Musikalische Dichtung

Der kolumbianische Dichter José Ascunción Silva/2

Das dichterische Werk von José Asunción Silva lehnt sich immer wieder an musikalische Gestaltungsprinzipien an, was auch auf den Einfluss der französischen Dichtung seiner Zeit auf ihn verweist. Ein Beispiel dafür ist sein Gedicht „Serenata“.

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Serenade

In der verwaisten, nachtkalten Straße
gleitet der Mond durch Wolkenschleier.
Zitternd wehen Töne heran
durch einen halb geöffneten Fensterladen,
begleitet von bangem Gesang,
unter dem erschauernd,
von starken Fingern sehnsuchtsvoll bewegt,
die zarte Haut der Gitarre erbebt.

In der verwaisten, nachtkalten Straße
hüllt sich der Mond in Wolkendunst.
Langsam versiegen die Töne
hinter dem halb geöffneten Fensterladen.
Ob sie sich mit ihren Flügeln
schwalbengleich ein Nest geflochten haben
in der Seele eines Mädchens,
das sie mit ihrer Liebe nährt?

In der verwaisten, nachtkalten Straße
leuchtet der Mond durch ein Wolkentor.
Leiser und leiser werden die Töne
hinter dem halb geöffneten Fensterladen.
Noch immer aber weht,
von starken Fingern sehnsuchtsvoll errungen,
das zarte Beben der Gitarre
wie ein Liebesseufzer durch die Nacht.

José Asunción Silva: Serenata  (Erstveröffentlichung 1888 in El Telegrama del Domingo, Bogotá). In der 1990 erschienenen textkritischen Gesamtausgabe der Werke Silvas (Obra completa, 2. Aufl. 1996) findet sich das Gedicht auf S. 45 f. (Nachdichtung folgt der ersten Fassung)

Das Gedicht ist enthalten in der von Silva selbst zusammengestellten Sammlung El libro de versos, die in dieser Form erst 1923 veröffentlicht wurde. Eine erste Veröffentlichung von Gedichten Silvas in Buchform erfolgte 1908 im Maucci-Verlag in Barcelona unter dem Titel „Poesías“. Ein Manuskript seiner Jugendgedichte wurde erst 1977 in der kolumbianischen Nationalbibliothek wiederentdeckt und unter dem Titel „Intimidades“ veröffentlicht.

Eine Dichterreise nach Paris

Im Oktober 1884 begab José Asunción Silva sich, wie viele junge Intellektuelle Lateinamerikas seiner Zeit, auf eine bis 1886 währende Reise nach Europa, um dort seine Ausbildung zu vervollkommnen. Außerdem sollte er bei der Gelegenheit für das Handelshaus seines Vaters Kontakte knüpfen.

Er bereiste die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Italien und hielt sich längere Zeit in London auf. Der Schwerpunkt seines Aufenthalts in Europa lag jedoch in Paris, wo er mit der literarischen Avantgarde seiner Zeit in Berührung kam und einige ihrer Vertreter auch persönlich kennenlernte.

Die literarische Szene Frankreichs befand sich seinerzeit gerade im Umbruch. Die Bewegung der Parnassiens wurde allmählich von neueren Zugangsweisen zur Dichtung abgelöst, wie sie in Décadence und Symbolismus zum Ausdruck kamen. Sie alle einte jedoch das Ideal des „l’art pour l’art“, also einer um ihrer selbst willen existierenden Kunst.

Das Ideal des „l’art pour l’art“

Erstmals formuliert wurde das Ideal des „l’art pour l’art“ bereits 1835 von Théophile Gautier im Vorwort zu seinem Roman Mademoiselle de Maupin. Die Dichter des Parnass, deren Name auf drei zwischen 1866 und 1876 erschienene Anthologien unter dem Titel „Le Parnasse contemporain“ zurückgeht, griffen diesen Gedanken auf, indem sie den Parnassos, den Berg der Musen in der griechischen Mythologie, zu einer Art Emblem ihres Schaffens machten. Die Dichtung hatte demnach über dem Alltagsgeschehen zu schweben und dies durch eine entsprechend überpersönlich-objektivierende, formstrenge Ausdrucksweise zu verdeutlichen.

