Wenn das Selbstverständliche fragwürdig wird

Über ein Gedicht des polnischen Lyrikers Tadeusz Różewicz

Der polnische Dichter Tadeusz Różewicz hat den Krieg im Widerstand gegen die deutsche Besatzung hautnah miterlebt. Dies hat auch seine Lyrik geprägt. Sie lässt immer wieder erahnen, wie sehr die Kriegserfahrung Zweifel sät an der Haltbarkeit eines friedlichen Alltags.

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Wie einfach

Wie einfach das ist,
Beeren zu pflücken im Wald!
Und ich dachte,
es gäbe keinen Wald mehr
und keine Beeren.

Wie einfach das ist,
im Schatten eines Baumes zu liegen!
Und ich dachte,
es gäbe kein Licht mehr
und keinen Schatten.

Wie einfach das ist,
bei dir zu sein und dein Herz zu hören!
Und ich dachte,
es gäbe keine Menschen mehr
und keine Herzen.

Tadeusz Różewicz: Jak dobrze (Wie gut) aus: Czerwona rękawica (Der rote Handschuh; 1948)

Dichtung aus dem Geist des Widerstands

Tadeusz Różewicz wurde 1921 als Sohn eines Justizbeamten geboren. Seine Mutter war jüdischer Herkunft, trat für die Hochzeit mit ihrem Mann aber zum katholischen Glauben über. Die Familie lebte im 40 Kilometer nördlich von Częstochowa (Tschenstochau) gelegenen Radomsko. Nach der Schule trat Różewicz zunächst als Gerichtsdiener in die Fußstapfen seines Vaters, begann dann aber eine Tischlerlehre.

Różewicz hatte eine besonders enge Beziehung zu seinem älteren Bruder Janusz, mit dem gemeinsam er sich in die polnische Literatur vertiefte und auch selbst erste literarische Gehversuche unternahm. Sein Bruder war es auch, der Różewicz im Zweiten Weltkrieg zur polnischen Heimatarmee brachte, für die er selbst bereits tätig war.

Różewicz wurde Teil einer vorwiegend in Wäldern operierenden Einheit, wo er sich an Partisanenkämpfen beteiligte, nebenher aber auch für eine Armeezeitung tätig war und dabei weiter Gedichte schrieb. Diese fanden bei seinen Kameraden so viel Zuspruch, dass er für eine Woche vom Dienst freigestellt wurde, um ein längeres Werk zu verfassen. So entstanden die Echa leśne (Echos des Waldes), die nach dem Krieg den Ruhm von Różewicz als Dichter begründen sollten.

Das Werk enthält außer Lyrik und Prosagedichten auch kurze Sinnsprüche und Aufzeichnungen von Gesprächen mit Kameraden. Es zeugt einerseits von Widerstandsgeist, lässt andererseits aber auch immer wieder den Schmerz darüber erkennen, dass eine humanere und gerechtere Welt im Widerstandskampf gegen ein totalitäres Regime nur auf dem Wege der äußersten Inhumanität – der Tötung anderer – erreicht werden kann.

In seinen 1947 und 1948 erschienenen Gedichtbänden Niepokój (Unruhe) und Czerwona rękawiczka (Der rote Handschuh) setzte Różewicz seine dichterische Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Krieges fort. Dabei bemühte er sich von Anfang an darum, einerseits die dichterischen Ausdrucksmöglichkeiten nicht preiszugeben, andererseits aber das Entsetzliche nicht durch einen Anschein von ästhetischer Harmonie zu verharmlosen. Für seinen Bruder Janusz, der im Krieg als Widerstandskämpfer hingerichtet worden war, verfasste er später eine eigene Textsammlung.

Das Entsetzliche hinter der Fassade des Friedens

Paradigmatisch für die frühe Nachkriegsdichtung von Różewicz ist das Gedicht Jak dobrze (Wie gut). Es beschwört den Neuanfang nach dem Krieg, macht jedoch zugleich deutlich, dass der Neubeginn von der Erfahrung des vergangenen Grauens durchdrungen sein wird. Gerade das Einfache, Selbstverständliche eines mit sich selbst versöhnten Lebens erscheint so als etwas Außergewöhnliches, Zerbrechliches, das jederzeit wieder von dem unter seiner Oberfläche lauernden Entsetzlichen zerstört werden kann.

