Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
Auch Stefan besitzt eine Notfalluhr. Damit ist er weit in die Zukunft gereist, ehe er sich schließlich der Vergangenheit zugewandt hat und im Jahr 1485 vor Anker gegangen ist.
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Samstag, 2. April 1485
Wie habe ich Stefans Schattenlosigkeit nur übersehen können? Gut, das Leben ertrinkt hier noch nicht so in Fluten von Licht wie in meiner ehemaligen Gegenwart, wodurch die Konturen der Schatten sich weniger klar abzeichnen. Und trotzdem: Als jemand, der selbst keinen Schatten hat, müsste ich eigentlich besser für die Schattenspiele sensibilisiert sein.
Vielleicht liegt meine Blindheit in diesem Punkt aber auch daran, dass ich Stefan bislang nur in der Kirche begegnet bin. Und die Kirchen vermitteln hier eben noch eine Ahnung von der uranfänglichen Finsternis, des ewigen Augenblicks vor dem ersten Schöpfungstag, als das Leben noch ungeschieden in der göttlichen Keimzelle ruhte, als das Licht noch nicht daraus hervorgebrochen war und das Leben in eine unendliche Vielzahl von Einzelexistenzen aufgespalten hatte.
Wer aber in Gottes Hafen ruht, der hat auch keinen Schatten.
- Das Karussell der Zeit
Nachdem Stefan mir seine Schattenlosigkeit gestanden hatte, hatte ich ihn zunächst unwillkürlich gemustert – was Stefan mit einem spöttischen Schmunzeln quittierte. Sofort wandte ich meinen Blick wieder von ihm ab. Schließlich hatte ich in der Vergangenheit selbst allzu oft unter dieser distanzlosen Schaulust gelitten.
Peinlich berührt wechselte ich das Thema. „Wie bist du eigentlich in diese Zeit gelangt?“ fragte ich.
Stefan seufzte. „Das ist eine lange Geschichte … Sie fängt bei einer Vereinigung an, die sich ‚Die Dunkelmänner‘ nennt.“
Ich sah ihn verdutzt an. „Du kennst die Dunkelmänner?“
Er nickte. „Anders wäre ich wohl kaum in den Besitz einer Notfalluhr gekommen.“
Seltsam, dachte ich. Hatte George nicht behauptet, die Uhr noch nie zuvor ausprobiert zu haben? War das also nicht die ganze Wahrheit? Oder war in der Zwischenzeit etwas geschehen, das den Lauf der Dinge verändert hatte? War die Gegenwart, aus der ich hierhergekommen war, am Ende gar nicht dieselbe wie die, von der Stefan sprach?
Verwirrt fragte ich: „Und welchen Auftrag solltest du hier erfüllen?“
„Die Zeit, in der ich jetzt lebe, ist für mich nur ein Zufluchtsort.“ Er sah mich prüfend an: „Genauso wie für dich, nehme ich an.“
Auf mein Nicken hin erklärte er: „Die Aktion, um die es damals ging, zielte auf die Verhinderung eines Krieges ab. Wir wollten diesem sozusagen den Boden, auf dem er gedieh, durch eine veränderte Weichenstellung in der Vergangenheit entziehen. Dafür bin ich ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückgereist.“
Ich sah ihn gespannt an. „Und? Warst du erfolgreich?“
Er zögerte. „In der Tat sah anfangs alles nach einem durchschlagenden Erfolg aus. Der Konflikt hatte sich an einer unbedeutenden Inselkette entzündet, die von den üblichen Populisten-Popanzen zu einem Symbol nationaler Größe aufgemotzt worden war. Den Konflikt zu entschärfen, war deshalb kinderleicht. Da die Inselkette in der Vergangenheit noch nicht symbolisch aufgeladen war, konnte ich sie einfach kaufen und in das Staatsgebiet des nächstgelegenen Landes eingliedern. So waren die Besitzverhältnisse geklärt, und es gab keinen Grund mehr für einen Krieg.“
„Warum bist du dann so zerknirscht?“ wunderte ich mich. „Die Aktion war doch ein voller Erfolg!“
