Ilona Lays Gedicht Ein Wintertag / Ilona Lay’s Poem A Winter’s Day
Ilona Lays Gedicht Ein Wintertag kreist um eine unerfüllte Liebe. Es wirft aber auch die Frage auf, inwieweit die Trauer um vergangenes oder verfehltes Glück den Blick auf das gegenwärtige Glück verstellen kann.
Ein Wintertag
Schlafwandelnd tanzt herab der Schnee
aus seinem Bett aus Wolkenmähnen,
tupft sich auf der Erdfee Strähnen
an dem eisumflorten See.
Lautlos befreit er einen Traum,
darin zwei Augen glühn verschwommen,
dunkles Haar ist weiß umglommen
von des Winters Himmelsflaum.
Und Winde wehen wie genährt
von ungetrunk’nem Weine wieder
um zwei Herzen, die in Lieder
ihr Geheimnis nie geleert.
Zum Land der Schatten floh ihr Flug,
fort zum Tal der stummen Weisen,
und die Wolken weinen leisen
Trauerns auf den vollen Krug.
Musik von RelaxingSounds: Healing Time (Pixabay)
Bilder: Albert Bierstadt (1830 – 1902): Winter in Yosemite (Wikimedia commons); Ilka Hoffmann: Winter im Ostertal/1; Brigitte Werner (ArtTower): Mädchen im Schnee (Pixabay);Adolf Kaufmann (1848 – 1916): Sonnenuntergang in winterlicher Landschaft (Wikimedia commons); Iwan Fjodorowitsch Schultze (Ivan Fedorovich Choultsé, 1874 – 1939): Winterlicher Sonnenuntergang (1920er Jahre); Wikimedia commons; Alexej Sawrassow (1830 – 1897): Winter (um 1880); Sankt Petersburg, Russisches Museum (Wikimedia commons); H. Drass et al. / European Southern Observatory: Infrarotbild des Orionnebels, Juli 2016; eso.org (Wikimedia commons); HeonCheol Lee: Mond in Wolken (Pixabay);Caspar David Friedrich (1774 – 1840): Der Winter (Mönch im Schnee; 1808); Wikimedia commons (Gemälde ist 1931 verbrannt); Ilka Hoffmann: Winter im Ostertal/2
Das Labyrinth der Was-wäre-wenn-Fragen
Bei Rückblicken auf das bisherige Leben gehört die Was-wäre-wenn-Frage sicher zu den am häufigsten gestellten: Was wäre, wenn ich mich damals für eine andere Arbeit entschieden hätte? Was wäre, wenn ich an jenem Samstag, als ich eigentlich viel zu müde war, nicht mit den anderen in die Bar gegangen wäre, wo ich dann die Liebe meines Lebens getroffen habe?
Letztere Frage gibt es allerdings auch in der Moll-Version: Was wäre, wenn ich damals auf die Person zugegangen wäre, in der ich die Liebe meines Lebens gesehen habe? Was hat mich daran gehindert, die Hand nach ihr auszustrecken? Warum hat mir der Mut dazu gefehlt?
Schwindelgefühle vor der Brücke zum Luftschloss
Die Antwort auf diese Frage könnte dann etwa sein, dass wir gerade deshalb vor dem entscheidenden Schritt zurückgeschreckt sind, weil wir in der anderen Person die Erfüllung unserer geheimsten Wünsche gesehen haben. Hätten wir mit ihr nur die Hoffnung auf ein unverbindliches Abenteuer verbunden, so wären wir vielleicht nicht so zögerlich gewesen.
Hat uns also der Gedanke, durch das Zucken eines Fingers unser ganzes Leben zu verändern, entmutigt? Oder hatten wir Angst vor dem Einstürzen des Luftschlosses, in das wir uns schon mit der angebeteten Person einziehen sahen? Davor, dass diese uns die Brücke zu dem Luftschloss erst gar nicht betreten lassen würde? Davor, dass die Wirklichkeit nicht unseren Vorstellungen entsprechen würde?
Wenn Nostalgie den Blick auf das Glück verstellt
Später sitzen wir dann auf dem Berg unseres bisherigen Lebens und blicken hinab in die Ebene der Vergangenheit, wo die Fata Morgana unseres Luftschlosses noch immer so rein erstrahlt wie damals, als wir es nicht gewagt haben, uns ihr zu nähern.
Dabei sollten wir uns allerdings immer bewusst bleiben, dass das Luftschloss eben noch immer dasselbe Trugbild ist wie bei seiner Entstehung. Ob es wirklich das war, was wir darin gesehen haben, können wir nicht wissen.