Die Gedichte fanden bei Publikum und Literaturkritik großen Anklang. Dem stand jedoch die Ablehnung durch die neuen realsozialistischen Kulturbehörden gegenüber, die dem Dichter eine Orientierung an westlich-modernistischen Lyrikmodellen vorwarfen. Diese wurden als „bürgerlich“ abgelehnt und als inkompatibel mit der Doktrin des sozialistischen Realismus erachtet.

Nach einem Ungarnaufenthalt zog sich Różewicz daher Anfang der 1950er Jahre aus der Öffentlichkeit zurück und konzentrierte sich in Gliwice (Gleiwitz) unter materiell schwierigen Bedingungen auf seine literarische Arbeit. Erst die nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 einsetzende Tauwetter-Periode verbesserte seine Situation und verhalf ihm zu mehr Anerkennung.

Literarische Spiegelbilder des Absurden

Durch die neuen Freiräume ermutigt, begann Różewicz seine literarische Tätigkeit auch auf das Drama auszuweiten. Dabei orientierte er sich am Theater des Absurden, wie er es bei Samuel Beckett und Eugène Ionesco kennengelernt hatte.

Sein 1958/59 entstandenes Stück Kartoteka (Kartei/Kartothek) ist, wie der Titel andeutet, ein Kaleidoskop lose zusammenhängender Szenen, die zwar thematisch alle den vergangenen Krieg umkreisen, jedoch nicht chronologisch aufeinander aufbauen. Sie bilden damit das Chaos des Krieges ab, ermöglichen es aber gleichzeitig, durch das Aufbrechen der oberflächlichen Ordnung neue Zusammenhänge zu entdecken.

Unter dem ironisch-provokanten Etikett Śmietnik (Mülleimer) nutzte Różewicz die in Kartoteka erprobte Collagentechnik später auch für Prosawerke. Nachdem er im Anschluss an den Krieg zunächst ein paar Semester Kunstgeschichte studiert hatte, experimentierte er auch später immer wieder mit literarischen Adaptionen von Techniken der bildenden Kunst.

Auch auf diese literarischen Innovationen gab es in der Öffentlichkeit ein geteiltes Echo. Während einige sich hiervon zu eigenen Experimenten ermutigt fühlten, organisierten andere, der Kulturbürokratie nahestehende Autoren regelrechte Kampagnen gegen ihn.

Gerade sein Mut, gegen alle Widerstände immer wieder neue literarische Wege zu gehen, hat Różewicz nach dem Sturz des realsozialistischen Regimes im Jahr 1989 zum Status eines Dichters von nationalem Rang verholfen. Sein Ruhm reicht dabei weit über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus. Zum Ende seines Lebens – er starb 2014 92-jährig in Wrocław (Breslau) – wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, u.a. 2007 mit dem Europäischen Literaturpreis der Stadt Straßburg. Bereits 1982 hatte er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur erhalten.

Mehr Infos zu Tadeusz Różewicz (polnisch):

Kowalczyk, Janusz R.: Tadeusz Różewicz. Culture.pl, 2007; zuletzt aktualisiert am 21. Februar 2022 [mit Bildern des Dichters].

Marek, Rafał:  Tadeusz Różewicz – Biografia, wiersze, twórczość  [Leben, Dichtung, Werk]. Poezja.org, 10. Juli 2022.

Bilder: Johannes Plenio: Herbstlicher Waldweg (Pixabay); Ausweisfoto von Tadeusz Różewicz, 1945 (Wikimedia commons)bearbeitet

2 Antworten auf „Wenn das Selbstverständliche fragwürdig wird

  1. Avatar von Renate

    Renate

    Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Ich finde die gesamte Reihe spannend und lesenswert. Im Prinzip wusste ich überhaupt nichts über polnische Lyrik, obwohl ich sehr gerne Gedichte lese. Was mir gefällt ist, dass die Gedichte sehr „in die Tiefe“ gehen. Viel moderne deutsche LyrikerInnen legen das Augenmerk eher auf den Stil, Wortspielereien, sehr viel Innerlichkeit … Es gibt natürlich Ausnahmen. Diese Gedicht aber wirkt auf den ersten Blick „einfach“, aber es steckt sehr viel an existentiellen Fragen dahinter.

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  2. Pingback: Die Unnennbarkeit Gottes – LiteraturPlanet

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