Die Grenze des Paradieses / The Limits of Paradise

Ein Mittagsgedicht von Eugenio Montale / A Midday Poem by Eugenio Montale

Die Lyrik Eugenio Montales zeichnet sich durch einen tiefen Skeptizismus aus. Dieser basiert allerdings weniger auf der Erfahrung von Krieg und Faschismus als auf einer durch die Umbrüche der Jahrhundertwende ausgelösten Sinnkrise.

English Version

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Die glühende Mauer des Mittags

Unter der glühenden Mauer des Mittags,
umfangen vom Tagtraum des Sommers,
versinkst du in zischelndem Schlangengestrüpp
und in dem raschelnden Meer aus Amseln und Laub.

Ameisen spähen in langen Reihen
aus Bodenritzen und von Blütenstängeln,
sich verheddernd und verflechtend
am Rand der winzigen Ameisenlöcher.

Gestreift von Ackerwindenwedeln,
träumst du vom schuppigen Zucken der Fische,
während sich zitternd das Zirpen
der Zikaden in den Himmel schwingt.

In der blendenden Sonne wandelnd,
spürst du mit traurigem Erstaunen
die Grenze der glühenden Mauer,
an der du aufsteigst wie in einer Flasche,
deren Hals ein Scherbenmeer umkränzt.

Eugenio Montale: Meriggiare pallido e assorto; entstanden um 1916; aus: Ossi di seppia (1925)

Mittagsschlummer in einem südländischen Garten

Das Gedicht von Eugenio Montale (1896 – 1981) entführt uns zunächst in einen südländischen Garten. Die Sonne brennt herab, man döst, eingeschläfert von der flirrenden Hitze des Mittags, an einer Mauer vor sich hin.

Die Dunstglocke der Wärme bringt das menschliche Leben zum Stillstand. Nichts ist zu hören als das Rascheln und Surren, Zirpen und Zucken der wechselwarmen Schlangen, Eidechsen und Insekten, dazu hier und da das Huschen einer Amsel im Unterholz.

Langsam trübt sich das Bewusstsein ein, die Sinneswahrnehmungen verschwimmen mit den Tagträumen, die hinter den geschlossenen Lidern erwachen. Die an der Mauer entlangwuchernde Ackerwinde, deren Wedel einem über die Wangen streichen, weckt Assoziationen an die Schuppen von Fischschwärmen, das blaue Meer des Himmels verschwimmt mit dem Rauschen des Ozeans, der ganz in der Nähe die Küste umspielt.

Alles ist auf einmal mit allem verbunden, man selbst ist ein Teil davon, dem eigenen Ich für ein paar Augenblicke außerhalb der Zeit entwunden. Umso schmerzhafter ist dann das Erwachen. Wie nach einem intensiven Rausch spürt man den Kater der Ernüchterung in den Schläfen pochen. Die Sonne, eben noch ein Quell unendlichen Lebens, ist auf einmal nur noch eine Dornenkrone, die sich schmerzhaft auf das Haupt der von ihrem Schein Geblendeten senkt. 

Der Scherbenkranz am Flaschenhals des Lebens

Die vier Strophen von Montales Gedicht zeichnen dieses Schwanken zwischen Tagtraum und Erwachen kongenial nach. Das wohlige Mittagsdösen geht in der dritten Strophe in den Tagtraum über, ehe die letzte Strophe das Erwachen nachzeichnet.

Dabei wandelt sich auch die Bedeutung der Mauer, als der zentralen Metapher des Gedichts. In der ersten Strophe erscheint sie als Grenze eines sich selbst genügenden, friedvollen Gartens, als Schutzwall um das Paradies, der dieses von der Welt abschirmt. In der letzten Strophe ist sie dagegen, gerade umgekehrt, eine Grenze für die Tagträume, in denen das Paradies eine augenblickshafte Wirklichkeit erlangt.

