Gespräche mit Paula/3
Paulas Lächeln
Kaum eine menschliche Ausdrucksform ist so vielgestaltig wie das Lächeln. Es gibt das Adlerlächeln, das den Anderen auf Distanz hält, das hündisch-unterwürfige Lächeln, das katzenhaft gurrende Lächeln, das den Anderen in den Sog des eigenen Seins hineinzieht, das priesterliche Lächeln, das sich austeilt wie eine Hostie. Die Welt des Lächelns ist wie ein eigener Code, eine Sprache mit komplexen Zeichen, von denen jedes sein eigenes Netz an Bedeutungen auswirft.
Wenn ich Paulas Lächeln in dieses Zeichensystem einordnen sollte, so würde ich es als Brückenlächeln charakterisieren. Paulas Lächeln ist wie eine Haustür, die immer offen steht. Wen es anweht, der hat das Gefühl, nach Hause zu kommen.
Ein verdutzter Müllmann
So war es auch an dem Tag, als Paula sich mit dem Müllmann unterhalten hat. Ehrlich gesagt: Ich selbst habe noch nie ein längeres Gespräch mit einem Müllmann geführt. Das liegt zunächst ganz einfach daran, dass die Müllabfuhr die Straße vor meiner Wohnung sehr früh anfährt – in der Regel bereits gegen sechs Uhr morgens, wenn ich mich gerade erst aus dem Bett schäle.
Abgesehen davon habe ich aber auch stets den Eindruck, dass die Müllmänner es ausgesprochen eilig haben, dass sie ihre Arbeit möglichst schnell hinter sich bringen und sich nicht durch unnötige Plaudereien aufhalten lassen wollen.
Für Paula allerdings spielte das alles überhaupt keine Rolle. Als einmal an einem besonders heißen Augusttag ein Müllauto direkt neben uns hielt und ein Müllmann mit seinen breiten, behandschuhten Pranken nach einer Mülltonne griff, sprach sie ihn umstandslos an: „Das ist nichts für schwache Mägen, was?“
Der Mann sah Paula misstrauisch an. Aber unter ihrem Lächeln zerrann sein Argwohn augenblicklich zu einem befreiten Schmunzeln.
„Das kann man wohl sagen!“ rief er gegen das Gestampfe des Müllautos an. „Aber was soll man machen? Der Müll muss nun mal weggeschafft werden – im Sommer noch eher als im Winter!“
Worüber die beiden sich sonst noch unterhalten haben, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch an das verdutzte Gesicht des Mannes, als Paula ihm zum Abschied aufmunternd zurief: „Also dann – Kopf hoch! Es ist ja nicht für immer!“
Aber letztlich waren Paulas Worte ja nur eine Art schmückendes Beiwerk zu ihrem Lächeln. Wahrscheinlich hatte der Mann sie schon wieder vergessen, als der Müllwagen kurz darauf an uns vorbeifuhr und Paula ihrer Zufallsbekanntschaft noch einmal zuwinkte.
Das System der Staffelarbeiten
Ich fürchte, dass ich angesichts der Geruchsbelästigung etwas zu auffällig die Stirn gerunzelt habe. Das war wohl auch der Grund dafür, dass Paula mir tröstend versicherte: „Keine Sorge! Ich helfe dir, wenn du an der Reihe bist.“
Jetzt war es an mir, dumm aus der Wäsche zu gucken: „Wie bitte? Was meinst du?“
„Na ja“, erklärte Paula, „ein bisschen wirst du deine Einsatzzeit doch auch selbst beeinflussen können. Notfalls tauschst du eben mit jemandem. Und dann richte ich es so ein, dass ich da bin, wenn du mit Müllwegräumen dran bist.“
„Ehrlich gesagt – ich hatte nicht vor, mich als Müllmann zu verdingen“, entgegnete ich lachend, während wir uns wieder in Bewegung setzten.
„Kannst du dich denn davor drücken?“ wunderte sich Paula.
„Ich muss mich nicht davor drücken, weil niemand von mir verlangt, ins Müllgewerbe einzusteigen“, stellte ich klar.
„Dann gibt es bei euch also gar keine Staffelarbeiten?“ erkundigte sich Paula.
„Nein – was soll das denn sein?“
„Na, Arbeiten, die keiner machen will, deren Ausführung für das Gemeinschaftswohl aber trotzdem unabdingbar ist“, erläuterte Paula. „Wir versuchen das Problem dadurch zu lösen, dass wir diese Dinge entweder alle gemeinsam erledigen oder uns dabei abwechseln.“
„So etwas gibt es bei uns in der Tat nicht“, bestätigte ich.