Symbolismus und Décadence hielten an dem Ideal des „l’art pour l’art“ fest, ohne allerdings den abgehobenen Gestus der Parnassiens beizubehalten. Der von Letzteren durch das Prinzip der „impassibilité“ zurückgedrängte subjektive, unmittelbare Ausdruck des lyrischen Ichs wurde rehabilitiert, und in der Literatur der Décadence kam auch der gebrochene, grundsätzlich unvollkommene Charakter der menschlichen Existenz wieder verstärkt zum Ausdruck.

Beide literarische Strömungen wandten sich mit dem Leitgedanken des „l’art pour l’art“ aber weiter gegen das Modell einer Kunst, die sich in irgendeiner Weise gesellschaftlichen Interessen unterordnet. Entscheidend war dabei die Opposition gegenüber dem Nützlichkeitsdenken der bürgerlichen Gesellschaft, das jedwede menschliche Handlung nach seinen Kosten-Nutzen-Kategorien bewertet. So hatte Charles Baudelaire bereits 1857 die „Idee der Nützlichkeit“ als größte Widersacherin der „Idee der Schönheit“ charakterisiert und daraus die Notwendigkeit einer von der Welt des Nützlichkeitsdenkens abgegrenzten Welt der Kunst abgeleitet [1].

Durch eben diese dezidierte Ablehnung einer Unterwerfung unter das utilitaristische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell erhält der Gedanke des „l’art pour l’art“ eine gesellschaftskritische Akzentuierung. Gerade aus der expliziten Distanz zum politischen Alltag kann sich eine politische Bedeutung des Konzepts ergeben.

In genau diesem Sinn ist es später auch von dem nicaraguanischen Autor Rubén Darío aufgegriffen worden, der allgemein als Leitfigur des lateinamerikanischen Modernismo angesehen wird. Die imperialistischen Bestrebungen der USA, die im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 offen zutage traten, assoziierte er mit eben jenem utilitaristischen Denken, das künstlerischer Freiheit ebenso abträglich sei wie der Vielfalt der Kulturen, die durch die expansionistische Durchsetzung der eigenen Interessen in anderen Ländern unterminiert werde [2].

Musikalität als Fundament einer autonomen Dichtung

Ein wesentliches Mittel für die konkrete Umsetzung des Ideals des „l’art pour l’art“ war die Einbeziehung musikalischer Kompositionsprinzipien in die Dichtung. So forderte etwa Paul Verlaine 1874 in seinem programmatischen Gedicht Art poétique, die Dichtung müsse vor allem musikalisch sein („de la musique avant toute chose“; 3).

Zentrales Anliegen der Dichtung war demzufolge hier nicht die Wiedergabe der äußeren Realität. Stattdessen sollten die Gedichte durch eine besondere Metaphorik und Musikalität eine neue, eigene Welt erschaffen und sich eben dadurch in ihrem Eigen-Sinn gegenüber der äußeren Realität behaupten.

Dies gilt auch für die Lyrik Charles Baudelaires. Auch hier sind Sprachrhythmus, der Klang der Worte und die durch sie evozierten Bilder wichtiger als der tradierte Verwei­sungscharakter der Begriffe. Die Gedichte sollen nicht zum Nachdenken anregen, sondern die Lesenden unmittelbar berühren und eben dadurch eine – in Baudelaires Worten – „erhebende“, den Sinn für das Schöne, Wahre und Ge­rechte öffnende Gestimmtheit in ihnen auslösen [4]. Dadurch ist diese Art von Lyrik in ihrer Wirkung der Musik zuweilen näher als der traditionellen Dichtung.

Noch konsequenter wird diese Annäherung an die Musik in der späteren Lyrik Stéphane Mallarmés umgesetzt. Die Welt der Dinge zerfällt hier in ihre einzelnen Elemente, die wie die Noten eines Musikstücks neu miteinander kombiniert werden. Ziel ist es, die Realität nicht mehr in ihrer tradierten Sichtweise abzubilden, sondern sie wie eine Partitur zu präsentieren, die in den Lesen­den bzw. Hörenden bestimmte Seelenzustände wachruft [5].

