Verklärte Vergangenheit, heillose Gegenwart / Transfigured Past, Desolate Present

Paul Verlaines Gedicht Nevermore / Paul Verlaine’s Poem Nevermore

Mit dem Titel seines Gedichts Nevermore spielt Verlaine auf Edgar Allan Poes Gedicht The Raven an. Damit knüpfen die Verse auch an das romantische Weltempfinden an.

EnglishVersion

Nevermore

Ach, Erinn’rung, was malst du ihr Bild? Die Litanein
des Herbstes erstickten der Drossel Gesang,
die Sonne stach in schalem Überschwang
in den Goldstaub des Laubs, den die Winde zerschrein.

Wohl seh‘ ich ihn noch, unsern einsamen Gang,
sanft flatterten Haare und Träume im Wind.
Ach, wie sie plötzlich mich ansah und fragte, ein Kind:
„Was war dein schönster Tag?“ wie mit himmlischem Klang,

mit der Stimme aus Gold, wie nur Engel sie zeugen.
Und als Antwort ein Lächeln, ein scheues Verbeugen,
ein Kuss wie ein Hauch auf die marmorne Hand.

Ach, wie durchdringt, wie beseelt es die Luft,
das erste „Ja“, und trägt von den Lippen den Duft
trunkener Blumen durch das verzauberte Land.

Paul Verlaine: Nevermore aus: Poèmes saturniens (1866). Oeuvres complètes, Bd. 1, S. 11. Paris 1902: Vanier

Anspielung auf Edgar Allan Poes Gedicht The Raven

Nevermore – mit dem Titel seines Gedichts spielt Paul Verlaine natürlich auf Edgar Allan Poes berühmte Ballade von dem Raben an, der zu nächtlicher Stunde einen den Tod seiner Geliebten betrauernden Mann heimsucht [1].

Mit seinem erbarmungslos gekrächzten „Nimmermehr“ macht der Rabe dem Trauernden nicht nur klar, dass dieser seine Geliebte weder wiedersehen noch jemals vergessen werde. Auch eine Wiedervereinigung ihrer beider Seelen nach dem Tod des Unglücklichen schließt er aus.

Gleichzeitig lässt der Rabe auch erkennen, dass er den Trauernden „nimmermehr“ verlassen werde. So wird er selbst zu einem Vogel „Nimmermehr“, der Inkarnation einer ausweglosen, ein Leben lang andauernden Trauer. Damit weist seine Erscheinung über den konkreten Einzelfall hinaus und wird allgemein zu einer Allegorie der rettungslos zum Tode verurteilten menschlichen Existenz.

Biographische Bezüge des Gedichts

Auf der biographischen Ebene lässt sich Verlaines Gedicht wohl am ehesten auf die Cousine des Dichters, Élisa, beziehen. Verlaines Hoffnungen, diese zu heiraten, zerschlugen sich, als Élisa 1861 eine Hochzeit mit einem wohlhabenden Industriellen einging.

Andererseits eröffnete genau diese „gute Partie“ seiner Cousine die Möglichkeit, Verlaine bei der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands zu unterstützen – eben jener Poémes saturniens, unter denen sich auch Nevermore befindet. Als Élisa 1867 am Kindbettfieber starb, stürzte dies Verlaine in eine tiefe Krise.

Parallelen zum romantischen Weltempfinden

Wichtiger als die biographischen Hintergründe ist allerdings die Tatsache, dass Verlaine mit dem Gedicht an das romantische Weltempfinden anknüpft. Zwar kreist das Gedicht um den Zauber des ersten Liebesglücks. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass dieses in unerreichbarer Ferne liegt: in einer nostalgisch verklärten Vergangenheit. Eben dies ist auch ein zentraler Aspekte des romantischen Weltempfindens.

Seinen vielleicht bekanntesten Ausdruck hat dieser romantische Weltschmerz in dem Gedicht Des Fremdlings Abendlied von Georg Philipp Schmidt von Lübeck gefunden. In der Liedfas­sung von Franz Schubert (mit dem Titel Der Wanderer) lautet der abschließende Vers: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!“ [2]

Dies ist auch die Grundstimmung in dem ebenfalls von Franz Schubert vertonten Gedicht­zyklus Wilhelm Müllers, Die Winterreise. Dessen emotionale Spannung ergibt sich daraus, dass er um die beiden Pole von frostig-er­starrter Gegenwart einerseits und von Liebesglück erfüllter Vergangen­heit andererseits kreist. Gleichzeitig ist das Unterwegssein im ungastlichen Win­ter auch ein Bild für die existenzielle „Unbehaustsein“ des Menschen.