So erhält auch der Mittag eine metaphorische Bedeutung. Bezeichnet er zu Beginn des Gedichts schlicht die Tagesmitte, einen Einschnitt in die Routine des Alltags, so lässt er sich am Schluss des Gedichts auf die Mitte des Lebens beziehen.

Aus dieser Perspektive bezeichnet die Mauer dann auch nicht mehr nur die eng umgrenzte Zuflucht, die sich durch die Träume bietet. Vielmehr steht sie nun auch für das Bewusstsein einer absoluten Grenze des menschlichen Lebens. Dies lässt sich sowohl rein physisch – also als Bewusstsein der Todesgrenze – als auch im übertragenen Sinne verstehen, also als Grenze, über die der menschliche Geist nicht hinausdenken kann bzw. – in der Sprache des Gedichts ausgedrückt – an der all sein Streben zu Scherben zerfällt. 

Leiden an der Existenz trotz erfülltem Leben

Montales Gedicht ist damit ein Beispiel für das, was der Dichter als Kern nicht nur seiner eigenen, sondern allgemein der Poesie ansieht. Deren zentrales „Thema“ sei, so hat er 1951 festgestellt, „die conditio humana an sich“ [1].

Dabei fällt nun allerdings die pessimistische Sicht der menschlichen Existenz auf, die Montales Werk ausstrahlt. Der Dichter erklärt dies mit den Erfahrungen, die er selbst von früher Kindheit an gemacht habe:

„Da ich von Geburt an eine totale Disharmonie mit der mich umgebenden Realität empfand, konnte nur diese Disharmonie der Stoff für meine Inspiration sein.“ [2]

Diese Aussage relativiert sich indessen bei einem Blick auf die Biographie des Dichters. Zwar litt Montale schon früh an Atemwegserkrankungen. Allerdings hatte er das Glück, seine Kindheit an der ligurischen Küste zu verbringen, wo sich das milde Mittelmeerklima heilsam auf seine Lungen auswirkte. Seine Heimatstadt war Genua, die Sommer verbrachte die Familie in ligurischen Badeorten.

Überdies wuchs Montale in wohlhabenden Verhältnissen auf. Der Vater, Miteigentümer einer Chemiefirma, konnte seinen Kindern eine behütete Kindheit ermöglichen und ihnen den Weg in ein erfolgreiches Berufsleben ebnen.

Montale schloss 1915 eine Ausbildung zum Buchhalter ab, hatte jedoch die Freiheit, in den Bibliotheken der Stadt und durch die Teilnahme am Philosophiestudium seiner an der Universität eingeschriebenen Schwester seinen musisch-geistigen Interessen nachzugehen. Hierzu zählte auch die Kompensation seiner Lungenschwäche durch eine Ausbildung zum Bariton.

Auch Montales späteres Leben war, anders als es seine pessimistischen Lebensrückblicke vermuten lassen, keineswegs von „Disharmonie“ geprägt. Gleich sein erster, 1925 erschienener Gedichtband Ossi di seppia (Tintenfischknochen) begründete seinen Rang als anerkannter Dichter und verhalf ihm 1929 zu einer Anstellung als Leiter einer der renommiertesten Bibliotheken des Landes, des Gabinetto scientifico letterario G. P. Vieusseux in Florenz. 1975 erhielt er, als Krönung seines Dichterlebens, den Literaturnobelpreis.

Auch privat verlief Montales Leben alles andere als disharmonisch. Er hatte mehrere erfüllte Liebesbeziehungen, litt keine materielle Not und war fest in die künstlerische Szene seiner Zeit integriert.

Entfremdungsgefühle eines Jahrhundertwendekindes

Für die „totale Disharmonie mit der mich umgebenden Realität“, die Montale als Grundlage seiner dichterischen Inspiration bezeichnet, muss es also andere als rein biographische Gründe geben.

Krieg und Faschismus lassen sich hier ebenfalls nicht als Erklärung anführen. So fand Mussolinis Marsch auf Rom erst im Jahr 1922 statt, also sechs Jahre nach Entstehung der oben wiedergegebenen Verse.

