Tagebuch eines Schattenlosen. Teil 3: Zeitreisen / Diary of a Shadowless Man. Part 3: Time Travels
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Bruder Heinrich leitet den Hexenprozess ein. Theo würde die „Hexe“ nur allzu gerne befreien – aber wie soll er sich gegen die Übermacht der Anwesenden durchsetzen?
Donnerstag, 31. März 1485, später Abend
Ich bin todmüde – aber an Schlaf ist natürlich nicht zu denken. Wann immer ich die Augen schließe, sehe ich Linas Gesicht vor mir, diesen Blick einer Todgeweihten, die alle Brücken zur Welt einstürzen sieht.
Das Karussell der Fragen dreht sich noch immer unablässig in meinem Kopf: Wie ist Lina zu den Beginen gekommen? Hat Yvonne auch in einem der Beginenhäuser Unterschlupf gefunden? Wie könnte ich das herausfinden? Und weshalb ist gerade Lina in die Fänge dieses Hasspredigers geraten?
All diese Fragen waren auch schon in jenem Moment in mir präsent, als Linas Gestalt vor mir aufgetaucht war wie eine Fata Morgana. Und genau so starrte ich sie auch an: wie ein Trugbild, in dem zwei unendlich weit voneinander entfernte Zeiten sich urplötzlich ineinander spiegelten. Für einen kurzen Augenblick berührten sich zwei Linien, die dazu bestimmt waren, bis in alle Ewigkeit nebeneinander herzulaufen.
- Der Wahrheitstrank
Lina hatte mich im selben Moment erblickt wie ich sie. Als sie mich sah, entspannten sich ihre Züge für den Bruchteil einer Sekunde. Gleich darauf gerannen sie jedoch wieder zu einer Maske der Angst.
Mein erster Impuls war natürlich, zu ihr hinzurennen, mit ihr in meine Kammer zu laufen und dann zu versuchen, mit Hilfe der Notfalluhr zu entkommen. Dem standen allerdings die beiden Bewacher an Linas Seite entgegen, gegen die ich mich wohl kaum hätte durchsetzen können.
Außerdem hätten auch die übrigen Anwesenden bei einem Befreiungsversuch sicher nicht untätig zugeschaut. Wäre ich aber mit diesem gescheitert, so hätte man nicht nur Lina, sondern auch mich in Ketten gelegt. Dann wäre das Spiel endgültig verloren gewesen. Also musste ich – so schmerzhaft dies auch für mich war – dem Prozess als äußerlich unbeteiligter Zuschauer beiwohnen und die Rettungsaktion auf später vertagen.
Kurz darauf leitete Bruder Heinrich auch schon den Prozess ein. Streng sah er alle Anwesenden an, während er feierlich feststellte: „Wahrlich, kein Verbrechen ist größer als das der Hexerei! Wer dem bösen Zauber frönt, der versündigt sich unmittelbar an Gott. Hexerei ist nichts anderes als Auflehnung gegen Gott, ein Bündnis mit dem finsteren Feind der Schöpfung, der diese seit Anbeginn der Zeiten zu vernichten trachtet. Es ist der Versuch, dem Leben, wie wir es kennen, den Boden zu entziehen, Dunkelheit an die Stelle von Licht zu setzen.“
Alle sahen ihn erschrocken an: Nach den vielen wolkenverhangenen Tagen zeigte sich endlich wieder die Sonne – und nun wollte diese Hexe da die Welt in ewige Finsternis stürzen? Was für ein entsetzlicher Gedanke!