„Das habe ich anfangs auch gedacht“, bestätigte Stefan. „Kaum war ich aber in die Gegenwart zurückgekehrt, brach der Krieg doch aus. Es war, als hätte ich einem breiten Strom auf seinem Weg zum Meer einen Arm seines Mündungsdeltas zugeschüttet. Die an einer Stelle zurückgedrängte Gewalt brach sich an anderer Stelle mit umso größerer Heftigkeit Bahn.“
Ich schüttelte erstaunt den Kopf. „Aber wie ist das möglich, wenn der Kriegsgrund doch entfallen war?“
„Ich denke, dass unsere ganze Aktion auf einem Denkfehler beruhte“, sinnierte Stefan. „Der Krieg folgt nun einmal nicht den Gesetzen der Logik. Er entspringt nicht dem Wunsch, einen Konflikt zu lösen, sondern ist umgekehrt Ausdruck einer Zerstörungswut, die sich ihre Gegenstände ebenso wahllos aussucht wie ein streitsüchtiger Betrunkener.“
Er holte tief Luft. „Durch diese Erfahrung habe ich damals völlig den Boden unter den Füßen verloren. Wie ein Verdurstender bin ich durch die Wüsten der Zeit geirrt, immer auf der Suche nach der einen Oase, in der die Menschen immun wären gegen das Virus des Krieges. Immer weiter bin ich in die Zukunft gereist, bis ich am Ende ins Jahr 14.543 gelangte.“
Da er in ein grüblerisches Schweigen verfiel, fragte ich: „Und welche Erfahrungen hast du dort gemacht?“
„Willst du das wirklich wissen?“ fragte Stefan lakonisch zurück.
Die Melancholie in seiner Stimme ließ mich auf eine Antwort verzichten. Also fuhr er einfach in seiner Erzählung fort: „Dies hier war dann – abgesehen von der Zeitreise, die ich im Zusammenhang mit der Aktion der Dunkelmänner unternommen hatte – meine erste Station in der Vergangenheit.“
„Dann bist du hier also einfach hängengeblieben?“ schlussfolgerte ich.
Stefan runzelte die Stirn. „Das kann man so nicht sagen … Obwohl … Ganz falsch ist es auch wieder nicht. Ich hatte einfach gemerkt, dass ich den andauernden Zeit-Sprüngen weder körperlich noch geistig gewachsen war. In einem einzigen Jahr war ich um mindestens 20 Jahre gealtert, und ich fühlte mich so orientierungslos, als wäre ich ein ganzes Jahr lang ohne Unterbrechung auf einem sehr schnellen Karussell gefahren. Es war, als würde ich in jedem Augenblick die Bewegung der Erde spüren, ihr Rotieren um sich selbst, ihr Kreisen um die Sonne – und darin wiederum die eine große Bewegung, in der alles in für uns unvorstellbaren Zyklen pulsiert.“
Die Frühlingssonne, die den Klosterhof immer mehr aufheizte, ließ ein paar Schweißperlen auf seinem Gesicht glitzern. Flüchtig wischte er sie weg und blinzelte dabei in die Sonne, als suchte er dort nach Antworten auf Fragen, auf die es keine Antworten gab.

English Version
Brother Eberhart’s Story/4: The Carousel of Time
Stephen also owns an emergency watch. With it, he travelled far into the future before finally turning to the past and dropping anchor in the year 1485.
Saturday, April 2, 1485
How could it happen that I didn’t notice Stephen’s shadowlessness? Of course, life here is not drowning in floods of light, as it was in my former present, which makes the contours of the shadows less distinct. And yet: As someone who has no shadow himself, I should actually be better sensitised to the shadow plays.
Perhaps my blindness in this respect is also due to the fact that so far I have only met Stephen in church. And the churches here still convey an inkling of the primordial darkness, of the eternal moment before the first day of creation, when life still rested undivided in the divine nucleus, when the light had not yet burst forth from it and split life into an infinite multitude of individual existences.
And whoever rests in God’s harbour does not have a shadow.