Der romantische Weltschmerz beruht demnach auf einem Ge­fühl wehmü­tiger Sehnsucht, die sich der grundsätzlichen Uner­reichbarkeit ihres Ziels bewusst ist. Denn das konkret wahrgenommene Ziel der Sehnsucht – in diesem Fall das verlorene Liebesglück – ist stets nur ein Bild für die Utopie einer unzerstörbaren Harmonie, die mit dem menschlichen Leben unvereinbar ist.

Der Kern des Weltschmerzes ist damit auch hier – wie in Poes Ballade The Raven, auf das Verlaine mit dem Titel seines Gedichts anspielt – die Trauer um das von Ge­burt an zum Tode verurteilte Leben.

Nachweise

[1]    Edgar Allan Poe: The Raven; aus: Ders.: The Raven and Other Poems by Edgar Allan Poe. New York 1845: Wiley and Putnam.

[2]    Das ursprünglich fünf Strophen umfassende Gedicht wurde zu­erst 1808 veröffentlicht. Erste Vertonungen stammen von Carl Friedrich Zelter und Friedrich Kuhlau, wobei jeweils auch der Text partiell verändert wurde. 1813 überarbeitete der Dichter sein Werk und ergänzte es um drei Strophen.

Franz Schuberts Vertonung des Gedichts stammt aus dem Jahr 1816 und wurde 1821 veröffentlicht. Der Komponist stützte sich dabei auf eine weitere, erneut fünfstrophige Druckfas­sung und nahm abermals Veränderungen am Text vor. Auf­grund der Po­pularität des Liedes ist die darin benutzte Textfassung heute die bekannteste.

Die verschiedenen Fassungen von Gedicht- und Liedtext fin­den sich mit Angaben zur Entstehungs- und Editionsgeschichte sowie einer Liedfas­sung von Peter Schöne (Gesang) und Boris Cepeda (Klavier) in: Schöne, Peter: Der Wanderer – Dritte Fas­sung. D 489 – Opus 4 / 1; schubert­lied.de.

 [3]   Wilhelm Müller: Die Winterreise. In: Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Band 2, S. 75 – 108. Dessau 1824: Heckmann. Franz Schuberts Vertonung des Gedichtzyklus datiert aus dem Jahr 1827. Sie kann u.a. in der kongenialen Umsetzung durch Alfred Brendel (Klavier) und Dietrich Fischer-Dieskau (Gesang) im Internet angehört werden: Die Winterreise. Berlin 1979: Sender Freies Berlin.

English Version

Transfigured Past, Desolate Present

Paul Verlaine’s Poem Nevermore

With the title of his poem Nevermore, Verlaine alludes to Edgar Allan Poe’s poem The Raven. The verses are thus also linked to the Romantic perception of the world.

Nevermore

Why do you, careless heart, conjure up her face?
I remember the gold dust of leaves,
scattering in the raging winds,
and autumn stifling the blackbird’s song.

I can still recall our lonely walk,
curls and longings gently fluttering in the wind.
With her angelic gaze, still a treasure in my heart,
she asked me in a soulful voice:

„What was your most beautiful day?“
And in reply a smile, a timid bow,
a hint of a kiss on the marble hand.

Oh, how it pervades the air, the first „yes“,
and carries from the lips the scent
of drunken flowers through the enchanted land.

Paul Verlaine: Nevermore from: Poèmes saturniens (1866). Oeuvres complètes, Vol. 1, p. 11. Paris 1902: Vanier

Allusion to Edgar Allan Poe’s Poem The Raven

Nevermore – with the title of his poem, Paul Verlaine alludes, of course, to Edgar Allan Poe’s famous ballad of the raven that haunts a man mourning the death of his beloved at night [1].

