Zu dem Genesis-Song Dusk (Abenddämmerung)
Musikalischer Adventskalender 2024/9
Der zweite thematische Block des Adventskalenders ist der Band Genesis gewidmet. Den Anfang macht der Song Dusk (Abenddämerung). Er handelt von jugendlichem Weltschmerz, weist aber auch Wege zu dessen Überwindung.
Abenddämmerung
Zitternd umtastet meine Hand
das Wirkliche.
Einst strich sie über die Haut
der Liebe. Jetzt hält sie krampfhaft
sich an der Vergangenheit fest.
Der Geruch einer Blume.
Die Farben des Morgens.
Freunde, an die man glauben kann.
Wie schnell sind die Tränen getrocknet,
wie rasch verzieht sich der Regen,
und ein neuer Tag beginnt!
Fällt der Baum um,
wenn ein Blatt zu Boden fällt?
Trocknet die Quelle aus,
wenn wir Wasser daraus schöpfen?
Das Seufzen einer Mutter.
Die Schreie der Liebenden,
die sich mit der Leidenschaft von Tigern
aneinander klammern,
den Ängsten der Welt entrückt.
Höllische Qualen musste einst erleiden
einer, der sich „Jesus“ nannte.
Blind war der Himmel
für seine Qualen.
Und nun ist der Käpt’n allein,
mein Schiff versinkt im Meer.
Nur ein verlorener Bauer bin ich
auf einem Schachbrett.
Ein ungünstiges Zucken von Gottes Hand
kann mich in den Abgrund stürzen.
Doch still! Erblüht nicht
eine neue Morgenröte am Horizont?
Ein leuchtender Tag, der nichts weiß
von diesem Menschen, der vorübergeht,
geboren, um zu sterben?
Genesis: Dusk aus: Trespass (1970)
Official Audio:
Ein Song über jugendlichen Weltschmerz
Das 1970 erschienene Album Trespass ist das erste, das der Progressive-Rock-Phase von Genesis zugerechnete wird. Die Bandmitglieder hatten sich dafür längere Zeit in ein Cottage zurückgezogen, um dort an ihrem musikalischen Stil zu feilen.
Die Lyrics zu Dusk wurden hauptsächlich von Anthony Phillipps geschrieben, mit Unterstützung von Michael Rutherford. Beide waren zum Zeitpunkt des Erscheinens des Songs noch sehr jung: Rutherford war gerade 20 geworden, Phillipps noch keine 19. Auch Peter Gabriel und Tony Banks waren damals gerade erst in die Twen-Liga aufgestiegen.
So lässt sich der Song zunächst als Ausdruck eines Weltschmerzes verstehen, wie ihn viele Teenager beim Austritt aus der behüteten Welt der Kindheit empfinden mögen. Das vertiefte Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit erweckt dabei bei manchen den Eindruck, mit dem Erwachsenwerden praktisch schon den Wartesaal des Todes zu betreten, das Leben also schon hinter sich zu haben.
Hiervon zeugt in dem Lied die für 20-Jährige erstaunliche Feststellung, die Liebe bereits verloren zu haben und nun nur noch in der Vergangenheit zu leben. Dem daraus resultierenden Weltschmerz wird dabei auf teils recht drastische Weise Ausdruck gegeben. Dies reicht bis zu dem Gefühl, nach dem Kreuzestod Christi in einer von Gott verlassenen Welt zu leben. In dem dunklen Ozean der Welt ist das Menschenschiff führerlos den Fluten preisgegeben und muss jederzeit auf seinen Untergang gefasst sein.
Auch das für viele Heranwachsende typische Gefühl, unverstanden zu sein, spiegelt sich in der Jesusgestalt wider. Wie der Himmel das Flehen Christi nicht erhört hat, gibt es auch für das Ich des Liedes niemanden, der ihm aus seiner Not heraushelfen kann. Denn diese ist existenzieller Natur und beruht auf der Gewissheit, „geboren zu sein, um zu sterben“.
Tröstende Elemente in dem Song
Das Lied zeichnet sich nun allerdings auch dadurch aus, dass auf den Ausdruck existenzieller Verzweiflung jeweils Verse folgen, die Trost spenden sollen. Musikalisch wird dies dadurch umgesetzt, dass die Verzweiflungsstrophen jeweils als Solopart und die tröstenden Verse als Chorgesang vorgetragen werden. Dem Einsamen, der sich von Gott und der Welt im Stich gelassen fühlt, wird so gewissermaßen eine Brücke in eine Gemeinschaft geebnet, die ihm Halt geben kann.
Inhaltlich verweisen die Trostverse auf all das, was den Menschen vor dem Versinken im Sumpf der Trauer bewahren kann: Freundschaft, Liebe, ein neues Leben, aber auch die kleinen Schönheiten des Lebens, wie ein betörender Duft oder die zauberhafte Farbe eines Herbstmorgens.
Der größte Trost, den der Text bereithält, besteht allerdings in der Einsicht, Teil von etwas Größerem zu sein, welches das Einzelleben überdauert. Wie der Baum nicht stirbt, wenn ein Blatt zu Boden fällt, und die Quelle nicht austrocknet, wenn man ihr Wasser entnimmt, pulsiert auch das Leben weiter, wenn ein einzelnes Wesen vergeht.
Für das narzisstische Ego mag dies eine Kränkung sein. Für einen religiös oder zumindest kontemplativ veranlagten Menschen ergibt sich jedoch gerade daraus ein Gefühl der Geborgenheit in einem allumfassenden Seinszusammenhang.
Bild: J. M. W. (William) Turner (1775 – 1851): Yacht Approaching the Coast (Eine Segeljacht bei der Annäherung an die Küste; zwischen 1840 und 1845); Lonon, Tate Britain (Wikimedia commons)
Jakob Münter aus Bremen
Ich liebe die frühe Musik von Genesis. Die Texte habe ich nie ganz verstanden. Ich finde diesen Beitrag von daher sehr spannend und freue mich auf die nächsten zum Thema!
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