Fremdes Zuhause / Eerie Home

Zacharias Mbizo: Glücklose Heimkehr / Luckless Homecoming

In sein früheres Zuhause zurückgekehrt, begreift Achmet allmählich, dass er in dieser Welt nicht mehr zu Hause ist. Aber wieso kann er dann trotzdem anwesend sein?

English Version

Text hören:

Benommen stand ich in der Wohnung, in der ich einmal zu Hause gewesen war. Wie war ich hierhergekommen? Und warum wirkte alles anders auf mich, obwohl sich doch offensichtlich nichts geändert hatte?
Ich ließ meinen Blick durch die vertrauten Räumlichkeiten wandern. Die durchgesessenen Polster des Fernsehsessels, der Harlekinkalender, die Spuren der Teetasse auf dem Tisch – alles erinnerte an mich. Meine Anwesenheit hatte sich den Dingen eingebrannt, mein Dasein war unabweisbar, und doch tat Salvatore hartnäckig so, als wäre ich nicht da.
Fassungslos sah ich zu, wie er fortfuhr, mich wie Luft zu behandeln. Seelenruhig ging er an seinen Computer zurück, von dem ihn offenbar die Türklingel weggerufen hatte.
Im Fall von Frau Grabowski hatte ich ja die provokante Missachtung meiner Person – so sehr ich mich auch darüber geärgert hatte – noch irgendwie nachvollziehen können. Bei Salvatore hatte ich jedoch keine Erklärung dafür. Wollte er mir etwa einen Streich spielen? Oder war er mir wegen irgendetwas böse? Aber was sollte das sein? Ich konnte mich jedenfalls an keinen Streit mit ihm erinnern.
Ich folgte Salvatore zum Computer, stellte mich hinter ihn und überflog den Text der E-Mail, an der er gerade schrieb: „… bin ich Dir wirklich sehr dankbar für Deine warmen Worte. Die letzten Wochen waren in der Tat nicht einfach für mich. Das alles ist ja völlig unerwartet über mich hereingebrochen, ich war lange Zeit wie betäubt. Und dann auch noch all der Papierkram, der in so einem Fall zu erledigen ist … Es wäre wirklich schön, wenn wir uns mal wieder sehen könnten. Lass uns einfach die Vergangenheit ruhen und noch einmal von vorn anfangen. Seit Achmets Tod …“
Weiter kam ich nicht. Meine Augen sogen sich fest an diesen drei Worten: „Seit … Achmets … Tod“. Dann war es also doch wahr? Hatte ich meinen Tod nicht nur geträumt, sondern war tatsächlich gestorben? Aber wie konnte ich zugleich da sein und nicht da sein? Wie war es möglich, dass ich mein Hiersein genauso deutlich empfand wie früher, während ich für andere nicht mehr existent war?
Mein Blick fiel auf eine Zeitungsseite, die neben dem Computer, halb begraben unter diversen anderen Unterlagen, vor sich hin gilbte. Jemand – wahrscheinlich Salvatore – hatte einen Bericht mit Textmarker angestrichen: „Schauspieler bricht während Vorstellung tot zusammen“, las ich.
Ich zuckte zusammen: Genau wie in meinem Traum! Hatte sich also alles wirklich so zugetragen, wie ich es geträumt zu haben meinte? Ich schaute nach dem Datum über der Zeitungsnotiz: Montag, 1. September. Demnach wäre ich also schon vor fünf Wochen gestorben.
Oder war das Ganze womöglich doch ein Irrtum? Hatte man mich vielleicht mit jemandem verwechselt oder vorschnell für tot erklärt und scheute sich jetzt, das Tableau der Lebenden noch einmal durcheinanderzuwürfeln?
Ich beschloss, alle Zurückhaltung aufzugeben. Nun wollte ich wenigstens Gewissheit haben! Ich klopfte Salvatore auf den Arm – aber er schrieb unbeirrt weiter. Ich stieß ihn in die Seite – er blickte weiter ungerührt auf den Monitor. Ich schüttelte ihn mit aller Macht – er blieb kerzengerade sitzen.
In einem letzten, verzweifelten Versuch, auf mich aufmerksam zu machen, schlug ich schließlich mit der Hand gegen den Bildschirm. Aber auch dieser missachtete meine Existenz und ließ sich keinen Millimeter von mir bewegen.
Seltsam, dachte ich – wieso hatte ich dann die Türklingel betätigen können? Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich anscheinend nur dann in das Weltgeschehen eingreifen konnte, wenn dadurch kein fremdes Weltbild beeinträchtigt wurde. Indirekt konnte ich offenbar sehr wohl in Erscheinung treten. Sobald ich aber durch mein Tun unmittelbar mit einem anderen Sein in Berührung kam, war alles, was durch mich geschah, im selben Augenblick aus dem Buch des Lebens gelöscht.
