Auftakt zu einer fünfteiligen Reihe mit Gedichten von Jacques Prévert
Für den französischen Dichter Jacques Prévert war die Schule – auch aus eigener Erfahrung – eher ein Hindernis als ein Katalysator des freien Geistes. Seine Gedichte plädieren deshalb immer wieder für eine Abkehr vom traditionellen Bildungsverständnis.
Der Klassenclown
Unter ihm
die gescheitelten Köpfe
der Musterschüler,
vor ihm
der lauernde Blick
des Lehrers.
Die Salven der Fragen
prasseln auf ihn ein,
er taumelt
im Kugelhagel der Probleme,
die nicht die seinen sind.
Plötzlich aber
lacht sich der helle Wahnsinn
durch sein verdüstertes Gesicht.
Er greift nach dem Schwamm
und wischt es einfach weg,
das Labyrinth aus Zahlen und Fakten,
aus Daten und Begriffen,
aus Phrasen und Formeln,
und übermalt
unter dem Gejohle der Klassenmanege
regenbogenfarben
die dunkle Tafel des Unglücks
mit dem strahlenden Gesicht des Glücks.
Jacques Prévert: Le cancre aus: Paroles (1946)
Schwierige Kindheit Préverts
Bei einem Blick auf die Biographie des am 4. Februar 1900 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geborenen und am 11. April 1977 in Omonville-la-Petite (Normandie) verstorbenen Jacques Prévert wäre manch einer wohl geneigt zu sagen, dass diesem Autor das Dichten nicht gerade in die Wiege gelegt worden ist.
Préverts Vater musste sich lange mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen, ehe er schließlich in Paris eine Anstellung bei einer Wohltätigkeitsorganisation fand [1]. Im Dschungel der Großstadt geriet der Sohn ins Kleinkriminellenmilieu, so dass Prévert sich später selbst über die „Jungfräulichkeit“ seines Strafregisters wunderte [2]. Die Schule war bei alledem nichts weiter als ein lästiges Übel, und das Schwänzen des Unterrichts mündete folgerichtig in das frühestmögliche Verlassen der Schule (mit 15 Jahren).
Distanz zur traditionellen Schulbildung
Hätte man Prévert gefragt, wie er mit dieser geringen Schulbildung Dichter werden konnte, so wäre die Antwort wohl gewesen, dass dies nicht trotz, sondern wegen seiner Distanz zum Schulbetrieb geschehen sei.
So hat er sich etwa gegen die Standardisierung des geistigen Fortschritts gewandt, die das gleichschrittige Lernen in der Schule mit sich bringe: Wenn man sage, dass ein Kind in der Schule keine Fortschritte mache, würden dabei oft die anderen, von den schulischen Tests nicht gemessenen und womöglich auch gar nicht mit dem Unterricht zusammenhängenden Entwicklungen übersehen, die ein Kind durchlaufe [3]. Mit Montaigne kritisiert Prévert daher die „Gefangennahme“ des kindlichen Geistes in der Schule, wo dieser den Launen eines missmutigen Lehrers ausgeliefert sei und so seiner individuellen Kraft beraubt werde [4].
Mit dem Vogel der Phantasie gegen geistige Bevormundung
Drei der bekanntesten Gedichte Préverts sind dieser Thematik gewidmet. In dem eingangs wiedergegebenen Gedicht Le cancre (Der Schulversager) rebelliert ein Schüler gegen die geistige Unterdrückung durch den Lehrer, indem er all die abstrakten Zahlen und Fakten, die er lernen soll, von der Tafel wischt und sie mit dem „Gesicht des Glücks“ übermalt.
Analog dazu werden die Voraussetzungen geistiger Freiheit in Page d’écriture (Aufgabenblatt) gerade dadurch geschaffen, dass die Schüler sich von den mathematischen Repetierübungen des Lehrers ab- und dem Vogel der Phantasie zuwenden, der mit seinem Gesang die Mauern des Klassenzimmers und damit die Schulwirklichkeit in sich zusammenstürzen lässt:
Rechenübung
Zwei plus zwei sind vier
plus vier sind acht
was mal zwei dasselbe macht
minus vier sind’s wieder vier
Rechenkette eng gefügt
um die Zahlen um die Köpfe
auf akkuraten Karos
plötzlich
gänzlich unerwartet
eine zitternde Feder
eine Vogelfeder vor dem Fenster
gleitet vorbei
gleitet in die Herzen hinein
ein unberechenbares Lied
löst die eng gefügte Kette
um die Zahlen um die Köpfe
zu unzähligen Gliedern
einem Meer aus bunten Wissensmurmeln
unkalkulierbar glitzernd
befreit
taucht die Feder hinein.
Und die Glasscheiben werden wieder zu Sand
die Tinte wird wieder zu Wasser
die Pulte werden wieder zu Bäumen
die Kreide wird zu einem Kreidefelsen
und die Feder zu einem Vogel“ [5].
