Mit einer Übersetzung von Bob Marleys Song „Babylon System“
Teil 9 der Musikalischen Sommerreise 2020
Der Reggae ist das Kind vieler Eltern. In seiner Entstehungsgeschichte spiegelt sich die jamaikanische Kolonialgeschichte ebenso wider wie der Widerstand der Kolonisierten gegen die ihnen aufgezwungene Fremdherrschaft. Die Lebenseinstellung der frühen Reggae-Fans ist zudem untrennbar mit der Rastafari-Bewegung verbunden.
Inhalt
Tänzerische Vorläufer des Reggae: Bruckins und Jonkonnu
Musikalische Vorläufer des Reggae: Vom Mento zum Rocksteady
Reggae-Religion Rastafari
Bob Marley als Rastafari-Prophet
Reggae als Rastafari-Sound
Links
Tänzerische Vorläufer des Reggae: Bruckins und Jonkonnu
Auch wenn der Reggae kein Tanz im eigentlichen Sinne ist, sondern in erster Linie eine musikalische Stilrichtung bezeichnet, sind Reggae-Darbietungen ohne tänzerische Bewegungen von Musizierenden und Zuhörenden kaum vorstellbar. Dafür gibt es beim Reggae spezifische Vorbilder, die fest mit der jamaikanischen Kulturgeschichte verbunden sind.
Die wichtigsten Einflussfaktoren stellen dabei die Tänze Jonkonnu und Bruckins dar. Beide vereinen Elemente aus der Kultur der karibischen Urbevölkerung mit denen der britischen Kolonialherren und kulturellen Einflüssen der aus Afrika als Sklaven nach Jamaika verschleppten afrikanischen Einwanderer. Der Jonkonnu wurde von Letzteren vorwiegend zur Weihnachtszeit aufgeführt. Elemente dieses Tanzes sind in den Bruckins eingegangen, der zur Feier der Abschaffung der Sklaverei am 1. August 1838 entwickelt worden ist.
Der Bruckins erinnert vom äußeren Ablauf der Tanzzeremonie her an höfische Schreit- und Reigentänze der frühen Neuzeit, insbesondere die Pavane: Die Tanzenden bewegen sich feierlich im Kreis und bilden zwischendurch immer wieder Paare. Die Tanzbewegungen sind jedoch karibisch-afrikanischer Herkunft. Insbesondere die rhythmischen Hüftbewegungen, aber auch die spezifischen Knie- und Fußbeugungen bilden einen reizvollen, für europäische Augen auf den ersten Blick irritierenden Kontrast zu den feierlichen Schreit- und Kreisbewegungen der Tanzgruppen.
Das europäische Erbe ist im Reggae zwar weitgehend verblasst. Es überwiegen eindeutig die afrikanisch-karibischen Tanzelemente. Ein indirekter Einfluss der frühneuzeitlich-höfischen Tanztradition lässt sich allerdings in den verlangsamten, fließenden Bewegungen erkennen, die für den Reggae charakteristisch sind.
Musikalische Vorläufer des Reggae: Vom Mento zum Rocksteady
Richtet man das Augenmerk auf Liedgut und Gesangstechnik, so wurzelt der Reggae zunächst im jamaikanischen Mento. Diese Musikrichtung ist in den 1930er Jahren entstanden und verbindet afrikanische Trommelrhythmen mit karibischer Blasmusik. Die Texte werden häufig als Wechselgesang vorgetragen.
Seit den 1950er Jahren gingen zunehmend Elemente des auf Trinidad entwickelten Calypso in den Mento ein. Der Wechselgesang des Mento erhielt dadurch eine politischere und sozialkritischere Komponente. Denn der Calypso diente auf Trinidad als eine Art Ventil für die Artikulation der Unzufriedenheit mit der politischen Elite – insbesondere der britischen Kolonialherren –, aber auch allgemein als Nachrichtenbörse, über die aktuelle Informationen und wichtiges Orientierungswissen auf unkomplizierte Weise verbreitet werden konnten.
