Die Collage als dichterisches Gestaltungselement

Jacques Prévert und der Surrealismus

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Jacques Prévert verkehrte lange in surrealistischen Kreisen und ist deshalb in seiner Dichtung auch von diesen beeinflusst worden. Besonders deutlich wird dies an den collagenhaften Elementen in seinen Gedichten.

Der Kontrolleur

Los jetzt!
Beeilung!
Los, los!
Zusammenrücken!
Hier sind viel zu viele Reisende,
viel zu viele!
Also los:
Zusammenrücken! Beeilung!
Einige stehen schon Schlange,
überall Reisende, überall,
viel zu viele,
an der Anlegestelle,
in den Gängen
im Bauch ihrer Mutter,
also los, los: zusammenrücken,
den Abzug drücken!
Alle brauchen Platz zum Leben,
also tötet euch ein bisschen!
Los, los, seid vernünftig,
macht Platz,
ihr könnt doch ohnehin
nicht lange bleiben,
alle brauchen Platz,
nur eine kleine Runde,
ihr wart gewarnt,
eine kleine Reise durch die Welt,
nur eine krümelkleine Reise,
nur eine kleine Runde,
dann müsst ihr aussteigen,
also, los, los,
zusammenrücken,
seid höflich zueinander,
nicht drängeln,
es kommen alle an die Reihe!

Jacques Prévert: Le contrôleur aus: Paroles (1946)

Das Lachen der Surrealisten

Immer wieder hat Jacques Prévert seine Abneigung gegenüber dem heiligen Ernst der hochkulturellen Dichtung betont. Dies betraf auch die Verfremdungseffekte, die er durch seine unkonventionellen Metaphern erzielte. Ausdrücklich wollte er damit auch zum „Lachen“ anregen und so „Trost“ spenden für all die Menschen, die „Sklaven“ absoluter Wahrheiten sind [1].

Auf diese Weise ergibt sich auch eine Verbindung zur surrealistischen Bewegung, die Préverts Schaffen maßgeblich mitgeprägt hat. So charakterisiert Prévert die Surrealisten mehrfach über die Art und Weise ihres Lachens. Dieses sei „unwiderstehlich ansteckend“ und „heilsam“ gewesen und habe sich gegen alle Heucheleien und Hinterhältigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet.

Prévert betont zudem, dass man sich unter den Surrealisten auch gegenseitig ausgelacht habe, um sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Sogar den Tod habe man ausgelacht, um sich furchtloser mit dem Leben auseinandersetzen zu können [2].

Das Ziel von alledem sei es gewesen, sich eine unbedingte geistige Freiheit zu bewahren. Denn die Freiheit sei, so Prévert, für die Surrealisten nicht ein bloßes Schlagwort gewesen. Sie hätten sie vielmehr in ihrer Kunst zu verwirklichen versucht – auch wenn dies natürlich nur annäherungsweise möglich gewesen sei [3].

Dass Prévert sich ab 1930 zunehmend von den Surrealisten entfernte, lag nicht zuletzt daran, dass er seine geistige Freiheit noch stärker ausleben wollte, als ihm dies unter dem zunehmend diktatorischen Regime ihres Anführers, André Breton, möglich war. So erklärt Prévert seinen Dissens mit Letzterem später auch mit dem „etwas merkwürdigen Verständnis von der Freiheit der anderen“, das Breton an den Tag gelegt habe [4]. Dennoch konzediert er auch Breton im Rückblick die Fähigkeit, über die lächerliche Ernsthaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie über sich selbst zu lachen:

„Von Breton redet man oft mit einer großen Ernsthaftigkeit. Die Wahrheit aber ist, dass er [viel] lachte, dass ihm sogar die Tränen in die Augen traten vor Lachen. Er war niemals ernsthaft. Er gab sich manchmal bedeutungsschwer, für meinen Geschmack vielleicht sogar ein wenig zu oft, aber insgesamt war es doch so: Wir haben miteinander gelacht, wie Menschen, die einander sehr mögen“ [5].

Prévert als Drehbuchautor und Schöpfer von Collagen

Was Prévert außerdem am Surrealismus hervorhebt, ist die Tatsache, dass es sich bei diesem um eine Bewegung handelte, die nicht auf eine bestimmte Kunstform beschränkt war. Eben dies trifft auch auf Préverts eigenes künstlerisches Schaffen zu. So hat er nach eigenen Angaben überhaupt erst über den Film zur Literatur gefunden [6] und war auch später immer wieder für den Film tätig.

