Kapitalismus- und Kirchenkritik in den Gedichten Jacques Préverts

Die kapitalismuskritischen Elemente im Werk Préverts haben ihre Wurzeln in seiner Zusammenarbeit mit der Groupe Octobre. Dabei handelte es sich um eine den Kommunisten nahe stehende Theatergruppe, die streikende Arbeiter mit Auftritten vor Ort in ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und gerechtere Entlohnung unterstützte. Von den Texten, die Prévert zwischen 1932 und 1936, dem Auflösungsjahr der Gruppe, für die Groupe Octobre geschrieben hat, wurde einer, La bataille de Fontenoy (‚Die Schlacht von Fontenoy‘), 1933 anlässlich der Internationalen Arbeiter-Theaterolympiade in Moskau aufgeführt und so international bekannt.

Die Zusammenarbeit mit der Groupe Octobre und der Kontakt mit den für ihre Rechte kämpfenden Arbeitern haben Prévert in besonderer Weise für Missstände in der Arbeitswelt sensibilisiert. Dies war auch in späteren Jahren noch deutlich zu spüren. So beklagte er etwa die Amoralität einer Ökonomie, die Arbeitsbedingungen schaffe, welche – wie etwa im Falle der Silikose, der häufigsten Berufskrankheit von Bergarbeitern – mit tödlichen Krankheiten für die Beschäftigten verbunden seien (1). Ebenso kritisch setzt er sich mit der euphemistischen Umbenennung von Erwerbstätigkeiten auseinander (z.B. „Reinigungskraft“ statt „Putzfrau“ oder „Straßenfeger“), die diese propagandistisch aufwerten, die mangelnde Attraktivität der Tätigkeit dabei aber nur kaschieren, anstatt sie mit einer entsprechenden Entlohnung zu kompensieren (2).

Indem Prévert in diesem Zusammenhang auf das Beispiel der New Yorker Straßenkehrer (frz. „balayeur“) verweist – die mit einem Streik die Wolkenkratzer in „Müllkratzer“ verwandelt hätten –, ergibt sich auch ein Zusammenhang zu seinem Gedicht Le balayeur (aus der Sammlung Spectacle, 1951). Der Straßenkehrer, der hier (ähnlich dem Arbeiter in Le temps perdu, ‚Die verlorene Zeit‘; 3) mit seiner spontan ausgelebten, pflichtvergessenen Lebenslust in eine Art wilden Streik tritt, opponiert dabei zwar gegen eine kirchliche Autorität (die ihm in Gestalt eines gestrengen Engels gegenübertritt). Es ist jedoch gerade ein zentraler Aspekt von Préverts Kritik an der Kirche, dass diese die Religion dafür missbrauche, profanen Pflichten eine transzendentale Legitimation zu verleihen (4). Prévert verteidigt den ihm vorgeworfenen „Antiklerikalismus“ denn auch mit dem Hinweis darauf, dass bekennende Klerikale ihrerseits „des anti-tout“ seien: „Sie sind gegen all das, was angenehm ist auf der Welt“ (5).

So gesehen, ist Préverts Beharren auf der spontanen Freude am Leben ebenso ein Akt gelebten Widerstands gegen eine lustfeindliche kirchliche Ideologie wie ein Protest gegen die Unterordnung des Einzelnen unter die Interessen einer lebensfeindlichen Wirtschaft. Das Zwangssystem der Kirche, die einem in der Kindheit den Glauben aufzwinge (6) und bei erwachsenen Ungläubigen den Atheismus als vorübergehenden Abfall vom Glauben abtue, als eine Art Krankheit, die irgendwann überwunden sein werde (7), erscheint so als Nährboden der Unfreiheit, der es erleichtert, den Menschen inhumane gesellschaftliche Normen zu oktroyieren.

Nachweise:

  1. Prévert, Jacques / Pozner, André: Hebdromadaires (1972), S. 162 f. Paris 1982: Gallimard.
  2. Ebd., S. 121.
  3. Prévert, Jacques: Paroles (1946), S. 229. Paris 1949: Gallimard.
  4. Prévert, Jacques / Pozner, André: Hebdromadaires (1972), S. 41. Paris 1982: Gallimard.
  5. Ebd., S. 56.
  6. Ebd., S. 58.
  7. Ebd., S. 63.

 

Freie Nachdichtungen

Verlorene Zeit

(nach Le temps perdu; aus: Paroles, 1946)

Vor dem Fabriktor ein stockender Schritt
ein fragender Blick zurück:
das Lächeln der Sonne
in dem bleiernen Himmel
an dem stahlkalten Tor
in den leeren Augen
die zwinkernd sich mit Leben füllen
eins mit der Sonne
einig mit ihr
in der Feier des Lebens
das verschwendet wäre
in einer Fabrik.

Im Blumenladen

(nach Chez la fleuriste; aus: Paroles, 1946)

Rote blaue gelbe Blumen
ein Bad in einem Meer aus Düften
für ein paar abgezählte Münzen
die über die Theke des Blumenladens
auf den blütenbetupften Boden rollen
um einen Körper
den Körper eines Mannes zwischen den duftenden Blumen
einen Körper mit gebrochenem Herzen
den die Münzen klimpernd umkreisen
während die Blumen welken
wie der Mann
zwischen den rollenden Münzen
den unaufhörlich rollenden Münzen.

