Minnelieder Walthers von der Vogelweide/3
Die vergeistigte „hohe“ und die körperbetontere „niedere“ Minne werden oft als voneinander getrennte Sphären betrachtet. In den Minneliedern Walthers von der Vogelweide können beide allerdings auch ineinander übergehen.
Walther von der Vogelweide: Du Wunder an Gestalt
Wirst, Frau, du Wunder an Gestalt,
die ich in meinen Liedern preise,
du Altarbild meiner Seele,
mich einst mit deinem Dank belohnen?
Bedenke doch:
Ich könnte allen Frauen dienen –
doch habe ich nur dich
als meine Herrin auserkoren!
Dir nur sind gewidmet
all meine Lieder und Lobpreisungen.
Nie will ich schauen auf das Lob
anderer Sänger für andere Frauen.
Aus dem Himmel deines Hauptes
leuchten zwei Sterne mir entgegen.
Wie gerne würde meine Seele
in ihrer Ewigkeit sich spiegeln!
Ein Jungbrunnen sind diese Sterne,
Heilung verheißen sie von allen Qualen
dem, der ihnen nahen darf.
Ach, könnte dies doch einmal nur geschehen!
Eine Rose lässt, du Himmelsbraut,
der Höchste blühen auf deiner Haut.
Lilienzart sind deine Wangen,
reiner als Himmel und Himmelswagen.
Doch still, mein Herz:
Je höher du die Himmelsbraut erhebst,
desto unerreichbarer wird sie dir,
desto verzweifelter verzehrst du dich nach ihr.
Wie gerne würde, Herrin! ich das Himbeerkissen
deiner Lippen auf meiner Wange spüren!
All mein Leiden könnte ich heilen,
würdest du nur einmal es mir leihen.
Ein Balsamduft umhüllt dies Kissen,
ein Duft von Myrrhe und Jasmin.
Mit Engeln würde meine Seele singen,
könnte sie an diesem Duft sich laben.
Umso heftiger traf, Herrin!
der Pfeil deiner Liebe mich,
als du an jenem Tag dem Bad entstiegest
in Gottes ungeteilter Pracht.
So weiß ich nicht nur zu rühmen
den Perlenschimmer deines Halses,
die Libellenflügel deiner Hände
und das Feenflüstern deiner Füße.
Mit gleicher Inbrunst preist mein Herz
den Schrein deines geweihten Leibes.
Geheiligt ist die Erde mir,
auf der sich ungeteilt mir offenbarte
der Sternenmantel deiner Haut.
Mittelhochdeutsches Original: Si wunder wol gemachet wip (nach 1204)
Andere Überlieferungsvarianten: Si (Vil) wunder wol gemachet wîp
Vertonung von Marc Lewon, gesungen von Joel Frederiksen mit dem Münchner Ensemble Phoenix:
Elemente der hohen Minne in dem Gedicht
Das Gedicht bewegt sich zunächst ganz im Rahmen des klassischen Minnesangs. Das lyrische Ich preist die Auserwählte als einzigartige Schönheit und gelobt, nur dieser einen Angebeteten zu dienen.
Die gepriesene Schönheit bezieht sich dabei nicht nur auf den Körper der edlen Dame, sondern auch und gerade auf ihre Seele und ihre Geistesgaben. Dies wird angedeutet, wenn von dem „himeleschen schîn“ (himmlischen Schein) die Rede ist, der das Haupt der Schönen umgebe. Dieser überstrahlt in dem Gedicht sogar „himel“ und „himelwagen“.
Das Gedicht knüpft damit auch an das biblische Hohelied König Salomos an, in dem im Bild einer Frau von vollkommener Schönheit die Seele und ihre innige Verflechtung mit dem Göttlichen besungen wird. Dementsprechend werden die Wangen der Besungenen ausdrücklich als von Gott geschaffen beschrieben. Ihre Charakterisierung als zugleich „roseloht“ (rosenrot) und „liljenvar“ (lilienweiß) verbindet dabei den Gedanken weiblicher Blüte mit dem mariengleicher Unschuld.
Schließlich greift das Gedicht auch den Topos ewigen Lebens auf, der durch die Hinwendung zu der von der Angebeteten verkörperten reinen Seele zu erlangen sei: Ewige Jugend verheißt der „balsmen“ (Balsam) ihrer Lippen, als wäre er ein göttlicher Zaubertrank.
Wenn die Göttin vom Himmel steigt
Der Schluss des Gedichts – im mittelhochdeutschen Original die vierte und letzte Strophe – überschreitet allerdings deutlich den Rahmen des traditionellen Minnesangs. Denn hier gesteht der Minne-Jünger, dass er nicht nur das himmlische Haupt seiner Göttin gesehen hat, sondern deren ganzen Körper: Er hat sie beim Verlassen des Bades beobachtet.
Zwar bleibt auch hier der religiöse Tonfall erhalten, indem der von der Schönen berührte Boden als „rein“ gepriesen wird. Allein die Tatsache, dass auch die ansonsten verdeckten Partien des Körpers gerühmt werden, überschreitet jedoch die Grenzen des traditionellen Minnesangs – auch wenn im Original lediglich schamvoll-augenzwinkernd von einem „enzwischen“ (Dazwischen) die Rede ist, dessen Reize nicht verschwiegen werden sollen.
Hohe und niedere Minne: keine strengen Gegensätze
Dies zeigt, dass das Ideal des hohen Minnesangs von Anfang an nur eine Idealvorstellung war, die keineswegs immer und von allen Dichtern in Reinform umgesetzt worden ist. Die Grenzen zur Feier einer anderen, körperliche Erfüllung und sinnlichen Rausch mit einschließenden Liebe waren vielmehr fließend.
Hieraus hat sich auch eine gewisse Unsicherheit bei der Klassifizierung der Gedichte Walthers von der Vogelweide ergeben. Eine Betrachtungsweise geht von einer linearen Entwicklung der Dichtung Walthers von der „hohen“, auf eine vergeistigt-platonische Liebe abzielenden Minne hin zu einer „niederen“, auch körperliche Erfüllung mit einschließenden Minne aus. In diesem Fall werden alle auf einen späteren Zeitpunkt seines Lebens datierbaren Minnelieder automatisch der letzteren Kategorie zugeordnet, ungeachtet der Tatsache, dass auch in manchen der späteren Werke Aspekte der hohen Minne zu finden sind oder gar dominieren.
Eine andere Betrachtungsweise unterstellt dagegen, dass Walther nach einem vorübergehenden Ausflug in die Welt der „niederen“ Minne noch einmal zur „hohen“ Minne zurückgekehrt sei. Hieraus wird dann eine zusätzliche Phase seiner Lyrik abgeleitet, die als „Neue hohe Minne“ charakterisiert wird.
Sinnvoller erscheint es dagegen, „hohe“ und „niedere“ Minne nicht als streng voneinander getrennte Sphären zu betrachten, sondern als Extrempunkte auf einem Kontinuum, innerhalb dessen sich Walthers Dichtung bewegt. Dabei ließe sich dann eine allmähliche stärkere Hinwendung zu Formen einer körperbetonteren, sinnenfroheren Liebe beobachten – ohne dass der Gedanke der „hohen“, den Geist erhebenden und befruchtenden Liebe dabei ganz verloren gegangen wäre.
Bild: Frederick Vezin (1859 – 1933): Badenixe im Waldbach (Wikimedia commons)