„Und wie bringt ihr dann andere dazu, den Müll wegzuschaffen?“ wollte Paula wissen. „Ist das bei euch etwa eine Art Strafe?“
Ich winkte ab. „Ach was! Die freie Berufswahl gehört bei uns zu den fundamentalen Freiheitsrechten. Niemand wird gezwungen, Müllmann zu werden!“
„Siehst du“, rügte mich Paula, „genau das ist das Problem: Indem du jemanden als ‚Müllmann‘ bezeichnest, identifizierst du ihn doch mit seiner schmutzigen Tätigkeit – die eben dadurch erniedrigend wird. Das ist mit ein Grund dafür, warum wir das System der Staffelarbeit eingeführt haben.“
„Aber das ist doch nur eine Berufsbezeichnung!“ rechtfertigte ich mich. „Außerdem kann der Job schon deshalb nicht erniedrigend sein, weil es sich dabei immerhin um ein geregeltes Arbeitsverhältnis handelt und die Arbeit meines Wissens auch gar nicht so schlecht bezahlt ist.“
Der Wert der Ekstase
Paula blieb für einen Moment stehen und betrachtete mich mit dem distanzierten Interesse einer Urwaldforscherin. Unwillkürlich wandte ich den Blick ab.
„Dann versucht ihr also den schmutzigen Charakter der Tätigkeit durch eine entsprechend hohe Bezahlung auszugleichen?“ schlussfolgerte sie. „Je unangenehmer eine Tätigkeit ist und je weniger Ansehen sie einbringt, desto mehr Geld bekommt man dafür?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, so ist es nun auch wieder nicht. Es gibt durchaus auch Tätigkeiten, die mit hohem sozialen Ansehen verbunden und trotzdem gut bezahlt sind.“
Paula sah mich unverwandt an: „Zum Beispiel?“
„Nun, etwa Tätigkeiten im Managementbereich“, führte ich das naheliegendste Beispiel an. „Von den Entscheidungen der Manager hängt schließlich das Wohl und Wehe ganzer Unternehmen ab. Die Bereitschaft, eine solche Verantwortung zu übernehmen, hat einen hohen Wert für die Gemeinschaft und wird deshalb auch mit einem entsprechend hohen Gehalt honoriert. Aber auch Popstars, erfolgreiche Filmschauspieler oder Fußballprofis können manchmal mehrere Millionen im Jahr verdienen.“
„Und welchen Wert haben diese Popstars für eure Gemeinschaft?“
Ich spürte den kritischen Unterton in Paulas Frage, ließ mich aber nicht beirren. „Zum einen sind die Stars der Unterhaltungsindustrie der Garant dafür, dass in diesem Wirtschaftszweig hohe Umsätze erzielt werden. Das sorgt wiederum dafür, dass Arbeitsplätze erhalten oder neue geschaffen werden“, führte ich aus. „Zum anderen sind diese Berühmtheiten für uns auch eine Art Projektionsfläche für unsere Wünsche und Sehnsüchte, ein Abbild unserer Träume. In gewissem Sinne kann man sie vielleicht sogar als moderne Priester bezeichnen. Schließlich ermöglichen sie uns heute jene Form von Ekstase, für die früher die Religion zuständig war.“
„Seltsam“, sinnierte Paula. „Ich dachte immer, für das Priestertum wäre der Verzicht auf materiellen Besitz charakteristisch, weil der Priester sich ganz auf geistigen Reichtum konzentriert … Andererseits ehrt es euch natürlich, wenn ihr die Priester an die Spitze eurer Wertepyramide setzt.“
Ich sah sie von der Seite an: Meinte sie das ernst, oder war das nur wieder ein Versuch, mich aus der Reserve zu locken? Aber Paula verzog keine Miene bei ihren Worten.
„So war das doch nicht gemeint!“ korrigierte ich sie. „Echte Priester werden bei uns keineswegs wie Popstars entlohnt. Ich habe den Vergleich doch nur gewählt, um deutlich zu machen, warum Popstars bei uns einen so hohen Stellenwert besitzen!“
Geistiger und materieller Reichtum
Wir kamen an den Bahnhof, wo wir durch eine Unterführung auf die andere Seite gingen. Dumpf hallten die Akkordeonphantasien eines Straßenmusikers durch den Tunnel. Als über uns ein Zug einfuhr, wurden sie zu dissonanten Geräuschfetzen zerrissen.
„Dann stehen also Menschen, die sich geistigen Dingen widmen, bei euch doch nicht ganz oben auf der Werteskala?“ fragte Paula, nachdem wir wieder aus der Unterführung aufgetaucht waren.
„Doch, vielleicht schon“, überlegte ich. „Dichter und Denker genießen bei uns durchaus ein hohes Ansehen. Das drückt sich nur nicht unbedingt in der Entlohnung ihrer Arbeit aus.“
„Aber du hast doch vorhin selbst gesagt, dass sich der Wert, den ihr einer Tätigkeit beimesst, auch in der Bezahlung niederschlägt!“ zitierte mich Paula.
