauf von der Begleitperson hochgeschoben zu werden. Die Maske sitzt schief und wirkt riesig im Gesicht, das eigentlich nur aus den tief in den Höhlen liegenden Augen und dieser Maske besteht. Die Atmung ist sehr flach – oder hat vielleicht vor längerer Zeit schon aufgehört ..

    Im Zeitungsladen: vor einer Auslage steht ein schwer atmender Mann, zieht die Maske runter, wischt sich kalten Schweiß aus den Augenwinkeln. Ein kleiner Junge zu seinem Vater: „Muß der jetzt Strafe zahlen?“; Vater: „250 Euro“; Verkäuferin: „Sie da, Maske wieder übers Gesicht“

    Auf Arbeit: Kollege 1:“Der Sowieso sagt, er hätt sich viermal kurz hinterernander testen lassen; zweimal positiv, zweimal negativ“; Kollege 2:“Der hats gut, quarantänefrei und g’sund“

    In der Bahn: Einer ohne Mundschutz; schräges Bankgegenüber: „Sie, da herin ist Maskenpflicht, gell“. „Bin befreit, weil Epileptiker“; schräges Bankgegenüber: „Sie wollen uns wohl alle umbringen“; rückwärtiger Sitznachbar dreht sich zurück: „Maske auf, oder Du fangst Dir eine“

    In der Einkaufsstraße: mittelaltes Paar; Sie: „Zieh Deine Maske auf“; Er: „Wieso, hier ist keine Maskenpflicht“; Sie: „Doch, dort vorn ist ein Schild“; Er: „Gilt aber nicht für hier“; Passantin: „Schämen Sie sich, meine 6-jährige kommt mit der Maske klar, und Sie schaffen das nicht?“; Er: „Geht Sie nix an“; Sie: „Mit Dir muß man sich nur schämen, kann mit Dir nirgends hin“; Er: „Ihr seid ja alle hysterisch“; Sie: „War das letzte Mal, daß ich mit Dir noch mal irgendwo hingehe“

    In der Wohnung: ältliche Dame; nimmt Einkaufzettel, schaut was ist dringend, dies und jenes; heute nimmer – seit zwei Wochen keinen Schritt mehr raus, denkt: „kann das Maskending nicht mehr tragen, krieg nicht gescheit Luft“, gießt sich Teebeutel auf – ohne Milch

    In der Klasse: Lehrerin: „J.., hör auf immer an der Maske zu nesteln, die sitzt schon gut“; die meisten Schüler schauen schon nicht mehr hin, kennen das schon, macht die dauernd.
    J.: „ich hab Entzündung am Mundwinkel, das tut weh“; Schüler: „Is ja eklig, gut daß man’s nicht seh’n muß“; Feixen der Anderen; Lehrerin: „Schluß jetzt! Ich kann nicht die ganze Zeit mit Euch vertun. Weiter jetzt ..“
    Die Tage darauf: J. sitzt ganz hinten in der Ecke, doppelte Abstandsregel – ohne Maske – mit Attest befreit, kriegt hinten nichts mehr mit; weint nach der Schule; trägt jetzt freiwillig wieder die Maske, um wieder zwischen Anderen sitzen zu dürfen; Unter der Maske breitet sich Ausschlag über die Lippen aus; spricht kaum mehr; mehr Ruhe in der Klasse seit Maskenpflicht

    Im Heim: Pflegerin: „Fr. L. Sie müssen fei schon auch wollen“; kann kaum vom Bett aufstehen; fast das Laufen verlernt; vom Bett zum Waschbecken geführt; Essen wieder im Bett; Windel voll; Pflegedienstleitung: „Anweisung: Gemeinschaftsspeiseraum zu, Essen aufs Zimmer, nicht auf Gang raus, Besuchsperre“; Pfleger, rüstet auf bevor er reingeht: Handschuh, FFP2-Maske, Schutzanzug, Schutzbrille; Bewohner schreit; kann das Wesen das reinkommt nicht erkennen; nachher alles wieder vergessen; mag nicht mehr ..
    „Aber Fr. L. Sie müssen halt auch wollen und sich dranhalten“

    Im Chat: weiblich, anonym: „ich kann nicht mehr, überall Maske“; Antwort: „Sperr Dich doch nicht so dagegen, ist eine Frage der Einstellung dazu“; weiblich, anonym: „ich wurde mißbraucht, und dabei wurde mir der Mund verbunden, die Täter hatten Tücher vor; ich lebe in einem Albtraum“

    Forenbeiträge im Netz: was man alles mit ‚Maskenverweigerern’ anstellen sollte:
    Gesundheitskarte einziehen, anzeigen, Kinder wegnehmen, psychiatrisieren, einsperren, internieren, enteignen, zwangssterilisieren, verprügeln, den Hals umdrehen, totfoltern, zerstückeln, verbrennen

    *

    „ .. Der Rest ist Schweigen ..“ {Hamlet; Schluß}

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  3. Pingback: Uit de Oude Doos in het licht van deze Coronaperiode: Macht van het verkeerdlopende | Bijbelvorser = Bible Researcher

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