Ein Nachruf auf das eigene Leben

Die uruguayische Dichterin Delmira Agustini/1

Der Poetry Day auf LiteraturPlanet wird in den kommenden Wochen der uruguayischen Dichterin Delmira Agustini (1886 – 1914) gewidmet sein. Für ihre innovative Lyrik gefeiert, hat ihr Leben schon früh ein tragisches Ende genommen.

Podcast

An einem schlichten Grab

„Tot … „
Geblendet von der Klarheit dieses Wortes,
erwächst in mir die Frage: Was ist geschehen?
Weshalb versickerte dein zarter Lebenstrank
in diesem finsteren, gewaltigen Gefäß?

War zu göttlich für die Welt dein Blick,
zu himmlisch deine Seele,
dein Gesicht zu engelsgleich?
War dies das Übel, das dich verzehrte?

Ein Himmel erblühte
dort, wo dein Fuß den Boden berührte.
Entrückt vor der Zeit, hast du die Welt
mit traumgeborenen Worten erweckt.

Deine Arme aber, geflügelte Knospen,
hat nachts ein offenes Fenster verführt.
Gestreift von einem Engelshauch,
sind sie in die Nacht entschwunden.

So kam es, dass in deiner Seelenkammer,
in deinem samtenen Verlies,
vom Rosenduft der Hingabe umflammt,
die Einsamkeit das Entsetzen gebar.

Delmira Agustini: Sobre una tumba cándida aus: El Rosario de Eros (Der Rosenkranz des Eros; 1924)

Ein verhängnisvoller Besuch

Am 6. Juli 1914 besuchte die 27-jährige Delmira Agustini den wohlhabenden Pferdehändler Enrique Job Reyes in dessen Wohnung in Montevideo. Daran wäre an sich nichts Besonderes gewesen. Bemerkenswert war die Begegnung nur deshalb, weil sie sich zwei Wochen zuvor von ihm hatte scheiden lassen.

Nun wäre auch dieser Umstand an sich nichts Außergewöhnliches gewesen. Schließlich gibt es genug Beispiele von Paaren, die auch nach einer Scheidung weiter freundschaftlich miteinander Umgang haben.

Die Beziehung von Agustini zu Reyes war jedoch von Anfang an spannungsgeladen. Als sie ihn 1908 kennenlernte, musste sie sich zunächst heimlich mit ihm treffen, da ihre Eltern – der Vater stammte aus einer korsisch-uruguayischen, die Mutter aus einer argentinisch-deutschen Familie – die Beziehung missbilligten. Als Tochter aus wohlhabendem Hause hatte sie häuslichen Privatunterricht erhalten, vorwiegend in musischen Fächern. Ein Pferdehändler – begütert oder nicht – war daher kaum das, was als „gute Partie“ gelten konnte.

Dass die Dichterin Reyes im Sommer 1913 dennoch heiratete, zeugt zum einen von ihrem Durchsetzungsvermögen. Zum anderen mochte dahinter jedoch auch das Kalkül stehen, die Erwartungen der Gesellschaft nach außen hin zu befriedigen, hinter der Fassade der bürgerlichen Ehe aber weiter das Leben als unabhängige Dichterin führen zu können. Außerdem hoffte Agustini womöglich, so eher den sensationslüsternen Blicken zu entgehen, die sie durch ihre von den Zeitgenossen als freizügig empfundene Liebeslyrik auf sich gelenkt hatte.

Das Scheitern einer Ehe – im Eiltempo

Sollte es ein solches Kalkül gegeben haben, so ist es allerdings in keiner Weise aufgegangen. Keine zwei Monate nach der Hochzeit zog die Dichterin zurück zu ihren Eltern und reichte die Scheidung ein. Offenbar hatte sie die Zwänge, denen sie als Ehefrau ausgesetzt war, unterschätzt.

Hinzu kam, dass Reyes den dichterischen Ambitionen seiner Gattin skeptisch gegenüberstand und sich wohl eher vorgestellt hatte, dass sie nach der Hochzeit davon Abstand nehmen würde. So gingen beide mit diametral entgegengesetzten Vorstellungen in die Ehe, was diese fast zwangsläufig scheitern lassen musste.

Dennoch traf die Dichterin sich auch während des Scheidungsprozesses weiter mit Reyes in dessen Wohnung in Montevideo. Dies ist umso erstaunlicher, als sie bereits vor der Hochzeit einen leidenschaftlichen Briefwechsel mit dem argentinischen Autor Manuel Ugarte – der bei ihrer Hochzeit mit Reyes als Trauzeuge fungiert hatte – begonnen hatte.

Eine gefeierte Dichterin

Möglicherweise hatte Agustini tatsächlich nur die Ehe mit Reyes, nicht aber die Beziehung zu ihm beenden wollen. Vielleicht hatte sie sich tatsächlich vorgestellt, den Reiz der früheren heimlichen Treffen wiederaufleben lassen zu können.

Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Agustini zum Zeitpunkt der Hochzeit mit Reyes bereits eine gefeierte Dichterin war. Ihren bis dahin drei Gedichtbänden war höchste Anerkennung zuteilgeworden. In Kritiken und Vorworten zu ihren Büchern wurde sie für ihren innovativen, kraftvollen Stil gelobt, auch ihre Zeitungskolumnen fanden breiten Anklang.