Das „entfesselte“ Kind als öffentliches Ärgernis
Ein weiteres Gedicht von Prévert über Kindheit und die traditionelle Erziehung ist Chasse à l’enfant (Jagd auf das Kind / Kinderjagd). Es beruht auf einer wahren Begebenheit – nämlich dem Aufstand gegen die Gewalt der Wärter und dem anschließenden Ausbruch von Insassen aus einer bretonischen Besserungsanstalt für Minderjährige im Jahr 1934. Auf die Ergreifung der Flüchtigen war damals eine Belohnung von je 20 Francs ausgesetzt worden.
Prévert greift den Vorfall in seinem Gedicht aus der Perspektive eines flüchtenden Kindes auf. Dieses wird wie ein „gehetztes Tier“ von der „Meute der anständigen Leute“ gejagt, die seine Flucht in die Freiheit als Anschlag auf die soziale Ordnung empfinden und entsprechend zu ahnden versuchen. Indem dabei nicht von „einem“, sondern von „dem“ Kind die Rede ist, erscheint dieses allgemein als Symbol für die im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückte geistige Freiheit.
Das Gedicht hebt den Fluchtversuch des Kindes damit auf die allgemeine Ebene der Selbstbehauptung des menschlichen Geistes. Diese beginnt demnach mit dem Widerstand gegen seine Zurichtung in der Schule. Anders ausgedrückt: Geistige Freiheit ist nur dann dauerhaft möglich, wenn dem Geist in der Schule die Flügel nicht gestutzt werden, sondern ihm Wege zu deren Entfaltung aufgezeigt werden.
Kinderjagd
Spielerisch fangen die Möwen
mit ihren Flügeln das funkelnde Licht,
das rund um die Insel
die Wellen mit Sternen betupft.
Da gellen Schreie wie Pistolenschüsse:
„Gauner! Rowdy! Lümmel! Taugenichts!“
Es ist die Meute der braven Leute,
vereint in der Jagd auf das freie Kind.
Wie ein verletztes Tier
irrt es durch die dunkle Nacht,
und hinter ihm gellen die Schreie
der anständigen Leute:
„Gauner! Rowdy! Lümmel! Taugenichts!“
Niemand benötigt einen Jagdschein
für die Kinderjagd. Die Freiheit der Jäger
steht über der Freiheit des Kindes,
das flieht durch die finstere Nacht.
„Gauner! Rowdy! Lümmel! Taugenichts!“
Geisterhaft greifen die Arme des Mondes
zwischen die nachtfahlen Wellen,
in die du deine entfesselten Arme tauchst.
Wirst du das Ufer erreichen? [6]
Nachweise
[1] Anlässlich des 40. Todestages von Prévert sind 2017 einige neuere Monographien über ihn erschienen, darunter auch biographisch orientierte Würdigungen seines Werkes (vgl. u.a. Aurouet, Carole: Jacques Prévert. Une vie. Paris 2017: Les Nouvelles Éditions JMP; Hamon, Hervé: Prévert, l’irréductible. Tentative d’un portrait. Paris 2017: Lienart). Eine weitere ausführliche Studie zu Prévert stammt aus dem Jahr 2021 (Perrigault, Laurence: Prévert. Paris 2021: Les Pérégrines, Collection Icones).
[2] Vgl. die entsprechende Äußerung von Prévert in einem Interviewband mit André Pozner: Prévert/Pozner: Hebdromadaires (1972), S. 85. Paris 1982: Gallimard.
[3] „Un enfant, (…) à l’école, on dit: il ne fait pas de progrès. Pourtant, on ne sait pas, on ne peut pas savoir s’il n’en fait pas, dans une direction différente“ – „Oft wird von einem Kind in der Schule behauptet, es würde keine Fortschritte machen. In Wahrheit kann man das aber gar nicht wissen. Vielleicht macht es Fortschritte, nur in einer ganz anderen Richtung“ (ebd., S. 101).
[4] Ebd., S. 101 f.
[5] NachPrévert: Page d’écriture; aus: Paroles (1946), S. 146 f.
[6] NachPrévert: Chasse à l’enfant (PDF); aus: Paroles (1946), S. 86 f. Liedfassung von Les Fréres Jacques (1957).
Bilder: Harold Copping (1863 – 1932): The Dunce (Der Dummkopf; hier: Schulversager, 1886); Bournemouth, Russell-Cotes Art Gallery & Museum (Wikimedia commons); Foto von Jacques Prévert (1920er Jahre); unbekannter Fotograf; Paris, Musée Carnavalet

Eva
Ein wundervoller Beitrag. Vielen Dank auch für die gelungenen Übertragungen ins Deutsche und die Infos zu Prévert. . Auch heute in Deutschland ist für viele sensible und kreative junge Menschen die Schule ein Schreckensort. Viele Lehrkräfte sind spießig und überangepasst und können mit Kindern, die ein bisschen anders sind, nichts anfangen.
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