Bruder Heinrich mischte einen Hauch von Demut in seine Ansprache. „Als gewöhnlichen Menschen steht es uns nicht zu, in einem solchen Fall Gnade walten zu lassen. Die Schuld der Hexen ist zu groß, als dass sie nach menschlichen Maßstäben gesühnt oder gar vergeben werden könnte.“
Er erhob seine Stimme wieder: „Wir alle wissen aber auch: Gottes Wege sind unergründlich! So ist es denkbar, dass sich die unermessliche Kraft der göttlichen Gnade gerade darin offenbart, dass ihr Strahl auch in das Herz der finstersten aller Sünderinnen fällt. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn die Hexe sich Gottes Gnade würdig erweist. Dafür muss sie eine tätige Reue zeigen und dem Gericht dabei helfen, die übrige Hexenbrut aufzuspüren.“
Im Anschluss an sein Eröffnungsplädoyer winkte Bruder Heinrich einen der neben Albertus stehenden Mönche zu sich. Feierlich wies er ihn an, Lina von dem Trank in der Karaffe neben ihm etwas einzuflößen.
Lina schüttelte sich, als der Mönch ihr den Becher mit dem offenbar übel riechenden Getränk unter die Nase hielt. Angesichts der drohenden Blicke der beiden neben ihr stehenden Schergen würgte sie das Gebräu aber trotzdem folgsam herunter.
Unterdessen wandte Bruder Heinrich sich an die zu seiner Linken sitzenden Ratsherren. Wie ein Arzt, der vor Studierenden eine Operation durchführt, erläuterte er ihnen seine Vorgehensweise: „Natürlich ist der böse Feind eben jetzt, da wir miteinander über die Hexe zu Gericht sitzen, bei ihr. Das beste Gegenmittel gegen den Zauber, mit dem er sie unterstützt, ist natürlich der Glaube. Dieser hilft aber nur uns, indem er uns gegen die böse Wirkung der Hexerei feit. Die Macht des Gottseibeiuns über die Hexe bleibt davon unberührt, da sie sich ihm ja mit Haut und Haaren verschrieben hat.“
Lina mit den Augen musternd, setzte er hinzu: „Deshalb muss man peinlichst genau darauf achten, dass die Hexe kein Stück ihrer eigenen Kleidung am Leibe trägt und ihr auch das Haar vollständig entfernt wird. Oft halten die Hexen darin nämlich kleinste Amulette oder sonstiges Teufelswerk versteckt.“
Er wies auf den geleerten Becher, den Lina soeben dem Mönch zurückgab. „Dieser Trank hier enthält darüber hinaus spezielle Wirkstoffe, die bekanntermaßen dem Teufel zuwider sind und ihn so von seiner Buhle abhalten.“
Nach dieser Vorrede sprach er die Angeklagte endlich direkt an: „Um des Heiles deiner Seele willen fordere ich dich nun auf, dich vor uns zu deinen Untaten zu bekennen! Sprich also, Unglückliche: Wo und von wem hast du das Hexenwerk erlernt?“
„Aber ich … ich weiß doch gar nicht …“, stammelte Lina, „ich meine, Sie … Sie können doch nicht einfach behaupten, dass ich …“
Voller Verzweiflung sah sie in meine Richtung. Ihr angsterfüllter Blick tat mir in der Seele weh. Wieder verspürte ich den Drang, sofort einzuschreiten. Aber die Übermacht der Ankläger war einfach zu groß. Ich musste mich gedulden, wollte ich nicht jede Aussicht auf Befreiung zunichtemachen.

Englsh Version
The Witch Trial/2: The Truth Potion
Brother Henry initiates the witch trial. Theo would all too gladly free the „witch“ – but how is he to assert himself against the overwhelming power of those present.
Thursday, March 31, 1485, late evening
I am dead tired – but of course sleep is out of the question. Whenever I close my eyes, I see Lina’s face before me, that look of a doomed person who sees all bridges to the world collapsing.
The carousel of questions still turns incessantly in my head: How did Lina come to the Beguines? Did Yvonne also find shelter in one of the Beguine houses? How could I find out? And why did Lina of all people fall into the clutches of this preacher of hate?
All these questions were already present in me when Lina’s figure suddenly appeared in front of me like a hallucination. And that’s exactly how I stared at her: as if she were a mirage in which two times, infinitely far apart, were suddenly reflected in each other. For a brief moment, two lines touched that were destined to run side by side until the end of time.
