Der kurze Rausch des Glücks

Bolesław Leśmians Gedicht  Szczęście (Das Glück)

Der polnische Dichter Bolesław Leśmian sah den Menschen zerrissen zwischen dem Streben nach einer geistigen Durchdringung des Seins und der Sehnsucht nach der intuitiven Einstimmung in dessen Entwicklungsdynamik. Ungetrübtes Glück blieb für ihn daher eine Illusion.

Das Glück

Silbrig zwinkern die Wolken uns zu.
Der Wind, der wissende Bote,
klopft stürmisch an die Tür
und stößt die Himmelstore auf.

Wie lange haben wir einander erwartet!
Nun hat ein Sturm uns neu geboren.

Das Füllhorn deiner sterngeborenen Seele
schenkt mir den trunkenen Atem des Glücks.
Warum nur fliehen wir aus diesem Rausch?
Was treibt uns aus dem Wolkenritt ins Schattenreich?

In finst’rer Nacht nach Sonne suchend,
starren wir in den Höllenschlund des Nichts.
Alles versinkt in den weichen Armen des Glücks –
alles außer meiner Angst und deinen Tränen.

Bolesław Leśmian: Szczęście aus dem 1938 posthum erschienenen Band  Dziejba leśna

Vertonung von Krzysztof Myszkowski / Stare Dobre Małżeństwo (aus dem Album Pod wielkim dachem nieba / Unter dem weiten Himmelsdach; 1992):

Zur Biographie Bolesław Leśmians

Der aus einer polnisch-jüdischen Familie stammende Bolesław Leśmian wurde 1877 in Warschau geboren. Mitte der 1880er Jahre zog die Familie nach Kiew um, wo der Dichter zur Schule ging und die Universität besuchte.

An der Hochschule engagierte Lésmian sich für die Geheimorganisation Polonia, die für die Unabhängigkeit des seit den polnischen Teilungen als selbständiger Staat untergegangenen Polens eintrat. Daraufhin wurde er mehrfach von der zaristischen Polizei festgenommen und einmal auch für längere Zeit inhaftiert.

Nach seinem Jurastudium zog Lésmian 1901 zurück nach Warschau und trat eine Stelle als juristischer Berater bei einem Eisenbahnunternehmen an. Außerdem unternahm er nun Reisen ins westeuropäische Ausland, mit längeren Aufenthalten in Paris und München. In Paris lernte er auch seine spätere Ehefrau, die Malerin Sofia Chylińska, kennen.

Die auf seinen Reisen gewonnenen Anregungen nutzte Lésmian nach seiner Rückkehr nach Warschau für die Teilnahme an der Gründung eines Avantgarde-Theaters. Darüber hinaus begann er für verschiedene Zeitschriften zu arbeiten, insbesondere für die Zeitschrift Chimera, an deren Herausgabe er sich beteiligte. Hinzu kamen Übersetzungen von Erzählungen Edgar Allan Poes und eine Sammlung polnischer Sagen und Geschichten für Kinder. Themen, Stoffe und Figuren aus der polnischen Volkskunst fanden später auch Eingang in seine Gedichte.

Dichtung der „Abgeschiedenheit“

Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in Zeitschriften brachte Leśmian 1912 seinen ersten Gedichtband heraus. 1920 und 1936 – ein Jahr vor seinem Tod – folgten seine beiden bekanntesten Gedichtsammlungen: Łąka (Die Wiese) und Napój cienisty (Schattentrank). Dem Broterwerb diente nach Kriegsende eine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar.

Äußerlich integriert, fühlte Leśmian sich mit seiner Lyrik als Außenseiter – was er in seinem Zyklus Oddaleńcy (Die Abgeschiedenen) auch explizit zum Ausdruck brachte. In der Tat war ihm – während er heute als einer der bedeutendsten polnischen Dichter gilt – zu Lebzeiten kein großer Erfolg beschieden. Beides mag mit seinem innovativen Stil zusammenhängen, der stark von Sprachspielen und ungewöhnlichen sprachlichen Neuschöpfungen geprägt ist.

Während Leśmian hierin vom Expressionismus beeinflusst ist, sind seine Gedichte atmosphärisch eher in der Décadence verwurzelt. Sie sind geprägt von einer Sehnsucht nach dem Idealen, zu dem sich der Mensch in seiner Unvollkommenheit aber immer wieder selbst den Weg verstellt.

Die Dichtung als Ausweg aus innerer Zerrissenheit

In philosophischer Hinsicht ist Lésmian dabei von Henri Bergson und seinem 1907 in L’évolution créatrice (Die schöpferische Evolution) entwickelten Konzept des élan vital beeinflusst. Bergson bezeichnet damit eine dem Lebendigen innewohnende Entwicklungsdynamik, die sowohl auf der individuellen als auch auf der evolutionsgeschichtlichen Ebene für eine kreative Entfaltung des Lebens sorgt.

Lésmian sieht den Menschen zerrissen zwischen der intuitiven Teilhabe an dieser Entwicklungsdynamik des Lebens und der durch seinen Geist bewirkten Trennung von dieser. Die reine Versenkung in den élan vital würde ihn von seinem Geist und damit vom Kern seines Menschseins entfremden. Die Konzentration auf die Sphäre des Geistes trennt ihn jedoch von dem, was das Leben ausmacht und vorantreibt.  

Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist nach Leśmian die Kunst – in seinem Fall die Dichtung. Sie allein kann die Gegensätze in sich versöhnen und so jene Harmonie zum Klingen bringen, die im alltäglichen Leben unerreichbar bleibt.

Mehr zu Bolesław Leśmian:

Polak-Chlabicz, Marian: Bolesław Leśmian’s life and his poetic oeuvre; filmolesmianie.pl/web.archive.org, September 2017.

Szleszyński, Bartłomiej: Bolesław Leśmian. Culture.pl, April 2003

Podcast zu Bolesław Leśmian

Bilder: Kohji Asakawa: Wolken über Kumamoto (Pixabay); Bolesław Leśmian (unbekannter Fotograf, Wikimedia commons) (bearbeitet und restauriert)

2 Antworten auf „Der kurze Rausch des Glücks

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