Wenn wir uns dies nicht klarmachen, besteht die Gefahr, dass wir in die Falle des aus der Romantik nur allzu bekannten nostalgischen Denkens tappen und rückblickend das nicht gelebte Leben verklären. „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück“ – dies war ein Kernbestand romantischen Empfindens. Für die romantische Kunst mag dieser Weltschmerz fruchtbar gewesen sein. Wer aber nach dieser Maxime lebt, läuft aber Gefahr, sich selbst den Blick auf das Glück zu verstellen.
So mögen Was-wäre-wenn-Fragen zwar als Gedankenspiel reizvoll sein – für ein erfülltes Leben ist es aber hilfreicher, das Glück dort zu suchen, wo es für uns erreichbar ist.
Zitat entnommen aus:
Georg Philipp Schmidt von Lübeck: Des Fremdlings Abendlied (1808); unter dem Titel Der Wanderer vertont von Franz Schubert. Die verschiedenen Fassungen von Gedicht- und Liedtext finden sich mit Angaben zur Entstehungs- und Editionsgeschichte sowie einer Liedfassung von Peter Schöne (Gesang) und Boris Cepeda (Klavier) in: Schöne, Peter: Der Wanderer – Dritte Fassung. D 489 – Opus 4 / 1; schubertlied.de.

English Version
Nostalgic View of a Bygone Castle in the Air
Ilona Lay’s Poem A Winter’s Day
Ilona Lay’s poem A Winter’s Day revolves around an unfulfilled love. But it also raises the question of how mourning for past or missed happiness can obscure the view of present happiness.
A Winter’s Day
Sleepwalking, the snow dances down
from its bed of cloudy manes,
dabbing the earth fairy’s strands
on the icy grave slab of the lake.
Silently the flakes release a dream
in which two eyes glow indistinctly,
dark hair is wrapped in a white fluff
falling from the sallow winter sky.
The winter wind howls like a boozer,
drunk with undrunk wine,
around two hearts that never poured
their longing into melodies.
Their dream now floats in the valley of shadows,
in the gorge of unsung songs,
and the clouds weave their lament
around the never emptied jar.
The Labyrinth of What-If Questions
When looking back on the life lived so far, the what-if question is certainly one of the most frequently posed: What if I had chosen a different job back then? What if I hadn’t gone out with the others on that Saturday when I was actually much too tired? If I had not gone to that bar where I met the love of my life?
The latter question, however, also exists in reverse: What if back then I had approached the person in whom I saw the love of my life? What prevented me from reaching out to that person? Why did I lack the courage to do so?
Dizziness before the Bridge to the Castle in the Air
The answer to this question could be that we were reluctant to take the decisive step precisely because we saw in the other person the fulfilment of our innermost desires. If we had associated her with nothing more than the hope of a non-committal adventure, we might not have been so hesitant.
So did the thought of changing our whole life by the twitch of a finger discourage us? Or were we afraid of the collapse of the castle in the air into which we already saw ourselves moving with the person we adored? Were we afraid that the person we loved would not even let us cross the bridge to the castle in the air – or of reality not living up to our expectations?
When Nostalgia Obscures the View of Happiness
Later, we sit on the mountain of the life behind us and look down into the plain of the past, where the fata morgana of our castle in the air still shines as purely as it did when we didn’t dare approach it.
However, we should always be aware that a castle in the air remains a mirage, even when looking back. Whether it was really what we saw in it, we cannot know.
If we do not realise this, we run the risk of falling into the trap of nostalgic thinking, all too familiar from Romanticism: Looking back, we glorify the life we did not live. „Where you are not, there is happiness“ – this was a core sentiment of Romanticism. For Romantic art, this „Weltschmerz“ (world-weariness) may have been fruitful. But those who live by this maxim are in danger of obscuring their view of happiness.
Thus, what-if questions may be appealing as mind games – but for a fulfilled life, it is more helpful to seek happiness where it is within our reach.
Quotation taken from:
Georg Philipp Schmidt von Lübeck: Des Fremdlings Abendlied (The Stranger’s Evening Song, 1808); set to music by Franz Schubert (under the title Der Wanderer). The various versions of the poem and song text can be found with information on the genesis and publishing history as well as a song version by Peter Schöne (voice) and Boris Cepeda (piano) in: Schöne, Peter: Der Wanderer – Dritte Fassung (Third Version). D 489 – Opus 4 / 1; schubertlied.de. An English translation of the poem with annotations is available on The LiederNet, here with reference to the first verse: Ich komme vom Gebirge her (I come down from the mountains).
Bilder / Images: Albert Bierstadt (1830 – 1902): Winter in Yosemite (Wikimedia commons); Alexej Sawrassow (1830 – 1897): Winter (um 1880); Sankt Petersburg, Russisches Museum (Wikimedia commons)