„Richtig“, bekräftigte ich. „Das setzt aber voraus, dass diese Tätigkeit auch selbst zur Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums beiträgt.“
„Ist das bei Dichtern und Denkern etwa nicht der Fall?“ hakte Paula nach. „Sie tragen doch fraglos zur Vermehrung des geistigen Reichtums der Gemeinschaft bei.“
Ich schüttelte unwirsch den Kopf. Dass man Paula aber auch immer alles haarklein auseinanderlegen musste! „Hier geht es um ganz konkreten, materiellen Reichtum!“ stellte ich klar. „Schließlich soll der Lohn ja auch nicht aus einem freundlichen Applaus bestehen, für den man sich nichts kaufen kann. Deshalb muss jemand, der Geld für eine Leistung beansprucht, mit dieser eben auch einen materiellen Mehrwert erzielen. Woher soll denn sonst das Geld kommen, mit dem er bezahlt wird?“
„Bestimmt das Geld den Wert der Arbeit?“
Eine Schulklasse stürmte fröhlich lärmend an uns vorbei. Hektisch bemühten sich die beiden Lehrerinnen, die Ausflugseuphorie der aus dem Schulkäfig entlassenen Meute zu dämpfen.
„Und was ist mit Menschen wie diesen Lehrerinnen hier?“ fragte Paula, mit dem Kopf auf die Schulklasse weisend. „Die bringen euch doch auch keinen unmittelbaren finanziellen Mehrwert ein – und trotzdem müsst ihr sie irgendwie für ihre Arbeit entlohnen.“
„Da hast du natürlich Recht“, räumte ich ein. „In diesem Fall sieht man die Entlohnung gewissermaßen als eine Investition in die Zukunft an. Schließlich wird in der Schule der Nachwuchs ausgebildet, der später einmal für die Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums sorgen soll.“
„Ach so“, meinte Paula. „Dann stehen Lehrerinnen wahrscheinlich ganz oben in eurer Gehaltspyramide.“
„Nein“, widersprach ich ihr, „das nun auch wieder nicht. Sie verdienen zwar nicht schlecht bei uns, aber doch bei weitem nicht so gut wie ein erfolgreicher Unternehmer oder Rennfahrer.“
Paula riss die Augen auf: „Ein Rennfahrer?“
„Ja“, nickte ich. „Wenn du in Autorennen erfolgreich bist, kannst du sehr schnell zum Millionär werden. Da wird eben sehr viel Geld umgesetzt.“
„Das heißt doch dann aber, dass das Geld den Wert der Arbeit bestimmt“, schlussfolgerte Paula. „Wo die öffentliche Präsenz eines Einzelnen einen hohen finanziellen Mehrwert erbringt, bekommt man auch viel Geld für seine Tätigkeit – unabhängig von dem konkreten Wert, den diese für die Gemeinschaft hat. Dabei müsste es doch eigentlich eher umgekehrt sein. Oder habe ich da irgendetwas falsch verstanden?“
Etwas? Ach, Paula, dachte ich: Du hast mal wieder alles falsch verstanden! Diese Zusammenhänge waren wohl einfach zu komplex für jemanden, der noch in einer prähistorischen Tausch- und Teile-Ökonomie lebt.
Fußballpriester
Glücklicherweise hatten wir in dem Augenblick unser Ziel – den Stadtpark – erreicht, wo Paulas Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt wurde. Wichtiger als unsere wirtschaftspolitische Generaldebatte war ihr nun die Bude am Eingang des Parks, wo es eine große Auswahl an Eissorten gab.
Nachdem wir uns beide mit unseren Lieblingseissorten versorgt hatten, nahmen wir auf einer Bank am Rande des Parks Platz und sahen dem Treiben auf der großen Spiel- und Liegewiese in der Mitte zu. Während mich eher die Grazien interessierten, die sich mit ihren sonnenmilchglänzenden Körpern in der Sonne aalten, hatte es Paula eine Gruppe halbwüchsiger Jungen angetan, die mit großem Ehrgeiz einem Ball hinterherjagten.
„Vorsicht!“ rief sie plötzlich. Als ich meinen sommerträgen Blick von den Grazien abwandte, war es jedoch schon zu spät: Der Ball landete mitten auf meinem Eis und verteilte dieses im Pop-Art-Stil auf meinen Kleidern.
„Verdammt!“ fluchte ich. „Immer diese Rowdys!“
Aber ehe ich weiterschimpfen konnte, hatte Paula ihre Hand schon besänftigend auf meinen Arm gelegt. „Immer mit der Ruhe!“ lachte sie. „Vergiss nicht: Der Rowdy von heute könnte der Fußballpriester von morgen sein.“
Bilder: 1. Jugendbrigade der volkseigenen Güter (Ost-)Berlins bei der Feldarbeit; August 1950; Koblenz, Deutsches Bundesarchiv; 2. Kevin Grienbaum / Holding Graz: Alex als Müllmann, Oktober 2013 (beide Bilder von Wikimedia commons)


Pingback: Arbeit und Mehrwert – rotherbaron
Pingback: Geistesgift Gier – rotherbaron