In den späten 1950er Jahren entwickelte sich diese Musik unter dem Einfluss des US-amerikanischen Rhythm & Blues zum Ska weiter. Das Ergebnis waren sehr schnelle, schweißtreibende Rhythmen, die sich schlecht mit der schwülen jamaikanischen Hitze vertrugen. So wurde der Ska zum Rocksteady abgewandelt, der deutlich „relaxter“ daherkommt. Außerdem wurden nun die Bläserelemente deutlich reduziert.
Dies war die unmittelbare Vorläuferstufe zum Reggae. In diesem ist der Rhythmus wieder etwas flotter als im Rocksteady. Vor allem aber ist die Praxis des Off-Beats noch ausgefeilter, also die besondere Akzentuierung der Töne zwischen den Beats. Die dadurch entstehende rhythmische Spannung ist typisch für den Reggae.
Von Mento und Calypso hat der Reggae den umgangssprachlichen, die Zuhörenden miteinbeziehenden Gesang geerbt. Dass dies oft mit einem sozialkritischen Inhalt der Texte einhergeht, machen schon die vermuteten Wurzeln des Begriffs „Reggae“ deutlich. Ob das Wort sich nun von „raggamuffin“ (Gammler/Herumtreiber) oder einer „ragged person“ (zerlumpten Person) herleitet oder ob gar eine „streggae“ (Hure) Pate gestanden bei seiner Entstehung: In jedem Fall drücken sich darin unverkennbar die engen Verbindungen dieser Musik mit der Subkultur der Elendsviertel von Kingston, der Hauptstadt Jamaikas, aus.
Reggae-Religion Rastafari
1914 gründete der aus Jamaika stammende Marcus Garvey die Universal Negro Improvement Association and African Communities League (UNIA-ACL). Von New York aus kämpfte die Organisation mit öffentlichkeitswirksamen Protestmärschen gegen die Entrechtung der aus Afrika verschleppten Bevölkerungsteile und für eine Überwindung der kolonialen Vergangenheit. Nachdem Garvey 1923 unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und 1927 nach Jamaika abgeschoben worden war, verlor die Bewegung an Schwung.
Dies gilt allerdings nicht für das ideologische Gerüst, auf dem Garvey seine Bewegung aufgebaut hatte. Entscheidend war, dass er die Verschleppung von Menschen aus Afrika und deren Zerstreuung in alle Welt mit der jüdischen Diaspora verglich. In einer bewussten Umdeutung der abwertenden Bezugnahme von Europäern und US-Amerikanern auf Afrika wurde dieser Kontinent dabei konsequenterweise zum gelobten Land umgedeutet. Die erzwungene Heimatlosigkeit der afrikanischen Diaspora sollte durch eine Rückkehr der Verschleppten nach Afrika geheilt werden. Für Garvey war das nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Um sein Ziel umzusetzen, gründete er sogar eine eigene Schiffahrtsgesellschaft.
Diese Ideologie verband sich seit Ende der 1920er Jahre mit einem sehr ambitionierten afrikanischen Herrscher: mit Tafari Makonnen, der 1928 zum König und 1930 zum „Neguse Negest“ (König der Könige), also zum Kaiser Äthiopiens gekrönt wurde. Makonnen war selbst mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein ausgestattet. Er führte seine Herrschaft in direkter Linie auf König Salomo zurück und gab sich dementsprechend den biblischen Ehrentitel „Haile Selassie“ (Macht der Dreifaltigkeit).
Die messianische Aura, mit der Haile Selassie sich umgab, war wie geschaffen für Garveys Idee einer dereinstigen Rückkehr aller Afrikaner in das gelobte Land ihrer Heimat. So wurde der äthiopische Kaiser zu einer Art Gott auf Erden verklärt, der die afrikanische Diaspora einen und zu ihrem angestammten Kontinent zurückführen werde. Aus dem Adelstitel, den Haile Selassie von seinem Vater, einem lokalen Herrscher in Äthiopien, geerbt hatte („Ras“) und Haile Selassies Geburtsnamen entwickelte sich die Bezeichnung für die darauf aufbauende religiöse Bewegung: Rastafari.