- The Carousel of Time
After Stephen had confessed his shadowlessness to me, I had involuntarily eyed him more closely – which Stephen answered with a mocking smirk. Immediately I averted my gaze from him again. After all, I myself had suffered from this blunt curiosity all too often in the past.
Embarrassed, I changed the subject. „How did you actually get into this time?“ I asked.
Stephen sighed. „That’s a long story … It starts with an association called ‚Disciples of Darkness‘.“
I winced and stared at him, puzzled. „You know the Disciples of Darkness?“
He nodded. „How else could I have gained access to an emergency watch?“
I was a little confused by his words. Hadn’t George claimed to have never tried the watch before? So wasn’t that the whole truth? Or had something happened in the meantime that had changed the course of events? Was the present from which I had come here not the same as the one Stephen was talking about?
„And what task were you supposed to perform here?“ I finally asked.
„The time I live in now is only a refuge for me.“ He looked at me questioningly. „Just as it is for you, I suppose.“
At my nod he explained: „The mission we carried out back then was aimed at preventing a war. We wanted to deprive it of the ground on which it thrived, so to speak, by changing the course of events. For this purpose, I went back a few decades into the past.“
I looked at him curiously. „And what were the results? Did you succeed?“
He hesitated. „At first, everything looked indeed like a resounding success. The conflict had ignited over an insignificant island chain that had been hyped up into a symbol of national greatness by the usual populists. Defusing the conflict was therefore a piece of cake. Since the island chain had not been symbolically charged in the past, I could simply buy it and annex it to the neighbouring country. That way, ownership was settled and there was no longer any reason for war.“
„Then why are you so contrite?“ I wondered. „After all, the action was a complete success!“
„I felt the same way at first,“ Stephen confirmed. „But no sooner had I returned to the present than the war broke out. It was as if I had blocked an arm of a wide river’s delta on its way to the sea. The violence that had been pushed back in one place broke out in another with all the more ferocity.“
I shook my head in amazement. „But how is that possible when the reason for the war had been removed?“
„I think our whole action was based on a miscalculation,“ Stephen mused. „War does not follow the laws of logic. It does not arise from the desire to resolve a conflict, but is rather the expression of a destructive rage that chooses its objects as indiscriminately as a quarrelsome drunkard.“
He took a deep breath. „This experience made me completely lose my footing. Like a man dying of thirst, I wandered through the deserts of time, always looking for the one oasis where people would be immune to the virus of war. Further and further into the future I travelled, until in the end I arrived in the year 14543.“
As he fell into a brooding silence, I asked: „And what did you experience there?“
„Do you really want to know?“ Stephen asked back laconically.
The melancholy in his voice made me refrain from answering. So he simply continued his account: „The time I live in now was – apart from the time travel I undertook on behalf of the Disciples of Darkness – my first stop in the past.“
„So you just got stuck here?“ I concluded.
Stephen frowned. „I wouldn’t say so … Although … it’s not entirely wrong. I had simply noticed that I was neither physically nor mentally up to the constant leaps in time. In a single year I had aged by at least 20 years, and I felt as disoriented as if I had been riding a very fast merry-go-round for a whole year without a break. It was as if I felt the movement of the earth at every moment, its rotation around itself, its circling around the sun – and at the same time the one great movement in which everything pulsates in cycles unimaginable to us.“
The spring sun, which was heating up the monastery courtyard more and more, conjured up a few glistening beads of sweat on his face. He casually wiped them away and squinted into the sun, as if searching there for answers to questions that no human being could answer.
Bilder / Images: Künstlerische Darstellung des Kerns der Galaxie GN-z7q / Artistic depiction of the nucleus of the galaxy GN-z7q (NASA / Wikimedia commons); Peter H. (Tama66): Kreuzgang / Cloister (Pixabay)
Thomas Bulhaupt
Das sind interessante Gedankenexperimente. Kann man durch Aktionen in der Vergangenheit, das Rad der Zeit in eine andere Richtung drehen? – So lange die Menschen sich nicht ändern, ist das nutzlos. Das ist ein sehr spannender fantastischer Roman mit aktuellen Bezügen.
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