Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming
Im Jenseits angelangt, landet man zunächst im Wartesaal des Todes. Nur merkt man dort nicht mehr, dass man wartet.
Text hören:
Ganz allmählich tropften nun all die Bilder in mein Gedächtnis zurück, von denen ich angenommen hatte, es handle sich um Traumsequenzen. Ich sah mich in einer unüberschaubar großen Halle sitzen, in der Tausende, wenn nicht Zehntausende heruntergekommene Gestalten auf abgewetzten Bänken kauerten.
Das Ganze erinnerte entfernt an die trostlosen Wartesäle, die es früher auf den Bahnhöfen der großen Städte gegeben hatte. Ein bisschen wirkte es auch wie eine gigantische Armenküche. Eine Art Nebel, ein Dunst wie nach einem abklingenden Gewitter hatte sich in dem Raum ausgebreitet, so dass die einzelnen Gestalten nur schemenhaft zu erkennen waren.
Obwohl mich die Szenerie vom Äußeren her an einen Bahnhof erinnerte, fühlte ich mich doch eher wie im Wartezimmer eines Arztes oder einer Behörde. Unwillkürlich schaute ich mich nach einem Automaten um, an dem Nummern gezogen werden mussten, in deren Reihenfolge die Wartenden dann aufgerufen würden.
Als ich mir aber in der stickigen Luft reflexartig mit der Hand über die Stirn wischte – was unsinnig war, da ich überhaupt nicht schwitzte –, bemerkte ich, dass auf meinem Handrücken bereits eine Nummer eingraviert war: 4995. Wenn die Nummern nicht über mehrere Tage hinweg fortlaufend vergeben wurden, sondern die Zählung jeden Tag bei 1 begann, musste es eine Ewigkeit dauern, bis ich an der Reihe war!
Seltsamerweise regte ich mich darüber in keiner Weise auf. Nicht nur die Dauer, sondern auch der Zweck meines Wartens war mir völlig gleichgültig. Zeit spielte nicht nur keine Rolle mehr für mich – ich hatte vielmehr jedes Zeitgefühl verloren.
Allerdings schien das, worauf man hier wartete, auch nicht viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Ständig verschwanden einige der Wartenden aus der Halle, immer mehrere auf einmal, was auf eine zügige Abfertigung hindeutete. Freilich wurde der Wartesaal dadurch keineswegs leerer, da pausenlos Neuankömmlinge eintrafen, die sich auf die Plätze der Abberufenen setzten.
Interesselos ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Dabei stellte ich fest, dass es sich bei den abgerissenen Gestalten, die ich zunächst für Obdachlose oder Bettler gehalten hatte, nicht etwa um menschliches Treibgut handelte, um jene nicht zu behauenden Brocken, welche die Gesellschaft als unverdaulich auszuspeien pflegte. Stattdessen waren sie alle so stark vom Tod gezeichnet, dass sie bereits dessen Kleider zu tragen und mit dessen Stimme zu sprechen schienen.
Bei manchen machte sich dies lediglich durch eine unnatürlich gelbe oder bläuliche Verfärbung des Gesichts bemerkbar. Anderen aber fehlten komplette Gliedmaßen, und in einigen Fällen war es mir sogar, als befände sich dort, wo der Kopf hätte sein sollen, nur ein behelfsmäßiger Ersatz, eine Art durchscheinende Büste.
„Na, auch aus’m Nahen Osten?“ hörte ich neben mir jemanden fragen. Ich wandte mich um, doch die Frage richtete sich an den Sitznachbarn auf der anderen Seite.
„Nee, aus Kalabrien“, murmelte dieser abweisend. Sein Gesicht war wie das des Fragestellers nur noch eine breiige Masse aus Blut und Fleischklumpen. Da der andere ihn verständnislos ansah, ergänzte er: „‚Ndrangheta – capisc‘?“
Der Mann neben ihm schüttelte geistesabwesend den Kopf. Es blieb unklar, ob er die Worte nicht verstanden hatte oder ob seine Gedanken nur nicht mehr den Nebel durchdringen konnten, der hier wie ein schweres Betäubungsmittel in die Köpfe einsickerte.
Mein Blick fiel auf ein großes, schon halb verwittertes Schild, das an der Stirnseite des Saales hing. „Wartesaal des Todes“, las ich. Das erklärte natürlich einiges. Ich wunderte mich allerdings, dass ich die Schrift überhaupt entziffern konnte. Denn das Schild war in einer Sprache verfasst, von der ich noch nie gehört hatte. Ich war mir nur sicher, dass sie uralt sein musste.