Während sich diese Erkenntnis in mir Bahn brach, stand Salvatore auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Ich sah ihm zu, wie er eine Tasse aus der Spüle nahm, sie kurz unter dem Wasserhahn abschwenkte, wie er die Kaffeekanne von der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine nahm und die schwarze Brühe in die Tasse goss.
Und auf einmal, ohne dass ich es selbst gleich bemerkt hätte, verwandelte sich meine Verzweiflung in Wut. Ich erklärte mir das zunächst mit der Enttäuschung darüber, dass Salvatore augenscheinlich im Begriff war, sich schon jetzt, wenige Wochen nach meinem Verschwinden aus seinem Leben, mit seiner verflossenen Liebe über den Verlust hinwegzutrösten.
Natürlich, Salvatore konnte nicht für den Rest seines Lebens in Sack und Asche gehen und allen Freuden des Daseins entsagen, nur weil es mich nicht mehr gab. So war nun einmal der Lauf der Dinge, sagte ich mir, irgendwann musste man die Trauer hinter sich lassen – wie hätte man denn sonst weiterleben sollen?
Allerdings war das nur die Sprache der Vernunft. Mein Gefühl sagte mir etwas ganz anderes. Es folgte eher dem Verhalten jener Vogelarten, bei denen der überlebende Teil sich verhungern lässt, wenn sein Partner gestorben ist. War die Liebe hier also ein stärkeres Band, bewirkte sie eine unbedingtere Bindung an ein anderes Leben, als es beim Menschen der Fall war?
Aber vielleicht war die Enttäuschung über Salvatores Untreue noch nicht einmal der entscheidende Funke, der das Feuer meiner Wut zum Lodern brachte. Noch stärker wog wohl das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeschlossenseins, die Verbitterung darüber, nur noch Zuschauer des Weltentheaters sein zu dürfen, während Salvatore nach wie vor nach Herzenslust auf dessen Bühne agieren durfte.
Ein Instinkt begann sich in mir zu regen, den ich noch nie gespürt hatte, ein Instinkt, von dem ich sofort wusste, dass es nicht der eines lebendigen Wesens war. Eine kaum zu bändigende Zerstörungslust stieg in mir auf, die sich wahllos gegen alles Leben in meiner Umgebung richtete.
Ohne zu wissen, was ich tat, bewegte ich mich auf Salvatore zu, ich erhob meine Hände, schon umfächerten sie seinen Hals … Und seltsam: Jetzt, da ich meine Energie aus meinem Vernichtungswillen sog, schien er meine Anwesenheit plötzlich zu spüren. Er erschauerte, als hätte ein kalter Windstoß ihn erfasst.
Ich begriff, dass offenbar allein mein Destruktionstrieb mir zu jener Energie verhelfen konnte, die ich brauchte, um vor anderen Gestalt anzunehmen – und dass ich gleichzeitig jene, die Zeuge dieses Verwandlungsaktes wurden, dadurch mit mir in den Abgrund des Nichtseins hinabreißen würde.
Es war keinesfalls eine plötzliche Aufwallung von Mitleid, was mich davon abhielt, meinem neu gewonnenen Instinkt zu folgen. Vielmehr streifte mich im selben Augenblick eine Ahnung, eine halb unbewusste Erinnerung an das Ziel, das mit meiner Rückkehr in die Welt verbunden war. Und ebenso intuitiv verstand ich, dass dieses Ziel für mich unerreichbar geblieben wäre, wenn ich meiner Zerstörungslust nachgegeben hätte.
Unmittelbar darauf befand ich mich wieder draußen auf der Straße. Ich sage „draußen“, obwohl dieses Mal kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass ich übergangslos von einer Sphäre in die andere geglitten war, es für mich also kein „Draußen“ und kein „Drinnen“ mehr gab. Aber ohne derartige Kategorien lässt sich das innerweltliche Geschehen nun einmal nicht beschreiben.
Wie im Traum wankte ich zurück in den nahen Park, wo ich mich auf eine Bank setzte und den Reigen der seltsamen Erinnerungen, die meinen Geist seit meiner Rückkehr auf die Welt bedrängten, noch einmal bewusst an mir vorüberziehen ließ.