Ihr, die als Frau noch immer eine Ausnahmeerscheinung in der Literatur war, lag die literarische Welt von Montevideo zu Füßen. Da diese aber zum allergrößten Teil aus Männern bestand, bedeutete dies zugleich: Die männlichen Intellektuellen der Hauptstadt umschwärmten sie mit Lobeshymnen, die sich sowohl auf ihr außergewöhnliches dichterisches Talent als auch auf ihre persönliche Ausstrahlung bezogen. Als Dichtergöttin von vielen Männern begehrt zu werden, ohne sich an einen von ihnen binden zu müssen, entsprach für Agustini demnach schlicht ihrer alltäglichen Erfahrung.

Der Weg in die Katastrophe

Reyes dagegen hatte für Agustinis freiheitlichen Lebensentwurf keinerlei Verständnis. Dass sie sich auch nach der Trennung weiter mit ihm traf, mochte er als Ermutigung verstehen, sie doch noch für sich zurückzugewinnen. Als umso demütigender musste er den Scheidungsprozess erleben – zumal Agustini schwerwiegende Gründe anführen musste, um die Scheidung durchzusetzen.

Briefe aus dem Nachlass legen nahe, dass Reyes sich bereits während des Scheidungsverfahrens mit Selbstmordgedanken getragen hatte. Die Vorstellung, Agustini zu verlieren oder sie mit anderen teilen zu müssen, war ihm offenbar unerträglich.

So kam es bei jenem Treffen am 6. Juli 1914, zwei Wochen nach der amtlich besiegelten Scheidung, zur Katastrophe: Reyes erschoss erst Agustini und dann sich selbst.

Die Dichterin ist damit ein frühes Beispiel für einen Femizid auf dem lateinamerikanischen Kontinent, lange vor der „Ni-una-menos“-Bewegung. Vor allem aber hat ihre Ermordung ihrer vielversprechenden Lyrik ein viel zu frühes Ende gesetzt.

Sobre una tumba candida“ als Nachruf auf das eigene Leben

Vor dem Hintergrund des tragischen Lebensendes der Dichterin wirkt das Gedicht Sobre una tumba cándida zunächst wie ein von ihr selbst geschriebener Nachruf auf sie. Vieles darin erscheint im Rückblick wie eine schlaglichtartige Skizze ihres eigenen Lebens.

Das Gedicht ließe sich, so betrachtet, als Porträt einer Person lesen, von deren Persönlichkeit und Geistesgaben eine besondere Strahlkraft ausging, die aber gleichzeitig – eben dadurch – auf dieser Welt eine Fremde geblieben ist. Im Falle Agustinis bezieht sich dies nicht nur auf ihre innovativ-modernistische Dichtung, sondern auch auf ihren modernen Lebensentwurf als selbstbewusste, selbstbestimmt lebende Frau.

Zur Biographie der Dichterin, die nach einer behüteten Kindheit in die Intrigenwelt der Hauptstadtsalons eingetreten ist, passt auch der in dem Gedicht angedeutete Übertritt aus dem geschützten Innenbereich in die Außenwelt – und die Anspielung auf die Gefahren, die dabei lauern. Diese lassen sich zudem auf das Abenteuer der Dichtung selbst beziehen, die, wird sie mit ganzer Seele betrieben, das Gefühl der Fremdheit in der Welt noch verstärken kann.

Das Gedicht in einem breiteren Kontext

Geht man von dem Titel des Gedichts aus, sind indessen noch andere Deutungen möglich. So bedeutet „cándido“ im Spanischen nicht nur „schlicht/einfach“, sondern auch „arglos, ohne Hinterlist“ und kann – in poetischer Sprache – schließlich auch die Farbe Weiß bezeichnen.

„Tumba cándida“ ließe sich damit auch als „weißes Grab“ oder als „Grab eines arglosen Menschen“ übersetzen. Damit ergeben sich auch Assoziationen zum Topos des reinen, unschuldigen Kindes, das die Welt mit neuem Blick betrachtet – und sie dadurch verwandelt.

Das offene Fenster kann dabei auf der konkreten Ebene eine Andeutung der Todesursache sein, also vielleicht auf eine Lungenentzündung verweisen. Im übertragenen Sinn stünde es für den „Ausflug“ des Geistes aus dem geschützten Bereich der Kindheit und damit für sein unaufhebbares Scheitern an der Erwachsenenwelt mit ihrer harten, unpoetischen Logik.

Denkt man sich den kindlichen Geist als Persönlichkeitsmerkmal eines Erwachsenen, der sich den poetischen Kinderblick auf die Welt bewahrt hat, so könnte der Schluss des Gedichts schließlich auch einen Freitod andeuten. Die das Entsetzen heraufbeschwörende Einsamkeit wäre dann eine Umschreibung für die Verlassenheitsgefühle eines Menschen, der seine Fremdheit in der Welt nicht mehr erträgt.

Eine bebilderte Chronologie zum Leben Delmira Agustinis findet sich auf cvc.cervantes.es.

Bilder: Wilhelm Kotarbiński (1848 – 1921): Grab eines Selbstmörders (um 1900); Krakau, Polnisches Nationalmuseum (Wikimedia commons); Unbekannter Autor: Porträt (restauriert und eingefärbt)

Eine Antwort auf „Ein Nachruf auf das eigene Leben

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..