Der Erste Weltkrieg war 1916 zwar schon in vollem Gange. Montale selbst nahm jedoch erst ab 1917 am Krieg teil. Zudem wurde er sogar auf eigenen Wunsch an die Front geschickt und kehrte 1920 im Rang eines Leutnants aus dem Krieg zurück – was für eine grundsätzlich bejahende, aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen spricht.

So lässt sich der fundamentale Skeptizismus der Verse wohl am ehesten auf die Geisteshaltung der Décadence beziehen – also jener geistigen Strömung, in der sich zur Zeit der Jahrhundertwende das Leiden an den tiefgreifenden Umbrüchen widerspiegelte, die sich in der damaligen Zeit vollzogen. Der daraus resultierende Verlust tradierter Ordnungsgefüge und Sinngebungsmuster scheint auch der Nährboden für die von Montale empfundene und in seiner Dichtung zum Ausdruck gebrachte „Disharmonie“ zu sein.

Nachweise

[1] Eugenio Montale: Beitrag in der Reihe Confessioni di scrittori (Intervista con se stessi), 1951 (Bekenntnisse von Schriftstellern: Interviews mit sich selbst). In: Ders.: Sulla Poesia. Mailand 1976: Mondadori (Text auch als PDF verfügbar).

[2]  Ebd.

English Version

The Limits of Paradise

A Midday Poem by Eugenio Montale

Eugenio Montale’s poetry is characterised by a deep skepticism. However, this is based less on the experience of war and fascism than on a loss of orientation triggered by the radical changes at the turn of the century.

The Glowing Wall of Noon

Under the glowing wall of noon,
embraced by the daydream of summer,
you sink into the hissing snake bushes
and in the rustling sea of blackbirds and leaves.

In long rows, ants peek out
from cracks in the ground and from flower stalks,
tangling and intertwining
at the edge of their tiny holes.

Stroked by fronds of field bindweed,
you dream of the fish’s scaly twitch,
while the trembling chirp of cicadas
soars up into the sky.

Walking in the blinding sun,
you feel with sad amazement
the border of the glowing wall,
where you rise as in a bottle
whose neck is rimmed with a sea of shards.

Eugenio Montale: Meriggiare pallido e assorto. Written around 1916; from: Ossi di seppia (1925)

Midday Slumber in a Southern Garden

The poem by Eugenio Montale (1896 – 1981) takes us to a southern garden. The sun beats down on you, making you sleepy. Leaning against a wall, the shimmering midday heat lulls you to sleep.

The haze of heat brings human life to a standstill. Nothing can be heard but the rustling and buzzing, chirping and twitching of snakes, lizards and insects, accompanied here and there by the scurrying of a blackbird in the undergrowth.

Slowly, consciousness fades, sensory perceptions blur with the daydreams that awaken behind the closed eyelids. The field bindweed growing along the wall, its fronds stroking the cheeks of the slumbering one, evokes associations with the scaly shoals of fish, the blue sea of the sky merges with the murmur of the ocean lapping against the nearby shore.

All things are suddenly connected to each other, you are a part of them, escaping from your own ego for a few moments outside of time. This makes the awakening all the more painful. Like after an intense drug high, you feel the hangover of disillusionment throbbing in your temples. The sun, just a moment ago a source of infinite life, has suddenly turned into a crown of thorns that presses painfully on the head of those blinded by its glow.

The Wreath of Broken Glass at the Bottleneck of Life

The four stanzas of Montale’s poem congenially reflect this oscillation between daydream and awakening. In the third stanza, the pleasant midday dozing turns into daydreaming, before the last stanza evokes the awakening.

In the process, the meaning of the wall, the poem’s central metaphor, also changes. In the first stanza, it appears as the border of a self-sufficient, peaceful garden, as a protective wall around paradise that shields it from the world. In the last stanza, by contrast, it is a boundary for the daydreams in which paradise acquires a momentary reality.