With his mercilessly croaked „Nevermore“, the raven not only emphasises that the grieving man will neither see his beloved again nor ever forget her. The sinister bird also rules out a reunion of their two souls after the unfortunate man’s death.

At the same time, the raven hints at staying with the unfortunate forever. In this way, he himself becomes a bird „Nevermore“, the incarnation of a hopeless, life-long mourning. His appearance therefore points beyond the concrete individual case and becomes a general allegory of human existence doomed to death.

Biographical Aspects of the Poem

On a biographical level, Verlaine’s poem can probably best be related to the poet’s cousin Élisa. Verlaine’s hopes of marrying her were shattered when Élisa entered into a marriage with a wealthy industrialist in 1861.

On the other hand, it was precisely this „good match“ that opened up the possibility for his cousin to support Verlaine in the publication of his first volume of poetry – the very Poémes saturniens that include the poem Nevermore. When Élisa died of childbed fever in 1867, this threw Verlaine into a deep crisis.

Parallels to the Romantic Perception of the World

More important than the biographical background, however, is the fact that Verlaine’s poem takes up the Romantic perception of the world. It is true that the poem revolves around the magic of the first love. The crucial point, though, is that this luck lies in the unattainable distance: in a nostalgically transfigured past. This is also a central aspect of the melancholic Romantic perception of the world.

A particularly striking expression of this Romantic world-weariness („Weltschmerz“) can be found in the poem Des Fremdlings Abendlied (The Stranger’s Evening Song) by Georg Philipp Schmidt von Lübeck. In the song setting by Franz Schubert (entitled Der Wanderer), the concluding verse reads: „There, where you are not, there is happiness!“ [2]

This is also the basic mood of Wilhelm Müller’s cycle of poems, Die Winterreise (The Winter Journey), again set to music by Franz Schubert. Its emotional tension arises from the fact that it revolves around the two poles of the frozen present on the one hand and the past, blissful love on the other. At the same time, being on the road in the hostile winter is also an image for the existential „unhousedness“ of man.

Romantic world-weariness is thus based on a feeling of wistful longing that is aware of the inaccessibility of its goal. The deeper reason for this dilemma is that the concrete goal of the longing – like a past love – is always only an image for the utopia of an indestructible harmony that is incompatible with human life.

The core of Romantic world-weariness is therefore – as in Poe’s ballad The Raven, to which Verlaine alludes with the title of his poem – the grief for a life condemned to death from birth.

References

[1]    Edgar Allan Poe: The Raven; from: The Raven and Other Poems by Edgar Allan Poe. New York 1845: Wiley and Putnam.

[2]    The poem, originally comprising five stanzas, was first pub­lished in 1808. The first musical settings were by Carl Friedrich Zelter and Friedrich Kuhlau, with partial changes to the text in each case. In 1813, the poet revised his work and added three stanzas.

Franz Schubert’s setting of the poem dates from 1816 and was published in 1821. The composer based this on another printed version, again with only five stanzas, and made further changes to the text. Due to the popularity of the song, the version of the text used in it is the most familiar today.

The various versions of the poem and song text can be found with information on the genesis and publishing history as well as a song version by Peter Schöne (voice) and Boris Cepeda (piano) in: Schöne, Peter: Der Wanderer – Dritte Fassung (Third Version). D 489 – Opus 4 / 1; schubertlied.de.

An English translation of the poem with annotations is availa­ble on The LiederNet, here with reference to the first verse: Ich komme vom Gebirge her (I come down from the moun­tains).

[3]    Wilhelm Müller: Die Winterreise. In: Sieben und siebzig Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten [Seven and Seventy Poems from the Bequeathed Papers of a Travelling French Horn Player], Vol. 2, pp. 75 – 108. Dessau 1824: Heckmann. Franz Schubert’s setting of the poem cycle dates from 1827 and is available on the Internet, among others, in a congenial version by Alfred Brendel (piano) and Dietrich Fischer-Dieskau (voice): Die Winterreise. Berlin 1979: Sender Freies Berlin.

Bilder / Images: Frédéric-Auguste Cazals (1865 – 1941): Paul Verlaine und seine Frau Mathilde Mauté / Paul Verlaine and his wife Mathilde Mauté(Wikimedia commons); Anders Zorn: Die Umarmung / The Embrace (1885); Wikimedia commons

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