Besondere Erwähnung verdient dabei der Zeichentrickfilm Le roi et l’oiseau (Der König und der Vogel), eine poetische Persiflage auf Despotie und Militarismus, die Prévert gemeinsam mit Paul Grimault erarbeitet hat [7]. Der an Hans Christian Andersens Märchen Die Hirtin und der Schornsteinfeger anknüpfende Film kam – nachdem eine erste, 1948 fertiggestellte Fassung von Prévert und Grimault verworfen worden war – erst 1979, zwei Jahre nach Préverts Tod, in die Kinos. An der Endfassung des Drehbuchs hatte Prévert bis kurz vor seinem Tod gearbeitet.

Nach einem schweren Sturz aus einer unzureichend gesicherten Fenstertür, von dem Prévert sich nur sehr langsam erholte, hat er seit Ende der 1940er Jahre zudem vermehrt Collagen angefertigt [8] – eine Kunstform, die auch im Surrealismus eine zentrale Rolle gespielt hat.

Collagenhafte Elemente in dem Gedicht Le contrôleur

Ein wichtiges Merkmal der Collage ist die Simultaneität – ein Stilmittel, das es erlaubt, scheinbar unzusammenhängende Dinge oder Ereignisse nebeneinander zu stellen und so unerwartete Bezüge herzustellen. Dieses Stilmittel ist auch in Préverts Dichtung anzutreffen. So sind die grotesken Effekte, die sich mit collagehaften Elementen erzielen lassen, u.a. in dem oben wiedergegebenen Gedicht Le contrôleur (Der Kontrolleur) zu beobachten.

Das Gedicht verbindet zwei Bedeutungsbereiche miteinander. Auf der einen Seite steht das Gezeitenspiel des Lebens, das Kommen und Gehen der menschlichen Individuen, die im Wimpernschlagrhythmus geboren werden und wieder von der Welt verschwinden. Auf der anderen Seite steht das Bild eines überfüllten Zuges oder Schiffes, auf dem die Menschen dicht gedrängt durch das Leben reisen.

Als verbindendes Element zwischen den beiden Bedeutungskomplexen erscheint ein Kontrolleur, der die Reisenden immer wieder an den Eintagsfliegencharakter ihres Lebens erinnert. Wiederholt fordert er sie auf, zusammenzurücken und für andere, die schon im Wartesaal der Mutterbäuche dem Eintritt in das Leben entgegenwachsen, Platz zu machen.

In seiner Missachtung der Würde des einzelnen Lebens trägt der Kontrolleur ausgesprochen zynische Züge. So könnte man in ihm allgemein eine Personifikation des Todes sehen, der unterschiedslos alle Menschen mit sich fortführt. Indem er die Reisenden dazu auffordert, sich gegenseitig zu töten, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen, klingen in seinen zynischen Ausrufen jedoch auch Probleme wie Dichtestress, Überbevölkerung und Ressourcenmangel an, die Menschen zu Kurzschlusshandlungen verleiten und im Extremfall Kriege auslösen können.

Nachweise

[1]      Vgl. Prévert, Jacques / Pozner, André: Hebdromadaires (1972), S. 153. Paris 1982: Gallimard.

[2]      Vgl. ebd, S. 165 f.

[3]      Vgl. ebd., S. 166.

[4]      Ebd., S. 21.

[5]      „On parle beaucoup de Breton avec un immense sérieux. Quand je dis qu’il riait, qu’il riait aux larmes même, c’est vrai. Il n’était jamais sérieux. Il était parfois grave, peut-être trop à mon avis, mais c’était comme ça. On riait, ensemble, comme des gens qui s’aiment“ (ebd., S. 166).

[6]      Vgl. ebd., S. 159.

[7]      Eine ausführliche Studie zu dem Film hat Jean-Pierre Pagliano vorgelegt: Le Roi et l’Oiseau: Voyage au coeur du chef d’oeuvre de Prévert et Grimault. Paris 2012: Belin.

 [8]     Vgl. Prévert: Collages. Paris 1982: Gallimard [mit Texten von André Pozner und einem Vorwort von Philippe Soupault].

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Bild: Léon Comerre (1850 – 1916): Die Sintflut (um 1911); Kunstmuseum Nantes (Wikimedia commons)

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