Bob Marley als Rastafari-Prophet
Wenn Haile Selassie zum Messias der Rastafari-Bewegung stilisiert wurde, so war Bob Marley ihr Prophet. Noch heute wird er von den Anhängern der Bewegung wie ein Heiliger verehrt.
Dem entspricht auch die legendenhafte Art, in der über das Leben dieses wohl berühmtesten Reggae-Sängers berichtet wird. Als Sohn eines 60 Jahre alten britischen Offiziers und einer über 40 Jahre jüngeren Jamaikanerin wuchs Marley in ärmlichen Verhältnissen auf, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. In seiner Jugend war er selbst ein Teil der jamaikanischen Subkultur und ihrer Jugendgangs, der so genannten „Rude boys“, was er später in dem berühmten Song I shot the sheriff (Ich habe den Sheriff erschossen) verarbeitete. In einer für Heiligenlegenden typischen Wendung wandelte er sich jedoch vom Saulus zum Paulus und betätigte sich später sogar als Friedensstifter, als zwei verfeindete Parteien Jamaika an den Rand des Bürgerkriegs gebracht hatten.
Wichtiger als alles andere war für die Anhänger der Rastafari-Bewegung allerdings, dass Marley deren Lebensgefühl perfekt verkörperte und sein Leben danach ausrichtete. Dafür steht auch sein äußeres Erscheinungsbild mit den Dreadlocks, die – wie es die Rastafari-Kultur nahelegt – frei wachsen durften und so der Dressur und Unterdrückung in der westlichen Welt die urtümlich-ungebundene freie Entfaltung der Person im idealisierten Afrika gegenüberstellten.
In seiner Überzeugung, nicht in den naturhaften Gang der Dinge eingreifen zu dürfen, ging Marley sogar so weit, dass er sich weder nach einem Anschlag auf sein Leben – im Zusammenhang mit seinem Engagement als Friedensstifter auf Jamaika, das dort nicht allen gefiel – noch nach einer Verletzung, die er sich beim Fußballspielen zugezogen hatte, medizinisch behandeln ließ. In der Folge entwickelte sich ein bösartiges Krebsgeschwür, das seinen ganzen Körper befiel und nicht mehr zu behandeln war, als es entdeckt wurde. So starb Marley bereits mit 36 Jahren. Auch sein Tod erhielt so etwas Märtyrerhaftes und entrückte ihn noch mehr in die Sphäre der Heiligen.
Reggae als Rastafari-Sound
Da es in der Rastafari-Bewegung keine festen Vorgaben für Gottesdienste gibt, konnten ersatzweise auch Bob Marleys Konzerte diese Funktion erfüllen. Der zentrale Aspekt eines Rastafari-Gottesdienstes ist es ohnehin, in entspannter Atmosphäre zusammenzukommen und sich der gemeinsamen Sehnsucht nach einer Welt in Frieden und Harmonie zu versichern. Dazu wird reichlich Marihuana, jedoch kein Alkohol konsumiert. Ersteres gilt als beschwichtigend, Letzterer als aggressionssteigernd – und damit als typische Droge des imperialistischen Westens.
Neben der Atmosphäre auf seinen Konzerten trug Bob Marley auch mit den Texten seiner Lieder dazu bei, die Sehnsucht der Rastafari-Anhänger nach einem Gegenbild zu der unterdrückerischen westlichen Zivilisation zu befeuern. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist sein Song über das Babylon System, in dem er eine zentrale Denkfigur der Rastafari-Bewegung aufgreift. „Babylon“ steht dabei – in Analogie zu der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel – für die auf Unterdrückung, Ausbeutung und Zerstörung aufbauende westliche Welt. Aus dieser muss sich die afrikanische, auf ein Leben im Einklang mit sich und anderen ausgerichtete Seele befreien, will sie zu ihren Wurzeln zurückfinden.
Die große Strahlkraft Bob Marleys machte Reggae und Rastafari weit über die Grenzen Jamaikas und der „afrikanischen Diaspora“ hinaus bekannt und attraktiv. Paradoxerweise hat dadurch gerade die unbestrittene Ikone des Reggae auch zu dessen Niedergang beigetragen. Denn in der Folge wurde auch der Reggae von eben jenen Tendenzen einer alles verwertenden, alles entseelenden Kommerzialisierung erfasst, die er in seinen Texten kritisiert und der die Rastafari-Bewegung mit ihren Idealen entgegentritt.