English Version

Eerie Home

After returning to his former home, Ahmet gradually realises that he is no longer at home in this world. But then why can he still be present?

Dazed, I stood in the flat where I had once been at home. How had I got here? And why did everything seem different to me, though obviously nothing had changed?
I let my gaze wander through the familiar rooms. The worn-out cushions of the TV armchair, the Harlequin calendar, the traces of the teacup on the table – everything was an echo of my existence. My presence had been etched into things, my existence was undeniable, and yet Salvatore stubbornly pretended I wasn’t there.
Stunned, I watched him continue to treat me like air. Calmly, he went back to his computer, where he had obviously just been busy with something when the doorbell rang.
In the case of Mrs. Grabowski, I had somehow been able to understand the provocative disregard for my person – although I had of course been annoyed by it. In the case of Salvatore, however, I had no explanation for it. Was he trying to play a trick on me? Or was he angry with me for something? But what could that be? I couldn’t remember any quarrel with him.
I followed Salvatore to the computer, stood behind him and skimmed the text of the email he was writing: „… am I really grateful for your kind words. The last few weeks have indeed not been easy for me. After all, I was not prepared for such a blow of fate, I was numb for a long time. And then all the paperwork that has to be done in such a case … It would be really nice if we could meet again. Why don’t we just let bygones be bygones and start all over again? Since Ahmet’s death …“
That was as far as I got. My eyes were glued to these three words: „Since … Ahmet’s … death“. So it was true after all? Had I not only dreamed my death, but had actually died? But how could I be there and not be there at the same time? How was it possible that I felt my being here just as clearly as before, while for others I no longer existed?
My eyes fell on a newspaper page lying next to the computer, half-buried under various other documents. Someone – probably Salvatore – had marked an article with a highlighter: „Actor collapses dead during performance“, I read.
I winced: Just like in my dream! So had everything really happened the way I thought I had dreamt it? I looked at the date above the article: Monday, September 1. This meant that I would have died five weeks ago.
Or was the whole thing possibly a misunderstanding? Had I perhaps been mistaken for someone else or prematurely declared dead – and now the whole world was afraid of shaking up the tableau of the living once again?
I decided to abandon all restraint. At least I wanted to be certain about my situation now! I tapped Salvatore on the arm – but he continued writing undeterred. I poked him in the side – he continued to look at the monitor unmoved. I shook him with all my might – he remained sitting bolt upright.
In a last, desperate attempt to draw attention to myself, I finally hit the screen with my hand. But it too disregarded my existence and did not retreat a millimetre from me.
Strange, I thought – why then had I been able to ring the doorbell? It took me a while to realise that I could apparently only intervene in world affairs if it didn’t affect anyone else’s view of the world. Indirectly, I could obviously enter the scene. But as soon as I came into direct contact with another being through my actions, everything that happened through me was automatically erased from the book of life.
While I realised this, Salvatore got up and went into the kitchen to get himself a coffee. I watched him take a cup from the sink, wash it briefly under the tap, take the coffee pot from the coffee machine’s hotplate and pour the black liquid into the cup.
And suddenly, without me even noticing it right away, my despair turned into anger. At first I explained this to myself with the disappointment that Salvatore was apparently already consoling himself over the loss, just a few weeks after I had disappeared from his life.
Of course, Salvatore could not spend the rest of his life grieving and renouncing all the pleasures of life just because I was gone. That was the way it was, I said to myself, at some point you had to leave grief behind – how else could you go on living?
However, that was only the language of reason. My feelings told me something quite different. They were more in keeping with the behaviour of those bird species in which the surviving part starves itself to death when its mate has died. So was love a stronger bond here, did it cause a more unconditional attachment to another life than it did in humans?
But perhaps the disappointment over Salvatore’s infidelity was not even the decisive spark that ignited the fire of my rage. Probably even stronger was the feeling of powerlessness and exclusion, the embitterment at being reduced to a mere spectator of the world theatre, while Salvatore was still allowed to act on its stage to his heart’s content.
An instinct stirred in me that I had never felt before, an instinct of which I knew immediately that it was not that of a living being. An almost uncontainable desire for destruction rose up in me, directed indiscriminately against all life around me.
Without knowing what I was doing, I moved towards Salvatore, I raised my hands, they were already fanning his neck … And interestingly, now that I was drawing my energy from my will to destroy, he seemed to suddenly sense my presence. He shivered as if a cold gust of wind had seized him.
I realised that apparently my destructive instinct alone could give me the power to take shape in front of others – and that at the same time I would drag those who witnessed this act of transformation down with me into the abyss of nothingness.
It was by no means a sudden sense of pity that prevented me from following the unfamiliar instinct. Rather, I was struck by a hunch, a semi-conscious memory of the goal associated with my return to the world. And just as intuitively I realised that this goal would have remained unattainable for me if I had given in to my desire for destruction.
Immediately afterwards, I found myself outside on the street again. I say „outside“, although this time there could be no doubt that I had slipped seamlessly from one sphere into the other, that there was no longer an „outside“ and an „inside“ for me. However, without such categories, inner-worldly events cannot be described.
As if in a dream, I staggered back to the nearby park, where I sat down on a bench and consciously let the misty memories that had haunted me since my return to the world pass before my inner eye once more.

Bilder / Images: Timitzer: Schattenmenschen / Shadow people (Wikimedia commons; Ausschnitt/detail); Der Geist von Raynham Hall; Foto aus dem LIFE Magazine, 4. Januar 1937 / The Ghost of Raynham Hall; photo from LIFE Magazine, January 4, 1937 (Wikimedia Commons)

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