In this way, noon also takes on a metaphorical meaning. While at the beginning of the poem it simply refers to the middle of the day, a break in the routine of everyday life, it can be related to the middle of life at the end of the poem.

From this perspective, the wall no longer only denotes the confines of the refuge offered by dreams. Rather, it now also points to the awareness of an absolute limit to human life. This can be understood both in purely physical terms – i.e. as an awareness of the limit set by death – and in a figurative sense, i.e. as a limit beyond which the human spirit cannot think or – to put it in the language of the poem – at which all its striving disintegrates into shards.

Suffering from Existence Despite a Fulfilled Life

Montale’s poem is thus an example of what the poet sees as the core not only of his own poetry, but of poetry in general. Its central „theme“, he stated in 1951, is „the human condition itself“ [1].

In Montale’s work, however, this is linked to a decidedly pessimistic view of human existence. The poet explains this with the experiences he himself had gone through from early childhood:

„Since from birth I felt a total disharmony with the reality surrounding me, only this disharmony could be the source of my inspiration.“ [2]

This statement, though, is put into perspective when we look at the poet’s biography. It is true that Montale suffered from respiratory diseases at an early age. However, he was lucky enough to spend his childhood on the Ligurian coast, where the mild Mediterranean climate had a healing effect on his lungs. His hometown was Genoa, and the family spent the summers in Ligurian seaside resorts.

Moreover, Montale grew up in prosperous circumstances. His father, co-owner of a chemical company, was able to provide his children with a comfortable home and pave their way to a successful professional life.

Montale completed an apprenticeship as an accountant in 1915. Apart from this, he had the freedom to pursue his artistic and intellectual interests in the city’s libraries and to participate in the philosophy studies of his sister, who was enrolled at the university. In addition, he could compensate for his lung weakness by training as a baritone.

Montale’s later life, too, was by no means characterised by „disharmony“, contrary to what his pessimistic reviews of his life might suggest. His very first book of poems, Ossi di seppia (Octopus Bones), published in 1925, established his status as a recognised poet and in 1929 helped him to be appointed director of one of the most renowned libraries in the country, the Gabinetto scientifico letterario G. P. Vieusseux in Florence. In 1975, as the crowning achievement of his poetic life, he received the Nobel Prize for Literature.

Montale’s private life was also anything but disharmonious. He had several blissful love affairs, suffered no material hardship and was firmly integrated into the artistic scene of his time.

Feelings of Alienation of a Turn-of-the-Century Child

The „total disharmony with the reality that surrounds me“ which Montale describes as the basis of his poetic inspiration must therefore have other than purely biographical reasons.

War and fascism cannot be used as an explanation here either. Mussolini’s March on Rome, for example, did not take place until 1922, six years after the verses reproduced above were written.

It is true that the First World War was already in full swing in 1916. Montale himself, however, only took part in the war from 1917 onwards. Moreover, he was even sent to the front at his own request and returned from the war in 1920 with the rank of lieutenant – which suggests a generally affirmative, active participation in the combat.

Thus, the fundamental skepticism of the verses can probably best be related to the mindset of the Décadence – that is, the intellectual current which at the turn of the century reflected the suffering from the profound transformations that were taking place at the time. The resulting loss of traditional structures of order and patterns of meaning seems to be the breeding ground for the „disharmony“ experienced by Montale and expressed in his poetry.

References

[1] Eugenio Montale: Contribution to the series Confessioni di scrittori (Intervista con se stessi), 1951 (Confessions of Writers: Interviews with Themselves). In: E.M.: Sulla Poesia. Milan 1976: Mondadori (text also available as PDF).

[2]  Ibid.

Bilder / Images: Edvard Munch (1863 – 1944): Die Sonne / The Sun (1911); Kunstsammlung der Universität Oslo (Wikimedia commons); Ugo Mulas: Eugenio Montale in der Mailänder Scala / Eugenio Montale at the Teatro alla Scala opera house in Milan (1950er Jahre); Wikimedia commons

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