Der Straßenkehrer

(nach Le balayeur; aus: Spectacle, 1951)

Gottes sittenstrenger Engelswächter hat den Straßenkehrer beim Faulenzen erwischt. „Ach, du lieber Gott!“ hatte er sich gesagt. „Der viele Staub! Den weht der Wind ja doch wieder an die alte Stelle zurück. Soll er doch gleich meine Arbeit machen und den Staub dem Fluss übergeben.“

Also hat er sich auf einen Stein gesetzt und den vorbeischlendernden Liebespaaren hinterhergeträumt.

Da begann die weiche, warme Luft auf einmal zu zittern, ein bedrohlicher Klang zerriss die Harmonie des Sommertages, und der Engel erschien vor dem Straßenkehrer. Den Zeigefinger zum Himmel gestreckt, trieb er dem Pflichtvergessenen die Schamesröte ins Gesicht. Sofort griff der reuige Sünder wieder nach dem Besen und machte sich von neuem an die Arbeit.

Kurz Zeit darauf aber erschien eine schöne Frau auf der Bildfläche. Sie lehnte sich gegen ein Brückengeländer und schaute herab auf den Fluss. Der Straßenkehrer konnte nicht anders: Er ließ seinen Besen Besen sein und lehnte sich neben die fremde Schönheit. Ohne dass sie ihn bemerkte, schwärmte er sie an.

Dem Engel aber blieb das Tun des schwachen Menschensohnes nicht verborgen. Er stellte sich auf die andere Seite des Straßenkehrers und fixierte ihn mit dem fürsorglich-vorwurfsvollen Blick einer strengen Lehrerin. Schuldbewusst nahm da der Straßenkehrer seine Arbeit wieder auf.

Nicht lange, und eine zweite Schönheit tauchte auf, die, wie der Straßenkehrer fand, ebenfalls seine ganze Bewunderung und Aufmerksamkeit verdiente. Sobald er ihr aber schöne Augen machte, erschien wieder der Engel. Dieses Mal zeigte er sich nicht seinem Schutzbefohlenen, sondern baute sich vor der Angebeteten selbst auf. Erschrocken suchte diese das Weite.

Erneut redete der Engel dem Straßenkehrer ins Gewissen. Dieser schwor sich daraufhin, sich fortan durch nichts und niemanden mehr beirren zu lassen, und ließ seinen Besen nun wie in Trance durch den Staub tanzen.

Da waren auf einmal Schreie vom Fluss her zu hören. Eine junge Frau war ins Wasser gestürzt und drohte zu ertrinken. Der Straßenkehrer aber schenkte den Schreien keine Beachtung. „Was geht das mich an?“ dachte er bei sich. „Ich bin hier, um die Straße zu kehren, alles andere ist nicht meine Sache.“

Als der Engel vor ihm erschien, wedelte er noch heftiger, noch pflichtversessener mit dem Besen, so dass der Abgesandte Gottes von einer dichten Staubwolke umhüllt wurde. Aus dieser heraus redete er seinem Schützling erneut ins Gewissen: dass es löblich sei, seinen Alltagspflichten nachzukommen, dass es aber höhere Pflichten gebe, für die man seine Arbeit jederzeit unterbrechen müsse – und dazu zähle es natürlich, das Leben anderer zu retten.

Der Straßenkehrer stellte sich zunächst taub. Schließlich war es ja nicht ausgeschlossen, dass ihn hier der Teufel als Engel Gottes verkleidet erneut vom rechten Weg abzubringen versuchte. Am Ende aber konnte er doch nicht anders und sprang ins Wasser, um der Ertrinkenden zu Hilfe zu eilen. Und weil er ein guter Schwimmer war, dauerte es nicht lange, bis er die schon verloren Geglaubte ans Ufer gebracht hatte.

Der Engel pries die Gnade Gottes, er lobte den Herrn, Dankesgebete perlten von seinen Lippen – bis er sah, wie schön die frisch gerettete Seele war, wie verführerisch … und wie nackt. Missbilligend schüttelte er den Kopf, als der Straßenkehrer den reglosen Körper der Frau auf eine Bank bettete, sie wie eine zerbrechliche Blume betastete, um zu sehen, ob sie noch lebte, und ihr dann mit seinem eigenen Atem neues Leben einhauchte.

Rasch kehrten da die Lebensgeister in dieses Meisterwerk der Natur zurück. Die Frau schlug die Augen auf und richtete sie liebevoll auf ihren Retter, sie lächelte ihn an … Und während der Engel den Straßenkehrer indigniert aufforderte, dieses Satansgeschöpf in den Fluss zurückzuwerfen, lachten die beiden miteinander und schwebten ganz ohne göttlichen Beistand in den siebten Himmel.

Allein im Staub der Straße, griff der Engel nach dem Besen und kehrte wie besessen, als wollte er mit dem Staub zugleich alle Teufel der Welt austreiben.

Bildquelle: http://www.musee-virtuel.com/prevert.htm

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