- The Truth Potion
Lina had caught sight of me at the same moment I had spotted her. When she saw me, her features relaxed for a split second. Immediately afterwards, however, they curdled back into a mask of fear.
My first impulse, of course, was to run to her, hurry with her to my chamber and then try to escape with the help of the emergency watch. However, this plan was made impossible by the two guards at Lina’s side, against whom I would hardly have been able to assert myself.
Moreover, the other people present would certainly not have stood idly by if I had tried to free the accused. But if I had failed, not only Lina but also I would have been put in chains. Then the game would have been lost for good. So – as painful as it was for me – I had to witness the process as an outwardly uninvolved spectator and postpone the rescue operation until later.
Shortly afterwards, Brother Henry opened the trial. Solemnly looking at all those present, he stated: „Truly, no crime is greater than that of witchcraft! Whoever indulges in evil magic directly sins against God. Witchcraft is nothing other than rebellion against God, an alliance with the dark enemy of Creation who has sought to destroy God’s work since the beginning of time. It is an attempt to cut the ground from life as we know it, to put darkness in the place of light.“
Everyone looked at him, startled: After the many cloudy days, the sun was finally shining again – and now this abominable witch wanted to plunge the world into eternal darkness? What a horrible thought!
Brother Henry added a touch of humility to his speech. „As ordinary people, we are not in a position to show mercy in such a case. The guilt of the witches is too great to be atoned for, let alone forgiven, by human standards.“
He raised his voice again: „But we all know: God’s ways are inscrutable! So it is conceivable that the immeasurable power of divine grace reveals itself precisely in the fact that its ray illuminates even the darkest sinner’s heart. But this can only happen if the witch proves herself worthy of God’s grace. For this she must show an active repentance and help the court to track down the remaining brood of witches.“
Following his opening statement, Brother Henry addressed one of the monks standing next to Albertus. Solemnly, he instructed him to force some of the potion in the carafe next to him on Lina.
Lina shook herself as the monk held the cup with the obviously foul-smelling liquid under her nose. But in the face of the threatening looks of the two henchmen standing next to her, she obediently swallowed the disgusting brew.
Meanwhile, Brother Henry turned to the councillors sitting to his left. Like a doctor performing an operation in front of his students, he explained his procedure to them: „Of course, the evil enemy is with the witch right now to protect her against the trial. The best antidote to the magic with which he supports her is, of course, faith. But this can only help us, the observers, in that it fends us off against the evil effect of witchcraft. The power of God over the witch, however, remains unaffected, since she has devoted herself to him with all her heart and soul.“
Eyeing Lina closely, he added: „That’s why it is essential to prevent the witch from wearing any of her own clothes and to remove her hair completely. Experience has shown that witches often hide tiny amulets or other devil’s work in their clothes.“
He pointed to the emptied cup that Lina had just handed back to the monk. „This potion here, moreover, contains special agents known to be repugnant to the devil, thus keeping him from his paramour.“
After these preliminary remarks, he finally addressed the accused directly: „For the sake of the salvation of your soul, I now call upon you to confess your misdeeds before us! So tell us: Where and from whom did you learn witchcraft?“
„But I … I don’t know …“, Lina stammered, „I mean, you … you can’t just claim that I …“
Full of despair, she looked in my direction. Her fear-filled gaze hurt my soul. Again I felt the urge to intervene immediately. But the dominance of the accusers was simply too great. I had to be patient if I didn’t want to ruin any chance of liberation.
Bilder / Images: Hexenprozess; Illustration aus Bär, Adolf / Quensel, Paul (Hg.): Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort, Bd. 1. Stuttgart 1890: Union Deutsche Verlagsgesellschaft /Witch trial; illustration from Bär, Adolf / Quensel, Paul (eds.): Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Bild und Wort [Pictorial Hall of German History. Two millennia of German Life in Pictures and Words], Vol. 1. Stuttgart 1890: Union Deutsche Verlagsgesellschaft; Mysticsartdesign: Apokalypse (Pixabay; modifiziert)