Erst jetzt fiel mir auch auf, dass die beiden Männer neben mir sich in eben dieser Sprache unterhalten hatten – deren Worte ich reflexartig in meine eigene Sprache übersetzt hatte. War das hier also die allgemeine Umgangssprache? Aber wie konnte es sein, dass man sie nur deshalb beherrschte, weil man sich in diesem Saal aufhielt?
„Na, mein Söhnchen, du hast’s aber gut getroffen – wohlbehalten wie Adonis!“ sprach mich plötzlich jemand von der Seite an. Es war die Gestalt zu meiner Linken, die mich offenbar schon eine Zeit lang aus den Augenwinkeln beobachtet hatte.
Das Gesicht der Gestalt war so eingefallen, dass ich nicht sagen konnte, ob es zu einem Mann oder zu einer Frau gehörte. Seltsam war auch, dass die Hohlwangigkeit zwar die Assoziation an einen Greis weckte, gleichzeitig aber die ledrige Gesichtshaut wie die einer Mumie und deshalb alterslos wirkte.
Es war daher keineswegs nur Höflichkeit, als ich erwiderte: „Sie haben sich aber auch gut gehalten.“
Die Gestalt winkte ab: „Ach, das scheint nur so!“
Damit schlug sie den Umhang zurück, in den sie gehüllt war, und gab den Blick frei auf einen Bauch, der zerklüftet war wie ein exotischer Pilz.
„Alles klar?“ fragte sie knapp, um dann nachzuschieben: „Und du? Was hat dir den Garaus gemacht?“
Verständnislos sah ich in das ausgemergelte Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was die Frage bedeutete und worauf sie abzielte. Offenbar ging die Gestalt davon aus, dass auch ich tot war, und wollte nun wissen, woran ich gestorben war.
Sobald ich dies erkannte hatte, war es vorbei mit meinem Gleichmut. Hektisch wehrte ich die Frage ab: „Ach, das … das ist nicht so, wie es scheint. Ich bin nur aus Versehen hier.“
Ein maliziöses Lächeln verzog das Gesicht neben mir zu einer Fratze: „Das denkt so mancher … Aber glaub mir, Söhnchen: Hierher kommt niemand aus Versehen.“
Beunruhigt und verärgert wandte ich mich von der aufdringlichen Person ab – was diese mit einem heiseren Kichern kommentierte. Ich aber achtete schon gar nicht mehr auf sie. Für mich zählte nun allein die Frage, ob ich – da ich mich ja unbestreitbar in diesem „Wartesaal des Todes“ befand – tatsächlich mein Leben verloren hatte. Aber hätte ich mich daran nicht erinnern müssen?
Ich schloss die Augen. Angestrengt spähte ich in den dunklen Wald meiner Vergangenheit – aber da war nichts. Es war, als hätte jemand den kompletten Tresor meiner Erinnerungen leergeräumt. Andererseits: Bewies nicht gerade die Tatsache, dass ich mich an keinerlei Unfall oder an eine schwere Krankheit erinnern konnte, dass ich fälschlicherweise hier gelandet war?
Viel hätte ich darum gegeben, mich in einem Spiegel betrachten zu können, um das innere Empfinden dem äußeren Erscheinungsbild gegenüberzustellen. Aber in dem ganzen großen Saal gab es nirgends auch nur die kleinsten Bruchstücke von Glas oder von etwas Metallischem, in dem man sein Ebenbild hätte betrachten können.
Während ich eben aufstehen wollte, um mich noch einmal genauer in der Halle umzusehen, spürte ich an der Stelle, wo die Nummer in meinen Handrücken eingraviert war, ein leichtes Stechen. Es war ein Lockruf, dem ich mich nicht entziehen konnte. Instinktiv strömte ich mit den anderen, die mit mir aufgerufen worden waren, einem nebelverhangenen Tor entgegen, durch das wir gemeinsam diesen unwirtlichen Ort verließen.

Gebundene Ausgabe 2015

English Version

The Waiting Room of Death
Arriving in the afterlife, you first end up in the waiting room of death. But don’t worry: You won’t notice that you are waiting.
Gradually, all the images that I had taken for dream sequences trickled back into my memory. I saw myself sitting in an immense hall with thousands or even tens of thousands of decrepit figures huddled on worn-out benches.
The whole thing was vaguely reminiscent of the desolate waiting rooms that used to exist in the railway stations of the big cities in former times. It also looked a bit like a gigantic soup kitchen. A kind of fog, a haze like after a dying thunderstorm, had spread through the room, so that the individual figures were only dimly discernible.
Although from the outside the scenery reminded me of a railway station, I rather felt as if I were in the waiting room of a doctor or a public office. Involuntarily, I looked around for a machine where numbers had to be drawn in order to call the people waiting one by one.
