Besinnung oder Besinnlichkeit?
Ja, ich weiß: Heute ist der erste Advent, ich sollte besinnlich vor meinem Kerzlein hocken und die Klappe halten. Mit der Besinnlichkeit ist es aber so eine Sache: Wenn Bomben auf das Kloster fallen, tut sich der Mönch etwas schwer mit der Meditation.
Ich lenke meinen Blick daher heute lieber auf den weiteren Rahmen der deutschen „Besinnlichkeit“: auf „Deutschland“ und das „Deutsch-Sein“. Und ich frage mich, ob es in der DNA dieses Landes der Alleskönner und Besserwisser überhaupt vorgesehen ist, zur „Besinnung“ zu kommen.
INHALT:
Deutsch-Sein: Das Ich im Spiegel der Fremde
Deutsches Leben, deutsches Leiden
Gedicht „Deutschland“
Deutsch-Sein: Das Ich im Spiegel der Fremde
Was es heißt, Deutscher zu sein, habe ich erst verstanden, als ich mal ein paar Jahre im Ausland (konkret: in Russland) gelebt habe.
Die typisch deutsche Heiligsprechung der Sekundärtugenden war mir schon immer suspekt gewesen. „Ordnung ist das halbe Leben …“ Warum denn ausgerechnet Ordnung? Warum nicht Gerechtigkeit? Frieden? Liebe? Und: Verstellt der Spruch nicht auch die chaotische Wirklichkeit des Seins?
Als ich aber in der Fremde pünktlich war, hieß es sofort: „Ja-ja, die Deutschen: Pünktlich wie die Maurer.“ Als ich auf die Dringlichkeit einer Erledigung hinwies, schallte es mir entgegen: „Ja-ja, die Deutschen: Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute!“
So musste ich mir oder wohl oder übel eingestehen, dass es eine Kluft gab zwischen meinem bewussten Denken und der Art, wie ich handelte. Etwas von dem, was ich theoretisch ablehnte, war mir offenbar doch so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es mich im Ausland als Deutscher kenntlich machte.
Es war nicht so, dass die anderen nicht pünktlich oder unordentlich waren. Sie waren es nur auf eine weniger grundsätzliche, weniger verbissene Weise. Ordnung ergab sich bei ihnen weniger aus einer generalstabsmäßigen Planung als aus dem Arbeitsprozess selbst, als allmähliche Zusammenführung der verschiedenen Herangehensweisen an ein Vorhaben. Und Pünktlichkeit war kein Wert an sich, weil Unpünktlichkeit als Beleg für die grundsätzliche Unplanbarkeit des Lebens galt und als Anzeichen dafür, dass andere Dinge wichtiger sein konnten als das anberaumte Arbeitstreffen.
Deutsches Leben, deutsches Leiden
So habe ich in der Fremde gelernt, dass ich „deutscher“ bin, als ich von mir selbst angenommen hatte. Unter dem zu leiden, was als „typisch deutsch“ gilt, heißt für mich daher immer auch: an mir selbst leiden. Es bedeutet, an der eigenen Identität zu leiden, die sich nun einmal nicht einfach ablegen lässt wie ein abgetragener Anzug. Meine ganze Sozialisation ist deutsch. Deutsch ist meine Sprache, deutsch ist meine Kultur.
Wenn in diesem Land, in dem ich lebe und das mich geprägt hat bis in die innersten Windungen meines Gehirns, etwas schief läuft, berührt mich dies deshalb unmittelbar. Und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen kann ich als Deutscher die Kreuzzugserbitterung und wilhelminische Selbstdisziplin nachempfinden, mit dem hierzulande Opfer von sich selbst und anderen eingefordert werden. Zum anderen leide ich aber gerade deshalb umso mehr an den Zielen, die damit verbunden sind: an der Perfektionierung von Abschiebungen etwa oder an der dogmatischen Verteidigung von Schulnoten und -abschlüssen, die der Zementierung sozialer Ungleichheit dienen.
Richtet sich der Gründlichkeitsfanatismus gegen die Natur – wie dies etwa bei der Schließung von Lücken im Autobahnnetz oder der vollständigen Vergitterung des Landes mit Windkraftanlagen der Fall ist –, kommt noch ein weiterer Punkt hinzu. Das, was dann zerstört wird, ist für mich die äußere Entsprechung meiner inneren Identität.
„Deutsch-sein“ beschränkt sich ja glücklicherweise nicht auf die preußische Glorifizierung der Sekundärtugenden. Für mich verknüpft es sich mit einem ganzen Kosmos an geistigen Entwicklungen und sprachlichen Feinheiten, in und mit denen ich lebe. Und da sich dieses Leben nun einmal hier, in Deutschland, vollzieht, assoziiere ich die geistige Innenseite des Deutsch-Seins ganz automatisch mit der Außenwelt, die ich hier vor Augen habe. Jede Naturzerstörung empfinde ich deshalb auch als kulturellen Verlust, als einen Akt des zivilisatorischen Vandalismus, der mir mit der äußeren auch meine innere Heimat zerstört.
Gedicht „Deutschland“
„Deutschland“
Deutschland, mir graut vor dir.
Vor deinen Torwächtern,
die keine Ausnahmen machen,
den Gralshütern und Opferpriestern,
den Untoten, die immer härter werden,
weil nichts sie töten kann.
Deutschland, mir graut vor dir.
Vor deinen Musterschülern,
die keinen Zweifel kennen,
dem Volk der Folgsamen,
den mustergültig Ausführenden
für das Lob der Führenden.
Deutschland, mir graut vor dir.
Vor deinen Kriegern,
die im Unterholz lauern,
den Scharfschützen, die beschützen wollen
als Scharfrichter
mit eigenem Recht.
Deutschland, mir graut vor dir.
Vor deinen Weltmeistern,
die überall Besiegte sehen
und lorbeerumkränzte Spiegel,
die noch im Schmerzensschrei der Verlorenen
ein Loblied hören auf sich.
Deutschland, mir graut vor dir.
Vor deinen Gärtnern,
die keine Blumen kennen,
die Steine pflanzen und Hügel pfählen
über schwarzen, unausweichlichen Straßen
in ein leuchtendes Nichts.
Deutschland, mir graut vor dir.
Vor deinen geschlossenen Augen,
deinen verschlossenen Lippen
und deinen dreimal abgeschlossenen Herzen.
Essay zum Thema „Heimat“: Heimat im Windkraftzeitalter
Bild: Caspar David Friedrich: Der Winter 1806-1808
J.E. Münster
Ein aufwühlendes (hervorragend verfasstes) Gedicht. Heine und sein Unbehagen an den „Landsleuten“ lässt grüßen. Deutschland, das „Land der Dichter und Denker“, in dem eben diese Dichter unglücklich und verzweifelt sind und waren. Ist diese Zerrissenheit zwischen „deutscher Gründlichkeit“ und subversivem, kompromisslosen Denken, Dichten und Träumen „typisch deutsch“? Oder sind mit den „Dichtern“ (s.o.) die zu Erfolg gekommenen reimenden Spießer gemeint????? – Deutschland, du Rätsel!
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