So ist der Reggae – als „Roots-Reggae“, also seiner Wurzeln treuer und bewusster Reggae – zwar bis heute der Sound der Rastafari-Bewegung geblieben. Gleichzeitig ist er jedoch ein fester Bestandteil der Musikindustrie geworden, wo Reggae-Rhythmen heute in Computerprogrammen als Versatzstücke erzeugt und immer wieder neu miteinander kombiniert werden.
Links
Bruckins und Jonkonnu: Vorführung einer jamaikanischen Tanzgruppe:
Bob Marley and The Wailers: Babylon System (aus: Survival, 1979);
Unreleased Version, mit Bob-Marley-Dias:
Liedtext
Freie Übertragung ins Deutsche:
Babylon System
Wir lehnen es ab,
das zu sein, was ihr uns zu sein vorgebt.
Wir sind, was wir sind.
So läuft die Sache, ob es euch gefällt oder nicht.
Ich lasse mich von euch
nicht zur Ungleichheit erziehen.
Kommt, lasst uns über meine Freiheit reden,
über meine Freiheit, Leute,
und über das Freisein!
Wir haben wirklich schon viel zu lange
mit unseren Füßen eure Weinseligkeit erstampft.
Jetzt ist Schluss damit,
jetzt strampeln wir uns nicht mehr für euch ab,
jetzt ist es an der Zeit, zu rebellieren!
Das Babylon-System ist ein Vampir,
es saugt den Kindern das Blut aus,
aber jetzt geht es zu Ende
mit dem Vampir-Empire,
mit dem Saugen des Blutes derer,
die schon immer die Leidtragenden waren!
An euren Kirchen und Universitäten
lehrt ihr doch nur Lug und Trug
und bildet Diebe und Mörder aus!
Schau, schon saugen sie wieder unser Blut!
Sagt den Kindern die Wahrheit!
Los, sagt ihnen die Wahrheit!
Denn wir haben schon viel zu lange
mit unseren Füßen eure Weinseligkeit erstampft!
Viel zu lange war das für euch
eine Selbstverständlichkeit.
Jetzt ist es an der Zeit, sich aufzulehnen!
Seit wir die Küsten unserer Heimat verlassen mussten,
habt ihr auf uns herumtrampelt,
während wir uns für euch abstrampeln mussten.
Jetzt ist Schluss damit,
jetzt erheben wir uns
mit Gottes Hilfe,
mit Gottes Hilfe!
Tanzeinlage von Bob Marley während eines Konzerts
Links
Autorenkollektiv: Zu Reggae tanzen. Wikihow.com [Bebilderte Anleitung für das Tanzen zum Reggae].
Boueke, Andreas: Rastafari-Religion: Das Leben nehmen, wie es kommt. Deutschlandfunk (Tag für Tag), 2. Mai 2014.
Goldmann, Nina: Rastafari: Schrei nach Freiheit. ORF, 28. Juni 2013.
Hecker, Sven: Bob Marley: Musik als Revolution. MDR Kultur, 6. Februar 2020.
Lubi: Reggae – die Geschichte des Reggae. Unruhr.de, 1. Dezember 2005 [mit Links zu weiteren Blog-Beiträgen zum Reggae und biblio-discographischen Verweisen].
National Library of Jamaica: Eintrag zu Bruckins/Jonkonnu, mit einem charakteristischen Foto gepostet von Christopher Edmonds auf flickr.com.
Vanhofer, Markus: Bob Marley und der Reggae – Musik aus Jamaika; Bayern 2, radiowissen, 2. Oktober 2018.
Weishäupl, Heidi: Globalisierung von Reggae und Rastafari [= By The Rivers. Globale Ströme und persönliche Netzwerke: Bildung und Verhandlung transnationaler Identitäten im Kontext von Globalisierung. Diplomarbeit, Wien 2002]; yumpu.com / european.mediaculture.com.