Musikalische Kompositionsprinzipien in Silvas Gedicht Serenata

In Silvas Gedicht Serenata ist die Anlehnung an die Musik bereits am Titel abzulesen. Sie wird in dem Gedicht allerdings nicht nur thematisch, sondern auch durch die Übernahme musikalischer Kompositionsprinzipien umgesetzt.

So lassen sich in dem Gedicht wie in einem Musikstück verschiedene Themen identifizieren, die regelmäßig wiederholt und variiert werden. Dabei handelt es sich im Einzelnen um

  1. „die verwaiste, nachtkalte Straße“;
  2. den Mondschein;
  3. den „halb geöffneten Fensterladen“;
  4. die Gitarrenklänge;
  5. das angedeutete Liebeswerben.

Während die Themen „a“ und „c“ ganz oder größtenteils unverändert bleiben, werden die anderen Themen in jeder der drei Strophen in variierter Form aufgegriffen. Der Mond ist etwa zunächst nur undeutlich hinter Wolkenschleiern zu erkennen, ehe er in der dritten Aufnahme des Themas klar durch ein Wolkentor leuchtet. Parallel dazu verebben die Gitarrenklänge allmählich und deuten so an, dass das mit ihnen offenbar verbundene Liebeswerben erfolgreich war.

Anstatt also offen von einem Barden und seiner Angebeteten zu sprechen, vermittelt das Gedicht das Liebeswerben in musikanaloger Weise. Die Sehnsüchte des Liebenden übersetzen sich in Gitarrenklänge, die das Gedicht wiederum in poetische Bilder und eine liedähnliche Komposition übersetzt.

Das reale Geschehen wird damit vollständig in eine poetische Welt übertragen und kann so in einer neuen, seiner Banalität entkleideten Form wahrgenommen werden. Der über die Realität gelegte künstlerische Filter spiegelt sich dabei wider in der Rezeptionshaltung des lyrischen Ichs, dem sich das Geschehen ebenfalls nicht direkt, sondern nur vermittelt über die entfernten Gitarrenklänge erschließt.

Nachweise

[1]    Vgl. Baudelaire, Charles: Notes nouvelles sur Edgar [Allan] Poe (Neue Anmerkungen zu Edgar Allan Poe; 1857), Abschnitt 3. Vor­wort zu Poe, Edgar [Allan]: Nouvelles histoires extraordi­naires [19 Sei­ten in vier Abschnitten]. Paris 1884: Quan­tin.

[2]    Exemplarisch für die kritische Auseinandersetzung Daríos mit dem US-amerikanischen Imperialismus ist sein Gedicht A Roosevelt (An Roosevelt), in dem er am Beispiel der Regierung Theodor Roosevelts (1858 – 1919, Präsident der USA von 1901 bis 1909) die Auswirkungen der damaligen US-amerikanischen Politik thematisiert (vgl. Rubén Darío: A Roosevelt; aus: Cantos de vida y esperanza – Lieder des Lebens und der Hoffnung; 1905).

[3]    Verlaine, Paul: Art poétique (1874); Erstveröffentlichung in Paris Moderne (1882); in einer Gedichtsammlung Verlaines zuerst in Ja­dis et naguère, (1884); hier zit. nach Ders.: Oeuvres complètes (Sämtliche Werke), Bd. 1, S. 311 f. Paris 1902: Vanier.

[4]    Baudelaire, Notes nouvelles sur Edgar [Allan] Poe (s. Anm. 1), Abschnitt 4.

[5]    Vgl. hierzu Rother Baron: Aufstand gegen das Leben. Stéphane Mallarmés hermetischer Symbolismus. Mit Nachdichtungen ausgewählter Werke des Dichters. LiteraturPlanet, 2022 (PDF).

Bild: Honoré Daumier (1808 – 1879): Singender Pierrot mit Mandoline (zwischen 1869 und 1873); Winterthur, Sammlung Oskar Reinhart, Kunstmuseum „Am Römerholz“ (Wikimedia commons)

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