But when I reflexively wiped my forehead with my hand in the stuffy air – which didn’t make sense because I wasn’t sweating at all – I noticed that a number was already engraved on the back of my hand: 4995. If the numbers weren’t assigned consecutively over several days, but the count started at 1 every day, it would take an eternity until it was my turn!
Strangely enough, I was not upset about this in any way. Not only the duration, but also the purpose of my waiting was completely indifferent to me. Time didn’t matter to me anymore – I had lost all sense of it.
On the other hand, whatever people were waiting for here – it didn’t seem to take much time. Some of the persons waiting constantly disappeared from the hall, always several at a time, which indicated a speedy processing. This did not make the waiting room any emptier, though, as new arrivals were constantly coming in to take the places of those who had left the hall.
Without interest, I let my gaze wander around the room. In doing so, I noticed that the bleak figures, which I had initially taken for homeless people or beggars, were not human flotsam and jetsam, those chunks that society is wont to spit out as indigestible. Instead, they were all so badly marked by death that they already seemed to wear its clothes and speak with its voice.
In some, this was only noticeable by an unnatural yellow or bluish discolouration of the face. Others were even lacking complete limbs, and in some cases it seemed to me that where the head should have been there was only some makeshift substitute, a kind of translucent bust.
„Also from the Middle East?“ I heard someone ask next to me. I turned around, but the question was directed at the seat neighbour on the other side.
„Nope, from Calabria,“ the person addressed mumbled dismissively.
The answerer’s face, like that of the questioner, was nothing but a pulpy mass of blood and lumps of flesh. As the other looked at him uncomprehendingly, he added: „‚Ndrangheta – capisc‘?“
The man next to him shook his head absent-mindedly. It remained unclear whether he had not understood the words or whether his thoughts just could no longer penetrate the fog that seeped into people’s minds here like a heavy narcotic.
My gaze fell on a large, already half-weathered sign hanging at the forefront of the hall. „Waiting room of death“, I read. That explained a lot, of course. I was surprised, however, that I could decipher the writing. After all, the sign was written in a language I had never heard of. The only thing I knew for sure was that it had to be ancient.
Only now did I also notice that the two men next to me had been talking in this very language – whose words I had reflexively translated into my own language. So was this something like a lingua franca here? But how could it be that people were able to speak it just because they were in this hall?
„You’ve really done well, boychick – safe and sound like Adonis!“ someone suddenly spoke to me from the side. It was the figure to my left, who had obviously been watching me secretly for some time.
The figure’s face was so emaciated that I couldn’t tell whether it belonged to a man or a woman. Although the gauntness of the face made me think of a very old person, the leathery skin of the face looked like that of a mummy and thus ageless.
It was therefore by no means mere politeness when I replied: „But you don’t exactly look frail either.“
The figure grinned awkwardly. „Oh, that’s just the outward appearance!“
With that, my seatmate flipped back the cloak that covered the body, revealing a belly that was jagged like an exotic mushroom.
„Understand?“ I was asked laconically, followed by the question: „And you? What has finished you off?“
Uncomprehendingly, I looked at the haggard face. It took me a while to understand what the question meant and what it was aimed at. Apparently the figure assumed that I was dead too and wanted to know what I had died of.
As soon as I realised this, my equanimity was gone. Hectically I fended off the question: „Oh, that … that’s not how it seems. I’m just here by mistake.“
A malicious smile twisted the face next to me into a grimace. „That’s what many think here … But believe me, sonny: No one comes here by mistake.“
Worried and annoyed, I turned away from the pushy person – which the latter commented on with a hoarse giggle. But I no longer paid any attention to that worrywart. All that mattered to me now was the question of whether I – since I was undeniably sitting in this „waiting room of death“ – had actually lost my life. But shouldn’t I have remembered that?
I closed my eyes and tensely scoured the forest of my past – but it remained completely dark. It was as if someone had emptied the entire vault of my memories. On the other hand, didn’t the very fact that I couldn’t remember any accident or serious illness prove that I had ended up here by mistake?
I would have given a lot to look at myself in a mirror, to compare my inner feelings with my outer appearance. But in the whole large hall I couldn’t detect even the smallest fragments of glass or anything metallic that would have reflected my image.
Just as I was about to get up to look around the hall again, I felt a slight twinge at the place where the number was engraved in my hand. It was a call that I could not resist. Instinctively, I flocked with the others who had been summoned with me towards a foggy gate through which we jointly left this inhospitable place.
Bilder / Images: Odilon Redon (1840 – 1916): Kirchenfenster / Church window (1904); Wikimedia commons; Creatifrankenstein: Totenschädel im Spiegel / Skull in the mirror (Pixabay)
